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Die Entdeckung der Freiheit


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der sich Arendt ausgesetzt sah, konnte „mit bestehenden und überlieferten Vorstellungen von Welt und Mensch nicht mehr begriffen werden“2.

      Neben dem Gefühl der Fremdheit war Arendt von einer tiefen Leidenschaft des Denkens erfüllt, eines Denkens, das weniger an Erkenntnis im instrumentellen Sinn interessiert war als an einer verstehenden Sinnsuche. Ihre Biographie Rahel Varnhagens wurde deshalb auch keine Abhandlung über die Probleme der jüdischen Assimilation während der Herausbildung der modernen Nationalstaaten, sondern ein Gang durch die Erfahrungswelt einer Jüdin, die auf schmerzhafte, immer wieder scheiternde Weise den Weg zu gesellschaftlicher Anerkennung suchte. Arendt intonierte „die Melodie eines beleidigten Herzens“, wie sie ihr Buch am liebsten genannt hätte, aber sie fand bis zu ihrer Flucht aus Deutschland 1933 keine menschlich und politisch zufriedenstellende Lösung des Problems. Erst im Exil, erst nach vielen Diskussionen über die Zukunft der europäischen Juden und der europäischen Staaten, schrieb sie 1938 die beiden Schlußkapitel. Rahel Varnhagen, so Arendt, fand erst dann zu sich selbst und zu einer gesellschaftlichen Anerkennung, als sie nicht mehr ihr Judesein ablegen und in einem anderen gesellschaftlichen und religiösen Gewand erscheinen wollte, sondern selbstbewußt als Jüdin und voller Bewunderung für den unabhängigen Heine.

      Bis zu diesen Schlußfolgerungen aber war es noch ein langer Weg. Dennoch war die Arbeit an der Biographie Rahel Varnhagens mehr als die Beschäftigung mit einem individuellen Schicksal aus der Sicht der von Arendt empfundenen Fremdheit. Arendt hatte 1926 in Heidelberg Kurt Blumenfeld, den Präsidenten der Zionistischen Vereinigung für Deutschland kennengelernt, der neben ihren philosophischen Lehrern zu ihrem politischen Mentor wurde. Er konnte sie zwar nicht zu einem rückhaltlosen Zionismus bekehren, ihr aber die Judenfrage in aller Eindringlichkeit nahebringen und sie davon überzeugen, daß die bisherigen Bemühungen der Juden in Deutschland um Assimilation vergeblich waren. Unter diesem Eindruck arbeitete Arendt bis 1933 an der Biographie Rahel Varnhagens.

      Diese intellektuelle ‚déformation professionelle‘ bestärkte sie in dem Entschluß, nie wieder irgendeine ‚intellektuelle Geschichte‘ anzufassen. In Paris arbeitete Arendt zuerst bei einer französischen Organisation, die junge Emigranten nach Palästina landwirtschaftlich und handwerklich ausbildete, dann als Sekretärin der Baronnesse Germaine de Rothschild, deren Spenden an jüdische Wohltätigkeitseinrichtungen sie betreute, und schließlich von 1935 bis 1938 als Geschäftsführerin des Pariser Büros der Jugend-Aliyah. Die Organisation bemühte sich darum, jüdische Kinder aus Mittel- und Osteuropa auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Während dieser Arbeit begleitete sie 1935/36 eine Gruppe von Jugendlichen nach Palästina und nahm 1936 am jüdischen Weltkongreß in Genf teil. Nach der Schließung des Büros arbeitete sie bis September 1939 für die Jewish Agency als Sachbearbeiterin für die Rettung jüdischer Jugendlicher aus Österreich und der Tschechoslowakei.

      Arendt war auf ihrem Weg ins Exil nur kurz in Genf bei sozialdemokratischen Freunden geblieben und bald der Zionisten wegen nach Paris gegangen. Doch bei aller Zustimmung zu einem Zionismus, der sich als politischer Bewegung von der politischen Passivität und Blindheit jüdischer Wohltätigkeitsverbände abhob, geriet sie bald in Widerspruch zu dem Nationalismus, der ein wesentlicher Bestandteil eben jenes Zionismus war, und auch zur Palästinapolitik der zionistischen Organisationen.

      Die Moderne, so Arendt später in ihrem Aufsatz über die verborgene Tradition jüdischen politischen Selbstbewußtseins, hat den gesellschaftlichen Spielraum so sehr eingeschränkt, daß er nur durch den politischen Kampf um Gleichberechtigung und das heißt um eine Neuordnung der politischen Rechte wieder hergestellt werden kann. Der Nationalsozialismus und die antisemitischen und faschistischen Bewegungen in Europa machten in der Krise der europäischen Nationalstaaten klar, daß wesentliche Elemente wie Nationalismus und Pluralismus sowie Staatssouveränität und allgemeine Bürgerrechte nicht miteinander vereinbar waren. Die Zukunft der Juden in Europa konnte deshalb auch nicht in einem jüdischen Nationalismus liegen, weil er ganz der Tradition des verhängnisvollen europäischen Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts verhaftet war.

      Bei