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Die Entdeckung der Freiheit


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kann. Hinterfragt man dagegen solche Ansprüche kritisch, dann kann sich unter Umständen die im Krieg kulturell autorisierte Umkehr des Tötungsverbots auch enthüllen als krimineller Zwang zur Selbstzerstörung der eigenen Gruppe – ganz zu schweigen von der Zerstörung der restlichen Welt.4

      Die Aufwertung physischer Gewalttätigkeit, die unvermeidlich zu einer generellen Abwertung individueller und kollektiver Lebenszeit führt, ist charakteristisch für extreme Situationen, und zwar in der Offensive wie in der Defensive, auf seiten der Mächtigen wie auf der der Ohnmächtigen, der eigenen und der feindlichen Gruppe. Jahrtausendelang ein ebenso vertrauter wie entsetzenerregender Mechanismus machtpolitisch motivierter Aggression, ist die moralische Inversion des Krieges im Kern irrational, denn sie leugnet die Grundvoraussetzung des menschlichen Bewußtseins: die erfahrene Realität des Todes und damit der begrenzten Lebenszeit. Im „Krieg“ gegen den Terrorismus nach den Ereignissen vom 11. September 2001 müßte der angeblich „unvermeidliche“ „Kollateralschaden“ der Zivilbevölkerung bei den militärischen Aktionen der allmächtigen USA und ihres Klientenstaates Israel ebenso ernsthaft hinterfragt werden wie die terroristischen Reaktionen der ohnmächtigen „Selbstmordattentäter“. In beiden Fällen scheint das moderne Verständnis einer mit allen anderen geteilten, begrenzten Lebenszeit aufgehoben, und damit die moderne Einsicht in die zeit- und zufallsbedingte Historizität der menschlichen Existenz, auf die sich die Bereitschaft zu politischem Verhandeln weitgehend stützt. Durch jahrzehntelange Unterdrückung ihrer Gruppe in religiösen Fundamentalismus getrieben, verlassen sich die „Selbstmordattentäter“ auf die Verheißung ihrer umstandslosen Beförderung ins Paradies, ohne Rücksicht auf die endgültige Realität ihres Sterbens und der toten und verletzten Opfer ihres Selbstopfers. Die von amerikanischen und israelischen Soldaten kollateral Getöteten und Verstümmelten werden ebenso einfach einem religiös abgeschirmten, machtpolitisch opportunen Verlangen nach dauernder Sicherheit geopfert.

      Arendt entwickelte ihre spezifische Perspektive auf die amerikanische Revolution in einem Stadium ihres politischen Denkens, in dem sie sich auch mit den Implikationen des Eichmann-Prozesses auseinandersetzte. Die amerikanische erschien ihr als die einzige unter den modernen Revolutionen, die die römische Autorität der Gründung reklamierte, denn sie endete in der Constitution als Grundlage klaren und distinkten politischen Handelns in der Gegenwart und der Zukunft. Diese Gründung als Auf-Dauer-angelegt-Sein ist aber in Arendts Szenario immer noch der Kontingenz menschlicher Lebenszeit unterworfen, der für menschliche (politische) Kultur wichtigsten aller Kontingenzen: Dauer im menschlichen Maß, für eine Zeit. Auch wenn sie die amerikanische Revolution außerhalb des Bereiches sozialer Notwendigkeit ansiedelt und sie als Kampf für Freiheit (freedom) eher denn für Freiheiten oder Freizügigkeit (liberties) sieht, ist der durch Freiheit ermöglichte signifikante Neubeginn ein Neubeginn in der „Tradition“, der kulturgeschichtlichen Zeit, nicht im Mythos: die Modifizierung, nicht die Negation der historischen Notwendigkeit durch das politische Konstrukt der Constitution, der Verfassung. Hier ist die Verbindung zu dem Konzept der „Natalität“, dessen Wichtigkeit Arendt zuerst in ihrer Kritik des politischen Zionismus klar wurde, das sie in Vita Activa ausführlich thematisieren sollte und in der Gründung eines jüdischen Staates gefährdet sah. Anders als der jüdische Staat basiert die Verfassung der Vereinigten Staaten nicht auf einem Gründungsmythos, sondern auf einer für kontinuierliche Interpretationen und Neuanfänge offenen „story“, deren Sinn, Sinnhaftigkeit, Vernünftigkeit einsichtig sein, das heißt sich immer neu beweisen, neu durchsetzen muß. In dem Vortrag „Thinking and Moral Considerations“ (1971) – später die Einleitung zu Thinking (Das Denken) – wird dann epistemologisch ein Aspekt des Problemkomplexes „Autorität“ weiterentwickelt, der in Eichmann in Jerusalem psychologisch-politisch untersucht wurde: Denken als Nicht-Identifizierung, als Markierung der modernen intellektuellen Unabhängigkeit im Gegensatz zu Eichmanns totalitaristischer Unfähigkeit, für sich selbst zu denken. In der Einleitung zu Das Denken wird denn auch noch einmal explizit auf die Verbindung der „Banalität des Bösen“ mit dieser Unfähigkeit hingewiesen.5 Die Möglichkeit nicht nur zur Freiheit, sondern auch zum unabhängigen Denken wird von einer „kollektiven“ Autorität gestützt, nämlich der Autorisierung durch eine politische Gemeinschaft. Diese beruft sich explizit nicht auf von vornherein abgesprochene Solidarität und dauernde Identität, wie es zum Beispiel der politische Zionismus tut, sondern auf offene Prozesse gegenseitiger Verständigung und die sich in dieser Verständigung etablierende Gleichheit (equality).

       Arendts Zionismus-Kritik und die Folgen des 11. September

      Die Ereignisse des 11. September haben die große Mehrzahl der amerikanischen Bevölkerung auf eine Weise existentiell „betroffen“, die Europäern weitgehend unzugänglich und, wenn die politischen Folgen weltweit nicht so ernst wären, in manchem übertrieben erscheinen könnte. Hier sind vor allem zu nennen: der andauernde, hoch emotionale, regressive Patriotismus angesichts einer angeblich fundamentalen Bedrohung des Landes, das plötzlich zur signifikanten Gemeinschaft erhoben und gefeiert wird; die überschwengliche Vernichtungsrhetorik; die manichäischen Szenarios des absolut guten und von vornherein siegreichen Krieges gegen den absolut bösen Terrorismus. Diese neuen Phänomene sind politisch so wichtig wie beunruhigend, weil sie sich als Wiederholung oder Re-Inszenierung des absolut guten, siegreichen Krieges gegen den Faschismus verstehen. Es geht hier dann nicht um politische und militärische Möglichkeiten, zum Beispiel um Pentagon-Warnungen vor einer Ausbreitung des Krieges gegen den Terrorismus zur militärischen Invasion im Irak. Es geht auch nicht um historische Bedingtheiten, zum Beispiel um ein besseres Verständnis der ökonomischen und politischen Gründe für die rapide Vermehrung terroristischer Dschihad-Bewegungen. Es geht vielmehr um apriori autorisierte Ansprüche, die sich auf das Konzept des novus ordo saeclorum im Zentrum des politischen Selbstverständnisses des Einwanderungslandes USA stützen. In der gegenwärtigen hochemotionalen Situation rufen diese absoluten Ansprüche die utopischen Energien einer allegorischen Freiheit wach, die die komplizierte und gefährliche politische Realität auf unzulässige Weise vereinfacht. In ihrem Namen muß dann alles möglicherweise Bedrohliche sofort vernichtet werden, denn das Mögliche wird nur noch negativ gesehen als „das Böse“ (evil): weitere Terrorangriffe, was geschehen kann und deshalb geschehen wird. Und diesem Ur-Bösen wird das absolut Gute der Abwehr entgegengesetzt: die Folgen hypostasierter „Sicherheitsgründe“, die unter Aufhebung moderner demokratischer Spielregeln realisiert werden.

      Was hat das mit der Entwicklung von Arendts politisch-philosophischem Essayismus im Einwanderungsland Amerika zu tun? Die politische Modernität Amerikas bedeutete für Arendt die Möglichkeit, als Verantwortlichkeit, sich mit neuen Lebensarten bekannt zu machen und sich eine Lebens-Zeit lang in der Welt zu Hause zu fühlen. Diese Modernität kam ihrer spezifischen Erfahrung des Exils entgegen, die sie mit Exilanten wie Alfred Schütz teilte: die mögliche Erfahrung einer immer größer werdenden Welt im ständigen Flux der Veränderung. Der in die USA emigrierte phänomenologische Soziologe Alfred Schütz beschrieb sie 1940 in seinem klassischen Aufsatz „The Stranger“ als Prozesse wachsender Vertrautheit des Fremden mit neuen Situationen, in denen er allmählich lernt, Verhaltensmuster zu interpretieren, Orientierungsplänen zu folgen und Handlungsprotokolle einzuhalten, bis er schließlich nicht mehr der Fremde ist. Als neuer Bürger eines neuen Landes kann er dann das politische, soziale Verstehen weiterführen zum politischen, sozialen Intervenieren. Solche Lernfähigkeit ist immer eine Frage sowohl des spezifischen intellektuellen Temperaments als auch der Erfahrung, und Schütz teilte sie mit vielen anderen Emigranten von sonst sehr unterschiedlichen kulturellen Interessen und politischen Überzeugungen wie zum Beispiel Arendt, Kracauer, Zuckmayer, Voegelin. Für alle war Emigration eine politische Notwendigkeit, die die Verantwortlichkeit für das neue Gemeinwesen in sich trug, dessen Bürger sie werden sollten; in vielen Fällen war sie auch verbunden mit großen praktischen Schwierigkeiten und Ängsten, mit denen man unterschiedlich umgehen konnte. Dagegen war der Philosoph Aron Gurwitsch völlig entsetzt von den existentiellen Untiefen, die er in dem Aufsatz seines Freundes Schütz fand. Den zeitlichen Transformationen des Fremden stellte er die philosophische Krise entgegen, die in seiner Sicht unvermeidbar und unerbittlich alle Exilanten teilten und die sie auf Dauer zu Fremden machte. Wie für Adorno und Horkheimer in