Adharanand Finn

Der Aufstieg der Ultra-Läufer


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mir.1 Er ist aus Essex angereist, um das Rennen mit mir1 zu laufen. Auch er möchte am UTMB teilnehmen und befindet sich daher auf Punktejagd. Wir können uns zusammentun.

      Tom ist ein richtig guter Läufer und ich weiß bereits, dass er das morgige Rennen wahrscheinlich gewinnen wird. In der Tat erzählt er mir, dass er noch nie ein Ultra-Rennen im Vereinigten Königreich verloren hätte.

      Ich traf Tom das erste Mal in Kenia, zu einer Zeit, als er der viertschnellste Marathonläufer im UK war. Es war das Jahr 2011 und er hatte gerade seinen Schreibtischjob bei einer Wasserfilterfirma in Portsmouth gekündigt, um seinen Traum, sich für die Olympischen Spiele in London zu qualifizieren, zu verwirklichen. Dazu verbrachte er sechs Monate in einem kenianischen Trainingslager in der Kleinstadt Iten, wo er sich ein winzig kleines Zimmer mit einem Mitbewohner teilen musste. Zum Duschen gab es nur kaltes Wasser, ein Loch im Boden diente als Toilette und das tägliche Mittagessen bestand aus Reis und Bohnen. Damals sah er nicht so gut aus, wie er es heute tut, doch er hatte ein freundliches Gesicht und eine frohe, warmherzige Natur, jemand, der in allem immer das Positive sehen wollte. Das war auch gut so, denn als er nach sechs Monaten im Rift Valley zurückkehrte, blieb er zehn Minuten über seiner persönlichen Bestzeit und verpasste somit die Olympiaqualifikation.

      „Den langsamsten Marathon meiner Karriere bin ich doch tatsächlich nach meinem Aufenthalt in Kenia gelaufen“, meint er. Klarerweise schwer enttäuscht, fühlte er sich damals irgendwie verloren. „Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte“, erzählt er weiter.

      Doch er hatte nun einmal eine neue Seite in seinem Leben aufgeschlagen und auf keinen Fall würde er das alles wieder aufgeben und in einen regulären Bürojob zurückkehren. Mit Hilfe seiner kenianischen Kontakte gelang es ihm, einen Job bei einer Sportmanagement-Agentur zu ergattern, wo er kenianische Topläufer zu Rennen auf der ganzen Welt begleitete, sich um sie kümmerte, mit ihnen trainierte und den Tempomacher für sie bei den großen Rennen gab. Er lebte sogar in einer Wohnung in London, die als Unterkunft für Athleten aus Kenia diente, wenn sie für Rennen nach Europa kommen. Trotzdem funktionierte es auf der Straße nicht so, wie er wollte, und als er mich in Devon besucht, liegt seine Marathonbestzeit noch immer bei den 2 Std 17 Min, die er noch als Bürohengst in Portsmouth gelaufen war.

      Doch jetzt steht ein Mann vor mir, der vor Vitalität nur so strotzt. Seit den Tagen nach Kenia ist einiges passiert. Vor allem begann er mit Ultra-Marathons, wo er auch Rachel kennenlernte, seine Verlobte. Beides hatte riesigen Einfluss auf sein Leben.

      „Im Endeffekt führte mein damaliges Leben, wo laufen und trainieren schon ein Zwang waren anstatt einem Vergnügen, zum frühzeitigen, aber auch kurzzeitigen Ruhestand“, erzählt er mir, als ich uns in meiner kleinen Landhausküche Spaghetti Surprise zubereite. „Als ich wieder zu laufen anfing und mich in den Ultra-Sport stürzte, schwor ich mir, nur mehr aus Liebe zum Laufen zu laufen, und diese Liebe besteht seit damals.“

      Der Umstieg zum Ultra-Running war eigentlich fast unbeabsichtigt. „Nicht lange nachdem ich meinen Rückzug vom Laufsport angetreten hatte“, so erzählt er weiter, „kam ich auf die Idee, den Weg von meiner Wohnung in London bis zum Haus meiner Eltern in Tiptree, Essex, zu laufen. Ich hatte keine Ahnung, wie weit das war, ich wusste nur, dass es länger ist als ein Marathon. Seit ich als neunjähriger Junge meinem lokalen Leichtathletikverein beigetreten war, war dies das erste Mal, dass ich mich nicht an einem Trainingsplan oder Renntraining orientierte und so erkannte ich, dass ich so weit und so schnell – oder auch langsam – laufen konnte, wie ich wollte.“

      So wachte er also eines schönen Morgens auf, zog sich seine Schuhe an, schnallte sich seinen Rucksack mit ein paar Energieriegeln und einer Flasche Wasser um und machte sich auf den Weg. „Ich fühlte mich frei, ohne Druck. Ich konnte es gemütlich angehen, wenn ich wollte, und etwas aufs Tempo drücken, wenn ich mich gut fühlte. Nicht lange und ich hatte die Marathondistanz erreicht, dann fast 50 Kilometer. Meine Füße waren bereits etwas wund, doch ich fühlte mich noch richtig gut, als ich Chelmsford erreichte, wo der Anblick des Zugs so reizvoll war, dass ich mich entschied, die letzten 15 Meilen (ca. 25 km) doch mit der Bahn zu fahren.“

      Eine Entscheidung, die er sofort wieder bereute, wie er sagt, und so packte er die Woche darauf wieder seinen Rucksack und lief diesmal die gesamten 56 Meilen (90 km) von London nach Tiptree, wofür er sieben Stunden benötigte. „Das war ein so großartiges Gefühl, diese Strecke zu Fuß zurückzulegen, und es dauerte nicht lange, bevor ich mich zum ersten Ultra, dem Ring O’Fire, ein 135-Meilen-Rennen (ca. 217 km), rund um die Insel Anglesey, anmeldete.“ Er gewann das Rennen mit einem Vorsprung von mehr als drei Stunden.

      Als er ein Jahr später bei einem trendigen, von Adidas gesponsertem Event in Südlondon auftauchte, war Tom noch immer größtenteils auf Straßenmarathons fixiert.

      Vor dem Rennen, so sagt Tom, sah er eine Frau, die er von der Laufbahn her, wo er trainierte, wiedererkannte. „Wir unterhielten uns kurz und ich dachte mir, ich sollte heute Abend wohl zusehen, dass ich schnell laufe.“ Da er unbedingt Eindruck schinden wollte, stellte Tom sicher, dass er das Rennen gewann. „Danach ging ich zu ihr und sagte: ‚Gewonnen!‘ Doch sie zeigte sich nicht besonders beeindruckt.“

      Beim nächsten Mal, als er auf Rachel traf, bei einem Eliminationsrennen namens Wings for Life, lief die Sache besser. Bei dieser Art von Rennen starten die Läufer mit einem 30-Minuten-Vorsprung auf ein Auto, das ihnen – beginnend mit 15 km/h und danach schrittweise schneller werdend – nachfährt. Wird ein Läufer von dem Fahrzeug überholt, so ist er aus dem Rennen und wird zurück ins Ziel gebracht, wo er oder sie das Rennen auf einer großen Leinwand mitverfolgen kann. Natürlich gewann Tom das Rennen. „Weil ich der Letzte war, sahen mir alle zu“, erklärt er. Er war der Held des Tages. Rachel saß da und sah ihm mit steigender Bewunderung zu. „Sie stellte irgendwas auf Facebook mit Cheering Tom Payn und verlinkte mich. Nach dem Rennen kam sie zu mir und umarmte mich herzlich. Also habe ich sie gefragt, ob sie mit mir ausgehen will.“

      Seitdem inspirierten sich Rachel und Tom gegenseitig ihre regulären Jobs aufzugeben, einen gelben VW Käfer zu kaufen und nach Frankreich zu ziehen, um eine Vollzeitkarriere als Ultra-Läufer zu starten. Ach ja, und sie leben jetzt beide vegan. Und sind verlobt. Da ist also einiges passiert, während der letzten paar Jahre. Ich konnte das größtenteils via Social Media mitverfolgen, sehen, wie Toms Haar immer länger wurde, sein Grinsen breiter und die Hintergrundlandschaften auf seinen Fotos immer größer, bunter und epischer. Tom und Rachel haben sich auch eine Wohnung in Chamonix, der europäischen Hauptstadt des Ultra-Running und Basis des UTMB, zugelegt. Dort wohnen sie zur besten Laufzeit im Sommer und vermieten das Apartment in der Schisaison, während sie selbst nach Kenia oder Marokko ziehen, um zu laufen.

      „Warum ausgerechnet Marokko?“, frage ich ihn.

      „Wir sind eben sehr spontan“, antwortet er. „Wir folgen einfach unserem Herzen. Wir wollten irgendwohin, wo es im Februar und März warm ist, und überlegten, was da in Frage käme? Als wir dann dort ankamen, war es bitterkalt.“

      Trotz des überraschend kalten Wetters entpuppte sich das Folge-deinem-Herzen-System als Volltreffer. Einige Monate bevor er an meiner Türe steht, wurde Tom dazu auserkoren, bei den Trail-Weltmeisterschaften für Großbritannien an den Start zu gehen. Ein britisches Trikot überzustreifen war schon immer sein Kindheitstraum und gerade als er nicht mehr daran zu glauben wagte, wurde der Traum wahr. Seine Mutter und Rachel reisten extra aus Portugal an, um ihm beim Rennen zu unterstützen.

      „Das war der glücklichste Tag meines Lebens“, sagt er mit leicht zittriger Stimme. „Im Ziel habe ich dann sogar geweint.“

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      Wir verlassen mein Haus um sechs Uhr am nächsten Morgen und fahren entlang der engen Landstraßen zum Rennstart. Eigentlich sollte ich navigieren, doch ich sage den Weg immer wieder falsch an, da ich mehr damit beschäftigt bin, die richtige Musik vor dem Rennen zu finden, um in Stimmung zu kommen.

      Der offizielle Parkplatz ist eine große Wohnsiedlung am Rande eines Dorfes, nur wenige Kilometer von der Küste entfernt. Als sich die zu dieser Zeit normalerweise menschenleeren Straßen mit Autos füllen, sich