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Die Entdeckung der Freiheit


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„Welt“ und „Person“ eine Möglichkeit, die dichotomische Gegenüberstellung von Republikanismus und Liberalismus zu überwinden. Weder das Individuum noch die Welt, auf die es sich bezieht, seien bei Arendt feste, vorauszusetzende Größen, sondern beide konstituieren sich erst im Wechselspiel des politischen Handelns und verändern sich dabei. Arendt vernachlässige insofern keinesfalls den Pluralismus moderner Gesellschaften, sondern habe einen anderen Begriff von Individualität und Pluralität als der Liberalismus. Politik sei in Arendts Verständnis eben nicht einfach der Ort der Aushandlung unterschiedlicher Interessen oder unhintergehbarer Differenzen. Im Gegenteil: Erst im Rahmen eines gemeinsamen Handelns im öffentlichen Raum und der Gestaltung einer gemeinsamen Welt konstituieren sich Interessen und Differenzen als politische und eröffnen dadurch gleichzeitig die Möglichkeit ihrer Transformation. Gerade dieser „transformative Charakter“ des politischen Handelns im öffentlichen Raum überwinde die Tendenz des liberalen Denkens, „jede Form der substanziellen Debatte zwischen verschiedenen Lebensformen unmöglich zu machen“.

      Im letzten Teil des Bandes geht Otto Kallscheuer noch einmal zurück zu den biographischen Wurzeln von Arendts Identifikation mit der amerikanischen Demokratie, an der sie bekanntlich trotz ihrer Kritik der US-Außenpolitik und der inneren Verfassung der amerikanischen Gesellschaft festhielt. Er unterstreicht, daß Amerika für Arendt nicht nur Exil, sondern auch eine Chance als Publizistin und Wissenschaftlerin darstellte, die sie als Jüdin und als Frau im Europa der Zwischenkriegszeit wohl nicht gehabt hätte. Die Kernthese Kallscheuers lautet allerdings, daß Arendts Lesart der amerikanischen Politik verzerrt sei durch ihre New Yorker Erfahrungen und sie die religiösen Ursprünge der amerikanischen Republik ignoriere. Die revolutionäre „Nation“ Amerika sei ohne die evangelische Erweckungsbewegung des achtzehnten Jahrhunderts und ihre bis heute politisch wirksamen Wiederbelebungen nicht adäquat zu verstehen. Die amerikanische Zivilreligion umfasse nicht nur „Rom“, sondern auch „Israel“, und das bedeute den „biblischen Code von Prüfung und Umkehr, vom Bund mit Gott, vom Vertrauen in den HERRN beim Zug durch die Wüste und beim gerechten Kampf“. Wie ungeheuer dieses „zweite Register“ der amerikanischen Zivilreligion in europäischen Augen aussehen kann, braucht heute, angesichts des Versuchs einer gewaltsamen „Demokratisierung“ der arabischen Welt, nicht weiter ausgeführt zu werden.

      Auch wenn sich die hier kurz skizzierten Beiträge durch eine große Vielfalt und Differenziertheit im methodischen Vorgehen, in der Argumentation und in der Darstellung auszeichnen, werden sie doch durch den gemeinsamen Fokus, der diesem Band zugrunde liegt, zusammengehalten. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, daß die meisten Beiträge viele gemeinsame Referenzpunkte aufweisen und manchmal in geradezu verblüffender Art und Weise dieselben Texte und Fragestellungen aus verschiedenen Perspektiven betrachten und unterschiedlich interpretieren. Wenn man in Rechnung stellt, daß Hannah Arendt schon zu ihren Lebzeiten eine umstrittene politische Denkerin war, die nie für sich in Anspruch genommen hat, eine geschlossene politische Theorie zu entwerfen, dürfte diese Multiperspektivität kaum überraschen. Es ist aber mit Sicherheit kein Zufall, daß trotz aller Unterschiede in den Perspektiven und Urteilen die Bedeutung von Hannah Arendts Begriff des „politischen Handelns“ für eine Theorie des Politischen in den meisten Beiträgen ohne Einschränkung gewürdigt wird. Dies unterstreicht einmal mehr, daß für all diejenigen, deren Vorstellungen von Politik und politischer Theorie sich nicht in funktionalistischen und systemtheoretischen Zugangsweisen erschöpfen, gerade von ihrem Begriff des „politischen Handelns“ bis heute eine große Faszination ausgeht.

      Lothar Probst

      Winfried Thaa

      1Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 1987, S. 10.

      2Hannah Arendt/Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, München/Zürich 2001, S. 66f.

      3Hannah Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München/Zürich 1998, S. 115.

      4Hannah Arendt, Zur Zeit. Politische Essays, Berlin 1986, S. 163.

      5Vgl. Hannah Arendt, „The Threat of Conformism“, in: Dies., Essays in Understanding 1930–1954, New York 1994, S. 427.

      6Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1994, S. 178.

      7Aus einem Vortragsmanuskript von Ernst Vollrath mit dem Titel „Die Originalität des Beitrages von Hannah Arendt zur Theorie des Politischen“.

      8Ebd.

      9Hannah Arendt/Heinrich Blücher, Briefe 1936–1968, München/Zürich 1996, S. 125.

      10Dolf Sternberger, „Die versunkene Stadt“, in: Merkur 341 (1976), S. 941.

      11Vollrath, „Die Originalität des Beitrages von Hannah Arendt zur Theorie des Politischen“, a.a.O.

      12Sternberger, „Die versunkene Stadt“, a.a.O., S. 940.

1. Hannah Arendts Weg nach Amerika

      Wolfgang Heuer

       Von Augustinus zu den „Founding Fathers“. Die Entdeckung des republikanischen Erbes in der europäischen Krise

      Als Hannah Arendt mit ihrem Mann Heinrich Blücher im Mai 1941 den Hafen von Lissabon an Bord der S/S GUINÉ der Companhia Colonial de Navegação verließ, um zwölf Tage später in New York anzukommen, begann eine neue, entscheidende Etappe in ihrem Leben. Sie verließ Europa nicht nur räumlich, sondern auch geistig, und fand in Amerika nicht nur Asyl, sondern begegnete dort einer Republik, deren Tradition und Bedeutung ihr in Deutschland bis dahin verborgen geblieben waren. Diese Begegnung und die Auseinandersetzung mit der amerikanischen Tradition bewirkte keine grundsätzliche Änderung in ihrem politischen Denken, sondern vertiefte vielmehr eine Entwicklung, die mit der Existenzphilosophie in Deutschland begonnen hatte und mit der Diskussion über die Zukunft der europäischen Juden im französischen Exil eine unerwartete Fortsetzung gefunden hatte. Dabei war Arendt von drei entscheidenden Begegnungen geprägt worden: der Begegnung mit Heidegger und Jaspers, dem ‚Lehrer‘ und dem ‚Erzieher‘, wie Arendt sie nannte; der Begegnung mit dem deutschen Zionisten Kurt Blumenfeld, durch den sie mit dem Feld der Politik und mit dem politischen Denken in Berührung kam, und die Begegnung mit Heinrich Blücher in Paris, der ihr bis zu seinem Tod 1970 zum wichtigsten Diskussionspartner über das Scheitern der europäischen politischen, aber auch philosophischen Tradition und über die Zukunft der Politik und der politischen Institutionen wurde.