Dr. Sabine Gapp-Bauß

Depression und Burn-out überwinden


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Vision voller Hoffnung.

      Drum achte gut auf diesen Tag.

      [Neben dem Sanskrit wird als Quelle für diesen Text vielfach auch genannt: Rumi (1207–1273), persischer Mystiker und Dichter, Begründer des Sufismus. Anmerkung des Verlags]

       Zum Verständnis:

      Genauso, wie es manchmal schwer ist, vom Tag in die Nacht hinüberzugleiten, so ist auch der Übergang von der Nacht in den Tag nicht immer leicht. Wer zur Depression neigt, schlägt morgens die Augen auf und registriert als Erstes: Die Depression ist noch da. Das bleierne Gefühl, vielleicht Übelkeit und Appetitlosigkeit, manchmal auch nur noch Hoffnungslosigkeit. Wie kommt das?

      In der Nacht tauchen wir seelisch in unsere unbewusste Welt ein. Wir rollen uns zusammen wie ein Embryo und geben im geschützten Bett die Kontrolle über unser Leben auf. Das Bett ist wie ein Rückzugsraum, in dem wir in einen passiven Zustand gleiten. Diese Passivität ist zwar erholsam, fördert aber auch die depressive Lethargie, über die ich noch berichten werde. Da der Seele die positive Kraft fehlt, sind depressive Menschen vor allem morgens mit ihrem ganzen Unvermögen konfrontiert. Die allgemeine Erschöpfung ist unter anderem auch auf die darniederliegende Energieversorgung mit ATP, unserem „Zelltreibstoff“, der in den Mitochondrien gebildet wird, zurückzuführen.

      Ähnlich wie ein bedürftiges Kind brauchen Betroffene ein Sicherheit gebendes Ritual, das in den neuen Tag hineinführt. Ein depressiver Mensch sollte versuchen, positive Empfindungen in sich entstehen zu lassen, damit die Bildung der Neurotransmitter für gute Laune und Motivation aktiviert wird. Ich rate deshalb, morgens nicht zu lange im Bett zu verbringen, da dieser Effekt sonst ungenutzt verstreicht. Wie könnten Sie den Morgen besser angehen?

      Depressiv Gestimmte sehen den Tag wie einen riesigen Berg vor sich, den es zu erklimmen gilt. Das macht Angst. Um da herauszukommen, sollten sie mit sich selbst fürsorglich umgehen. Auch Gesunde brauchen eine Weile, um sich am Morgen im realen Leben zurechtzufinden. Umso schwerer hat es ein Mensch, der vielleicht schon wieder eine Nacht mit wenig oder ohne Schlaf verbracht hat oder der nur noch schlafen und am liebsten nie mehr aufwachen möchte.

      Viele Betroffene gehen abends ins Bett in der Hoffnung, dass am nächsten Morgen die Depression einfach verschwunden und alles wieder ganz „normal“ ist. Die Enttäuschung ist dann immer groß, wenn dem nicht so ist. Oftmals hassen sie sich selbst dafür, dass sie am Morgen so missmutig sind und nichts zustande bringen. Stellen Sie sich deshalb ganz bewusst auf das Tief am Morgen ein. Es fühlt sich etwa so an, wie allein und verloren auf der Welt und ohne Hoffnung oder Perspektive zu sein. Es ist das Grundgefühl eines alleingelassenen Kindes. Wie aber schafft man es, als „unglückliches Kind“ Mut für den Tag zu bekommen und Vertrauen zu sich selbst zurückzugewinnen?

      Unser Körper repräsentiert unser Kind-Ich. Kontakt zu unserem Körper hilft uns, Kontakt zu unserer Seele herzustellen, auch wenn das nicht immer gelingen mag. Probieren Sie einmal aus, sich selbst liebevoll zu berühren: Berühren Sie mit den Händen Ihr Gesicht, Ihre Schultern, Brustkorb, Arme, Bauch, Beine – so, wie Sie mögen. Sie können sich auch ganz fest umfassen oder beklopfen, wenn Ihnen das angenehmer ist. Wenn Ihnen das schwerfällt, nehmen Sie in Gedanken Ihren Körper wahr, sprechen Sie ihn vielleicht vorsichtig an: „Hallo, gerade sind wir wieder ziemlich down, ja, das ist blöd. Schau‘n wir mal, wie wir da wieder rauskommen …“

      Nehmen Sie sich Ihre bedrückte Stimmung vor allem nicht übel. Ihre Seele ist zurzeit in Not. Sie braucht keine Vorwürfe, sondern Trost und Zuspruch. Die Depression ist ja die Aufgabe, wieder mit sich selbst in Einklang zu kommen. Versuchen Sie herauszubekommen, was Ihnen gerade guttun könnte. Sagen Sie sich: „Ja, im Moment ist mir morgens übel, ich bin lustlos, ängstlich und deprimiert, aber das bleibt nicht so!“ Hören Sie auf, sich dafür fertigzumachen! Sie können nichts dafür. Haben Sie Verständnis für sich selbst, wie verständnisvolle Eltern es für ihr Kind hätten. In dem Maße, wie Sie sich damit annehmen, wird das Morgentief mehr und mehr verschwinden.

      Bis das so ist, sorgen Sie am Morgen mit kleinen Gesten für ein angenehmes Wohlfühlambiente: aufmunternde Musik, eine Blume oder Kerze, etwas Duftendes im Bad, eine wohltuende Körperpflege … Vielleicht lesen Sie vor dem Aufstehen ein paar aufbauende Worte.

      Ein Mann berichtete, er liege morgens oft stundenlang im Bett, weil er Angst vor dem Tag habe. Es sei so trostlos für ihn. Obwohl er sich zu Hause wohlfühle, erscheine seine gemütliche Wohnung ihm am Morgen wie feindliches Land. Bei näherer Analyse fanden wir heraus, dass es für ihn schon schwer war, vom Liegen zum Sitzen zu kommen. Außerdem war ihm das Bad kein angenehmer Ort.

      Wir überlegten gemeinsam, wie man diese Situation angenehmer gestalten könne, und kamen auf folgendes Ritual: Schon am Abend vorher kochte er sich einen würzigen Tee und stellte ihn in einer Thermoskanne neben sein Bett. Wenn er morgens zu der für ihn stimmigen Zeit aufstehen wollte, setzte er sich erst einmal auf die Bettkante, legte sich die warme Bettdecke um und trank seinen Tee. Die Stille dabei zu genießen war ihm angenehm. Im Bad schaltete er sich seine Trommelmusik ein und zündete sich eine große Kerze an. Sodann genoss er sein morgendliches Pflegeritual, unter anderem das kraftvolle Trockenbürsten, das im Kapitel „Wohltuendes für den Körper“ erwähnt wird. Die Aussicht auf eine duftende Tasse Kaffee aus einer bestimmten Lieblingstasse und auf ein kleines Frühstück spornte ihn zum Gang in die Küche an. Weiterhin half dann ein guter Tagesplan, die Angst vor den Aufgaben des Tages zu verringern.

      Worauf kommt es also an? Wie oben angedeutet ist es wichtig, in sich selbst angenehme Gefühle zu erwecken. Selbst eine Kleinigkeit kann Ihnen schon über die Angst vor dem Tag hinweghelfen. Da Angenehmes immer mit einer angenehmen Körperempfindung beginnt, sollte es etwas Wohltuendes für den Körper sein, das Sie sich selbst bewusst geben. Ihre Sinne sollten etwas Schönes empfinden wie einen guten Duft, ein Geborgenheit vermittelndes Ambiente, eine Blume, Kerzen oder Gegenstände, die Ihnen etwas bedeuten, zum Beispiel ein schönes Foto. Vor allem aber braucht Ihre Seele etwas Aufbauendes wie ein paar liebevolle Worte zu sich selbst, das Lesen eines sinnhaften Textes oder eine aufbauende Musik.

      Tun Sie etwas Angenehmes, was Sie zugleich aktiviert. Während ein warmes Fußbad am Abend beruhigend wirkt, könnten Sie sich morgens mit der warmen und kalten Dusche erfrischen und in einen aktiven Körperzustand bringen. Ich selbst genieße es, am Morgen mit bloßen Füßen die kühle, nasse Wiese zu berühren. Ich erinnere mich dann daran, wie ich als Kind bei meinen Großeltern immer als Erstes die Schuhe ausgezogen habe. Barfußlaufen, war für mich der Inbegriff von Freiheit und Wohlgefühl. Aus dem Yoga ist bekannt, dass gerade der unmittelbare Kontakt mit der Erde antidepressiv wirkt. Falls Sie die Möglichkeit haben, verbringen Sie im Sommer lieber einen ganzen Morgen unter einem Baum in der Natur als im Bett. Die Natur wirkt wie ein Lebenselixier. Sie urteilt nicht, sie heißt alle willkommen.

      Sie könnten auch durch aktives Schreiben die Schatten der Nacht vertreiben, indem Sie ohne Punkt und Komma alles aufschreiben, was gerade durch Ihren Kopf geht. Ihre depressiven Gedanken sind nur das, was Sie denken, und nicht das, was Sie sind. Benennen Sie die Denkmuster und bringen Sie sie aufs Papier, bereit zum Verbrennen oder für den Kompost. Das erleichtert und Sie kommen schneller von dem depressiven Tunnelblick weg.

      Wenn Sie Zugang zu religiösen oder spirituellen Gedanken haben, nutzen Sie sie! Sie verbinden sich dadurch mit Kräften, die größer sind als sie selbst. Das kann die Natur sein oder die Kräfte des Universums. Sie bekommen ein Gefühl von Ganzheit und Verbundenheit und das Gefühl, dazuzugehören, auch wenn Sie meinen, im Moment nicht so viel zum Leben beisteuern zu können wie andere. Machen Sie sich jeden Morgen bewusst, dass für Sie der Sinn darin besteht, bewusst durch diese Phase des Lebens zu gehen. Eine Depression zu erleben ist Schwerstarbeit! Allein das ist eine große Leistung Ihrer Persönlichkeit. Auf kleine Siege können Sie stolz sein. Wenn Sie das schaffen, machen Sie dadurch auch andern Mut!

      Meine Empfehlung:

      Schreiben Sie, wenn Sie mögen, Ihren morgendlichen Ablauf auf und bereiten Sie schon am Abend vorher