Tempo besser einteilen können als Männer. Die meisten dieser Untersuchungen können über das Wie und Warum nur spekulieren und vermuten, dass Männer ihre Fähigkeiten einfach überschätzen und zu schnell beginnen, während Frauen ihre Fähigkeiten eher herunterspielen. Eine Studie an Personen, die den Houston Marathon beendet haben, bestätigt diese Theorie, indem sie die offiziellen Daten mit den von den Läufern selbst vorausgesagten Endzeiten verglich. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass „schlechte Tempoeinteilung teilweise auf männliche Selbstüberschätzung zurückgeführt werden kann.“
Etwas, womit ich mich regelmäßig schuldig mache. Sobald ein Rennen startet, denke ich, ich wäre Superman, dass ich das schon packe – versucht mich nur aufzuhalten. Mein Absturz bei der Great Wildernis Challenge war nur eines der letzten Beispiele in einer langen Reihe.
Im Oman begann ich jeden Tag damit, neben Elisabet herzulaufen, um mein Tempo zu reduzieren. Das funktionierte einige Minuten lang recht gut, doch dann fing ich an zurückzufallen, der Sand saugte meine Beine nach unten, machte jeden Versuch zu laufen zunichte, während Elisabet erbarmungslos davonzog, wie ein kleiner Traktor mit ihren schnellen, flachen Schritten durch den Sand pflügte. Jeden Tag schlug sie mich mit riesigen Abständen, manchmal Stunden. Unsere ähnliche Stärke beim Marathonlauf hatte in der Wüste keine Bedeutung.
Es sind viele Monate vergangen, als wir einander für unseren Trainingslauf bei der Marylebone Station in London treffen. In ihrem hellen, orangen Top und dem Stirnband ist Elisabet in der Masse von schwarzen Anzügen und grauen Sakkos leicht auszumachen. Einige Jahre zuvor brach sie den Streckenrekord, doch nun ist es für sie nur mehr ein anstrengenderes Workout, mit dem sie sich auf größere Herausforderungen vorbereitet. Obwohl sie eine Spezialistin für Wüstenrennen ist und zugibt, Hügel und Matsch nicht ausstehen zu können, arbeitet Elisabet auch auf den UTMB hin. An diesem Rennen kommt man eben nur schwer vorbei, wenn man ein richtiger Ultra-Läufer werden will. Es wartet da einfach so, als wäre es das große Finale am Ende der Saison, das Rennen der Champions. Um sich besser darauf vorzubereiten, hatte sie bereits ein kleines 100-Meilen-Etappenrennen in Nepal später im Jahr eingeplant, das Everest Trail Race.
Als sie die Überraschung, dass sie sich in die Berge wagt, in meinem Gesicht sieht, vertraut sie mir an, dass einer ihrer ersten Ultras der PTL, das längste Rennen beim UTMB war – eine technisch anspruchsvollere 300-km-Schleife rund um den Mont Blanc. Es ist mehr ein Rennen für Bergsteiger, als für Läufer, erklärt sie weiter. Es ist auch ein Teamwettbewerb und sie nahm damals zusammen mit ihrem Mann teil, mehr wegen der Erfahrung, als wegen dem Wettkampf.
„In Wirklichkeit hätten wir nicht einmal den Versuch wagen sollen“, sagt sie. Sie mussten aufgeben. „Im Nachhinein gesehen wäre es möglich gewesen, das Rennen zu beenden, doch nach vier Tagen mit nur zwei Stunden Schlaf begannen wir schon zu halluzinieren und trafen einige irrationale Entscheidungen.“
Während ich ihrem Bericht über das Rennen so lausche, hört es sich an, als hätten die beiden Glück gehabt, überhaupt lebend da raus zu kommen. In einer Nacht trat eine Gruppe von Teilnehmern über ihnen auf einem Geröllweg einen großen Felsbrocken los, der dann den Berg hinabstürzte. „Wir konnten nichts tun, denn wenn du auf diesem Gelände schnelle und plötzliche Bewegungen machst, rutscht du aus und fällst in den Abgrund und stirbst“, sagt sie. „Wir standen nur ein oder zwei Meter auseinander und der Felsblock sauste zwischen uns durch.“
Es ist schon lange her, dass sie in den Bergen gelaufen war, doch die Idee, beim UTMB mitzumachen, fasziniert sie irgendwie. „Es ist immer wieder interessant seine Grenzen auszureizen,“ meint sie. „Wenn du es schaffst, dann weißt du, wo deine Grenzen sind.“
Seit ich Elisabet das letzte Mal sah, ist sie wieder den MdS gelaufen, doch diesmal war sie nur Vierte geworden. Sie glaubt, dass bei einer der anderen Läuferinnen etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, denn ihr Rucksack war zu leicht und, dass wahrscheinlich jemand anderer als Träger fungiert hatte und einiges für sie mitgetragen hätte, zum Beispiel zusätzliche Nahrung. Das ist recht ärgerlich und für sie persönlich irgendwie nicht in Ordnung, aber so lange eine Athletin die vorgeschriebene Ausrüstung mit sich trägt, verstößt sie technisch gesehen gegen keine Regel.
Ich hatte diesen Verdacht bereits im Oman. Nicht, dass es mir etwas ausgemacht hätte, aber jeden Tag standen die Führenden in der Männerwertung mit winzigen Rucksäcken, die vielleicht ein Viertel der Größe meines Rucksacks hatten, am Start. Und trotzdem saßen sie dann jeden Abend nach der Etappe zusammen mit ihren Freunden im Lager, teilten ihr Essen und schienen trotzdem immer genug zu essen zu haben. Zugegeben, sie trugen jetzt keine Proteinriegel und Kissen mit sich herum, trotzdem schienen ihre Ranzen schon sehr, sehr klein.
Nach dem Sieg beim MdS 2015 hatte sich Elisabets Leben verändert. Plötzlich hatte sie einen Sponsor, wurde zu Rennen auf der ganzen Welt eingeladen, war ein Markenname, eine Persönlichkeit. Und genauso wie die Gegenleistungen für den Erfolg in diesem aufkeimenden Sport Jahr für Jahr größer werden, so wächst auch der Anreiz, die Regeln zu biegen oder gar zu brechen.
Einer der bekanntesten Negativfälle war der Absturz des Londoners Rob Young. Nachdem er 2014 Mo Farah den London Marathon laufen hat sehen, wettete er mit seiner Frau um 25 Cent, dass er 50 Marathons laufen könnte. Sie entgegnete, dass er viel zu faul wäre, um überhaupt einen Marathon zu laufen und in dem Buch, das er über diese Geschichte schrieb, gibt er zu, dass er völlig untrainiert war und dazu noch ein furchtbarer Läufer. Doch am nächsten Morgen ging er im Morgengrauen hinunter in den nächsten Park und lief einen Marathon. Noch am gleichen Nachmittag, nach einem 8 Stunden Arbeitstag, lief er noch einen Marathon im gleichen Park, diesmal sogar noch schneller. Am nächsten Morgen, so schreibt er, weniger als 24 Stunden nach seinem ersten Marathon, rannte er seinen Dritten und diesmal in der beeindruckenden Zeit von 3 Std 19 Min.
Nachdem er dieses unerwartete Lauftalent entdeckt hatte, ging es erst richtig los. Bis zum Ende des Jahres war er 370 Marathons gelaufen. Danach brach er Dean Karnazes Weltrekord für die längste non-stop gelaufene Strecke ohne Schlafunterbrechung von 600 km. Die Fernsehsender standen nur so Schlange, um ein Interview mit ihm zu machen. Sein Buch, Marathon Man, verkaufte sich richtig gut und die Tageszeitung The Times nannte es „eine erstaunliche Geschichte“.
Erpicht darauf, noch mehr verrückte läuferische Dinge zu tun, gab Young 2016 bekannt, dass er den TransAmerica-Streckenrekord quer durch die USA, der seit 1980 bestand, brechen wolle. Nach all den unglaublichen Dingen, die er bereits unternommen hatte, warteten die Leute mit Spannung darauf, ob er es schaffen würde. Doch schon bald nach dem Start seines Versuchs kamen im Internet die ersten Zweifel an der Echtheit seines Fortschritts auf. Nach genauer Betrachtung von Screenshots seiner GPS-Uhr auf Facebook waren einige Kritiker der Meinung, dass sein Tempo und die zurückgelegte Strecke unmöglich machbar wären, vor allem da er auf den Bildern immer so frisch und ausgeruht aussieht.
Der Stein kam dann wirklich ins Rollen, als ein Mann namens Asher Delmott eines Nachts Youngs Livetracker online mitverfolgte und bemerkte, dass Young nahe seiner Heimatstadt Lebo in Kansas vorbeilief. Entsprechend Delmotts Bericht, der auf der Webseite letsrun.com zu finden war, dachte er, dass Young sich einsam vorkommen musste und fuhr deshalb zu ihm, um zumindest ein paar Kilometer mit ihm zu laufen. Doch was er vorfand, war einzig und allein Youngs Begleitfahrzeug, das im Schritttempo fuhr – keine Spur von Young selbst. Er fuhr noch ein paar Mal die Straße auf und ab, doch entdeckte niemanden der lief.
Nachdem Delmotts Bericht erschienen war, begann die ganze Sache hässlich zu werden. In seinem Buch schrieb Young darüber, wie sehr er als Kind von seinem Vater misshandelt wurde, auch dass ihm ein Nagel durch den Fuß getrieben wurde. Diese Erlebnisse, so sagt er, waren es auch, die ihn gelehrt hätten, Schmerz einfach auszublenden und das hätte ihm all diese unglaublichen Ultra-Laufleistungen erst ermöglicht. Außerdem war alles, was er tat, nur dazu da, Geld für ein Kinderhilfsprojekt zu sammeln. Für viele war Young ein Held und eine Inspiration und sie wollten an ihn glauben.
Um herauszufinden, was es denn nun mit all dem auf sich hatte, entschloss sich eine Gruppe Ultra-Läufer, die sich selbst The Geezers nannte, Young persönlich zu folgen und fuhr ihm im Auto nach, als er trotz aller Zweifel seinen Lauf durch Amerika fortsetzte.