Peter Lovatt

Tanz einfach!


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auch gar nicht können. Es hat auch weder etwas damit zu tun, wie gut jemand tanzt, noch mit irgendeinem bestimmten Tanzstil. Ich habe es bei Menschen beobachtet, wenn sie Freestyle in Clubs tanzen, oder wenn sie Ballett oder andere klassische Stile tanzen wie zum Beispiel indischen Tanz. Ich habe es bei modernen Tanzformen wie Jazz- und Stepptanz sowie Contemporary beobachtet, beim Paartanz wie Standard und Latein, und bei Gruppentänzen wie etwa dem Line Dance. All diesen Formen ist gemeinsam, dass sie eine bestimmte Art der Kommunikation zwischen Gehirn und Körper erfordern – und dabei Bewegungen verwenden, die Menschen sowohl mit sich selbst als auch mit anderen in Kontakt bringen.

      Wenn Menschen tanzen, strahlen sie eine besondere Form der Schönheit aus. Ich meine nicht Schönheit im physischen Sinne. Die Schönheit, die durch den Tanz sichtbar wird, hat nichts mit der Größe oder Form Ihres Körpers zu tun. Es geht um die Art von Schönheit, die sichtbar wird, wenn Sie glücklich und unbeschwert sind und im Moment leben. Tanzen bringt Menschen ins Hier und Jetzt. Eine meiner Ballettlehrerinnen hat einmal gesagt: „Tanz ist Bewegung, und Bewegung ist Leben“. Tanzen bringt die Lebensessenz eines Menschen zum Vorschein.

      In meinem Fall wirkte der Tanz auch in einem ausgesprochen praktischen Sinne transformativ. In Kapitel Eins erkläre ich, wie ich vom Profitänzer ohne eine akademische Qualifikation zum Wissenschaftler wurde, der an der Universität Cambridge forschte – und wie ich durch den Tanz dazu gekommen bin. Es ist sogar größtenteils dem Tanzen zu verdanken, dass ich im relativ späten Alter von 23 Jahren lesen gelernt habe.

      Auf den Gebieten der Neurowissenschaften, Kognitionswissenschaften, Biologie, Medizin, Anthropologie und Evolutionstheorie ist enorm viel zum Tanz geforscht worden, und die Beweise sind eindeutig: Sie zeigen, dass der Akt des Tanzens konkrete psychische und physische Veränderungen hervorruft, die in unserem Leben eine wichtige Rolle spielen können.

      In diesem Buch beschreibe ich, wie Tanzen sowohl unsere mentalen Verarbeitungsprozesse – das heißt, was und wie wir denken – als auch unsere Gefühle beeinflusst. Tanzen kann Ängste lindern, zum Teil indem es uns dazu bringt, uns auf uns selbst zu konzentrieren und im Moment zu leben. Auf der körperlichen Ebene befähigt es uns, Anspannung und Entspannung in wichtigen Bereichen unseres Körpers zu kontrollieren, sodass wir uns mit unterschiedlicher Absicht bewegen, wenn wir zum Beispiel von A nach B gehen, oder wenn wir laufen, um Sport zu treiben. Ich erkläre, inwiefern unser psychischer und physischer Zustand eng miteinander zusammenhängen und wie Veränderungen beim einen zu Veränderungen beim anderen führen.

      Nach der Erläuterung des wissenschaftlichen Hintergrunds zeige ich Ihnen eine große Bandbreite praktischer Möglichkeiten, wie Sie mithilfe des Tanzens Ihr Leben verbessern können. Auf der Grundlage von Forschungsergebnissen habe ich eine einzigartige Reihe von Kombinationen und Tanzfiguren entwickelt, die maßgeschneidert Wirkungen und emotionale Veränderungen erzielen. Wie wir unseren Körper bewegen, beeinflusst uns auf vielen verschiedenen Ebenen. Manche Bewegungskombinationen können uns beruhigen und die Stimmung verbessern, andere geben uns Energie und fördern die Konzentration, wieder andere unterstützen unser kreatives Denken und beschleunigen unsere Problemlösungsfähigkeit und schließlich können manche uns widerstandsfähiger und selbstbewusster machen. Mehr noch, diese Veränderungen sind auch für die Menschen in unserer Umgebung wahrnehmbar.

      Der Tanz ist eine der stärksten Kommunikationsformen, die wir haben. Er hat mein Leben verändert. Und er kann auch Ihr Leben verändern.

      KAPITEL 1

      MEINE GESCHICHTE

      Wenn ich tanze, fühle ich mich in vielerlei Hinsicht anders: Ich nehme meine Gefühle deutlicher wahr, es fällt mir leichter, mit Menschen in Beziehung zu treten, mein Kopf ist weniger voll und, vielleicht am wichtigsten von allem, ich bin mehr „bei mir“. Wenn ich mich bewege, auf die Musik höre, den Groove spüre, springe, mich drehe, hüpfe und in die Vorbereitung zu einer doppelten Pirouette gehe, empfinde ich ein Gefühl der Vollständigkeit. Die Welt sieht anders aus, klingt anders und fühlt sich anders an. Meine Lungen und mein Herz füllen sich mit einem weitenden Atemzug, und ich schwebe, fliege und fühle mich völlig frei.

      Außerdem kann ich in Bewegung am besten denken. Stillsitzen ist mir noch nie leichtgefallen. Ich zappele, zucke und lasse mich von Klängen, Lichtern, Gerüchen und dem Gefühl von Kleidern an meinem Körper ablenken. Wenn mein Körper stillsteht, rast mein Verstand von einem Gedanken zum anderen und schweift in alle Richtungen ab. Bewegung verleiht meinen Gedanken Ordnung und Gestalt – und interessanterweise scheinen verschiedene Tanzarten meine Gedanken unterschiedlich zu ordnen.

      Als Mensch, der nicht gerne sitzt, konnte ich die Schule nicht ausstehen. Ich habe die Schule auch aus anderen Gründen gehasst: Mir fiel der Unterricht schwer – ich hatte wirklich Mühe, die Grundlagen des Lesens und Schreibens zu erlernen; und ich passte nicht ins System. Davon abgesehen hatte ich das große Glück, dass es in meiner weiterführenden Schule eine Tanzgruppe gab. Sie hieß Colour Supplement (eigentlich farbige Magazinbeilage einer Zeitung, Anm. d. Ü.), weil alle Tänzerinnen und Tänzer verschiedenfarbige Ganzkörperanzüge aus Lycra tragen mussten. Meiner war kastanienbraun. Vielleicht war dies der Grund, warum nur sehr wenige Jungen bei Colour Supplement mitgemacht haben – meistens war ich der einzige. Während alle anderen Jungs in meiner Jahrgangsstufe sich zum Fußball umzogen, zwängte ich mich in Lycra-Schläuche und zog Jazztanz-Schuhe an.

      Was für mich völlig selbstverständlich war, fanden andere krass unnatürlich. Ende der 1970er scheuten sich die Leute auch nicht, offen auszusprechen, was sie von dir hielten. Meine Klassenkameraden bildeten da keine Ausnahme. Sie nannten mich queer, warmer Bruder, schwul, Schwuchtel, Tunte und alles, was damals im negativen Sinne mit Homosexualität verbunden war. Mir wurden Sätze nachgerufen und an die Tafel geschrieben wie „Hey, Schwuchtel, wo ist dein Tutu?“. Die unvorstellbaren Beleidigungen begannen mit dem Einsetzen der Pubertät und hörten erst auf, als ich einem besonders gemeinen Fiesling namens Ian eiskalt entgegentrat. Er sorgte mit besonderem Ehrgeiz dafür, dass ich immer der erste war, den man öffentlich beleidigte.

      Als eines Tages ein Paar Ballettschuhe in meiner Schultasche entdeckt wurden, holte Ian zur ultimativen Demütigung aus. Er ließ mir ausrichten, dass er sich mit mir an der Stirnseite des Schulsportplatzes treffen wollte. Dies konnte nur eins bedeuten: Hier kämpften Jungs um Mädchen, Ehre, sozialen Rang und nun, zum ersten Mal an meiner Schule, um Ballettschuhe. Ich konnte nicht ablehnen. Ich schritt den Sportplatz der Länge nach ab und zog eine ganze Schar Schaulustiger hinter mir her. Das sah aus wie in West Side Story. Alle lachten nervös, weil sie schon damit rechneten, dass der Lycraboy gleich ordentlich was abbekäme. Ian machte den ersten Move. Er rannte auf mich zu und sprang mich an. Aber weil ich es gewohnt war, dass Mädchen auf meiner Schulter saßen, konnte ich sein Gewicht halten und ihn schließlich sogar abwerfen. Weil ich es aber nicht gewohnt war, Leute auf den Boden fallen zu lassen, versuchte ich instinktiv, ihn im Fallen zu packen, und er landete in einem provisorischen Schwitzkasten, sodass sein Kopf unter meinem Arm hervorschaute. Ich hatte noch nie jemandem einen Faustschlag verpasst, ja, ich hatte überhaupt noch nie jemanden schlagen wollen, aber diese Gelegenheit war einfach viel zu gut, um sie verstreichen zu lassen. Ich schaffte es, ihm für jedes Jahr, in dem er mir das Leben zur Hölle gemacht hatte, einen Hieb zu verpassen. Vier kräftige Schläge landeten mit sattem Bums mitten auf seiner Nase. Wir gingen auseinander und starrten uns schweigend an. Als ein Tröpfchen Blut aus seiner Nase nach ein paar Minuten zu einem Sturzbach anschwoll, drehte er sich um und ging. Es war mucksmäuschenstill, bis ihm ein Junge aus dem Publikum nachrief: „Wer ist jetzt die Schwuchtel, Ian?“, und alle lachten. In der Schule war dies für mich ein Wendepunkt – jetzt konnte ich nicht nur unbehelligt alle möglichen Tanzschuhe mitbringen, es zeigte mir auch, wie sehr das Tanzen mich körperlich gestärkt hatte. Die Liegestütze, Körperübungen und die Partnerarbeit hatten mich muskulös gemacht. Ian und seine Gang haben mich nie wieder belästigt.

      Rückblickend bin ich froh, dass ich dem Druck, mit dem Tanzen aufzuhören, nicht nachgegeben habe. Es wäre sicher einfacher gewesen, Ballettschuhe gegen Fußballstiefel einzutauschen, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie leer mein Leben dann gewesen wäre. Es macht mich traurig, wie viele Jungs kurz nach dem Einsetzen der Pubertät aufhören zu tanzen. Gesellschaftlicher Druck ist ein wichtiger Teil