Karl König
Bruder Tier – Aufsätze
Geleitwort zur Erstausgabe 1967
von Fritz Götte
Karl König ist am 25. September 1902 in Wien geboren; am 27. März 1966 ging er in Brachenreuthe am Bodensee durch die Todespforte. Er war Arzt, und er war es in einem umfassenden Sinne. Sein ärztliches Bemühen ging über das Behandeln einzelner Menschen hinaus; er schuf soziale Zusammenhänge, in denen Heranwachsende, Kinder und Jugendliche, welche vom sogenannten normalen Leben nicht ohne Weiteres aufgenommen werden konnten, sich in vollem Sinne als Menschen zu entfalten und zu erleben vermochten. In dieser ausgedehnten Arbeit trug ihn der tief in der eigenen Seele verwurzelte Gedanke: es gibt im Grunde keine Abnormen; wir sind alle Menschen schlechthin, wenn auch der eine oder andere in einem Erdenleben einmal hilfsbedürftiger sein möge als die Mehrzahl der Mitlebenden. Ein Brüderlichkeitsgedanke, den er durch das gesprochene und das geschriebene Wort, vor allem aber durch sein Tun eindrucksvoll vertrat.
Aber Karl König erlebte dieses brüderliche Verbundensein nicht nur gegenüber den hilfebedürftigen Menschen. Er war davon gleichermaßen erfüllt gegenüber den Tieren. So ergab es sich ganz konsequent, dass er auch – um dieses etwas sonderbar Anmutende zu sagen – für die Menschlichkeit des Tieres eintrat. Eine Hauptquelle war ihm dabei die Evolutionslehre seines Lehrers Rudolf Steiner, des Begründers der Anthroposophie, welche von der Schicksalsverbundenheit von Mensch und Tier spricht, die schon von Urvergangenheiten her besteht. Es ist eine Evolutionslehre, welche von der Trennung des Tierischen (wie auch des Pflanzlichen und Mineralischen) im Menschwerdungsprozesse spricht, aber auch von einer kommenden Wiedervereinigung oder – paulinisch gesprochen – von der Erlösung der Kreatur.
Karl König ist in seinem Denken und Sinnen einer solchen christlichen Strömung tief verpflichtet, damit aber auch Goethes morphologischen Arbeiten, die ihn den jeweiligen Typus als Abwandlung einer ideellen Grundgestalt aufzusuchen lehrten. Es ist die Lehre von jener «haushältischen Natur», die sich, wie Goethe im Anschluss an Geoffroy de Saint-Hilaire schreibt, «einen Etat, ein Budget vorgeschrieben, in dessen einzelnen Kapiteln sie sich die vollkommenste Willkür vorbehält, in der Hauptsumme jedoch sich völlig treu bleibt, indem, wenn an der einen Seite zu viel ausgegeben worden, sie es der anderen abzieht und auf die entschiedenste Weise sich ins Gleiche stellt». Man wird diesem Goethe-Schlüssel auf den folgenden Seiten wiederholt begegnen.
Der Verfasser unserer Tierbetrachtungen hat, bevor er sich der Medizin zuwandte, und in dieser besonders der Embryologie, auch Zoologie studiert. Aber das Buch vom Tier als Begleiter des Menschen soll kein einschlägiges «Fachbuch» sein, ja, Karl König hat wohl kaum an eine Buchveröffentlichung gedacht. Sein früher Tod hat überdies ausgeschlossen, dass er seine Darstellungen noch einmal ausgestaltete und überarbeitete. Wir bringen dieselben nunmehr so, wie sie in der Zweimonatsschrift für Anthroposophie und Dreigliederung Die Drei ursprünglich erschienen sind. Karl König bot der Schriftleitung im Jahre 1956 die ersten Arbeiten an: «Die Wanderungen der Aale und Lachse» sowie «Die Taube als heiliger Vogel». Es ergab sich dann eine dreijährige Pause, bis aus Gesprächen der Gedanke entstand, einer breiteren Leserschaft einzelne Tiere in jenen brüderlichen Gesinnungen nahezubringen. Hierbei fiel das Wort, wir sollten versuchen, immer mehr Tiere aus ihrer heutigen Gefährdung, ja Ausrottung durch den Menschen in eine Arche Noah, welche sich in der Menschenseele selber bilden sollte, hineinzuretten.
In der Arbeit über das Bärengeschlecht fällt das Wort von der «eigenen Würde», welche jeder Tiergruppe zukomme. Es ist eine Würde, welche eine frühe Menschheit – Königs mythologische Hinweise bestätigen es – dem Tierwesen voraussetzungslos zuerkannte, eine Würde, die aber der immer einseitiger intellektuell und egoistisch werdende Mensch zerstörte. König wollte helfen, sie durch ein neues Anschauen der Tiere wieder aufzubauen und so auch zu ihrer Erlösung beizutragen.
Vielleicht kann man das vorliegende, erstmalig von ihm Notierte mit Skizzen bezeichnen, Skizzen als Beiträge für eine «künftige Zoologie», die ihm vorschwebte, wofür die heutige Verhaltensforschung eine erste und «eine mehr spirituelle Interpretation ethnologischer Phänomene» eine weitere Tür sei in ein «Reich neuer Einsichten». Königs Gedankengänge und Verknüpfungen sind dabei oft kühn, zuweilen gewagt, aber selbst im Widerspruch noch anregend und in ihrem Grundbestreben unantastbar gerechtfertigt.
Die Herausgabe der vierzehn Tierbilder in der ursprünglichen Gestalt erfolgt um jener anregenden Wirkung willen, weiter aber, weil sie breiteren Kreisen, denen das gegenwärtige traurige Schicksal der Tierwelt nicht gleichgültig ist, neue Zugänge zu ihrem Wesen verschaffen können und nicht zuletzt auch deshalb, weil sie Erziehern einer heranwachsenden jungen Generation Stoff und Motive zu bieten vermögen, damit in ihr – anders als bei den im Geiste des Materialismus und der nackten Nützlichkeit aufgewachsenen Vorausgegangenen – früh- und rechtzeitig eine begründete Liebe zu ihren Brüdern im Tierreich sich bilden kann.
Vom Ursprung der Robben
Die Wanderung der Tiere
Das ganze Reich der Tiere ist von einem ständigen Wandertrieb durchwirkt. Es gibt kaum eine Familie oder eine Art, in der das Ziehen und Wechseln nicht zum Bestand ihrer Existenz gehörte. Die Fahrten und Reisen gehen über kleine und große Räume. Einzelne Gattungen haben die Fähigkeit, die Weltmeere zu durchkreuzen; andere überfliegen ganze Kontinente.
Dieses Wandern tritt in der mannigfaltigsten Gestalt auf. Es kann, wie beim Ziehen der Vögel, über viele Tausende von Kilometern sich erstrecken; bei manchen Schmetterlingen hohe Gebirge übersetzen. Alle Elemente, Erde, Wasser und Luft werden durchzogen. Die Rentiere wechseln regelmäßig über weite Strecken des Nordens; die Aale, die ihre Wiege im Sargassomeer haben, schieben sich nach Osten weiter und steigen die Flüsse des eurasischen Kontinents hinauf. Die Lachse machen den umgekehrten Weg, von den Quellen der Bäche zurück in den Ozean. Die alles zerstörenden Massen der Wanderheuschrecken, die Horden der Wanderameisen schwirren und kriechen in überwältigender Zahl über weite Landstriche.
Der Zug der Heringe, das Auftauchen des Störs, das Erscheinen der Seehunde, Seelöwen und Pinguine zu ganz bestimmten Zeiten des Jahres und ihr Verschwinden nach kürzeren oder längeren Perioden sind Teilerscheinungen dieses unentwegten Kommens und Gehens, das alle Stämme der Tiere durchzieht.
Kann man diesem Wandern und Ziehen der Tiere eine einheitliche Ursache unterstellen? Es handelt sich dabei um ein ungewöhnlich komplexes Geschehen, das augenscheinlich den verschiedensten Bedingungen unterliegt. Jede einzelne Tierart hat die ihr zugehörige Form des Wanderns, und sie ist ebenso charakteristisch für die betreffende Art wie die Gestalt des Leibes oder die Anordnung der Zähne. Manche Wanderungen unterstehen jahreszeitlichen Rhythmen; andere erfolgen mit den Phasen des abnehmenden oder zunehmenden Mondes. Oft sind die Paarungs- und Geburtsperiode mit dem Ortswechsel eng verbunden. Es gibt auch nomadische Tiere, die ihren Futterplätzen nachziehen, und andere, die von einem plötzlich und ganz aperiodisch auftretenden «Wander-Wahnsinn» ergriffen werden und gleich den skandinavischen Lemmingen in den unmittelbaren Tod rennen. Versucht man, einige allgemeine Wesenszüge des Wanderns der Tiere aus der Vielfalt der einzelnen Erscheinungen herauszuarbeiten, dann ergeben sich wichtige Gesichtspunkte; wir müssen nur die Idee des Wanderns so weit als möglich fassen. Je umfassender wir das Phänomen anschauen lernen, umso deutlicher tritt das Wesentliche und Charakteristische zutage.
Ein Bienenstock, der durch Wochen hindurch der regelmäßigen Arbeit oblag, der Honig sammelte, die Larven versorgte, die jungen Bienen ihre Geschäfte und Tätigkeiten lehrte, wird plötzlich, und manchmal innerhalb weniger Stunden, von einer das ganze Volk ergreifenden Unruhe durchsetzt. Alle Regelmäßigkeit ist unterbrochen. Das Sammeln des Honigs war schon in den vorhergehenden Tagen herabgesetzt, und die Weiselzellen, in denen die künftigen Königinnen fast bereit zum Auskriechen sind, werden streng behütet. Dann, nach einer kurzen Regenperiode, wenn die Sonne wieder durchbricht, kommt es wie mit einem Male zum Schwärmen. Die alte Königin und eine große Menge junger Arbeiterinnen