Peter Lovatt

Tanz einfach!


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du von etwas ausgehst, kann es für dich nicht gut ausgehen“ halten sollen. Für mich ist diese Geschichte definitiv nicht besonders gut ausgegangen.

      Nach ein paar Monaten bekam ich Wind davon, dass meine Gage nicht auf mein Bankkonto überwiesen wurde, wovon ich selbstverständlich ausgegangen war. Als ich aber fragte, ob ich das Schiff verlassen könne, hieß es, dies sei keine Option. Wenn ich vertragsbrüchig würde, müsste ich nicht nur meinen Rückflug nach Großbritannien, sondern auch den Flug eines Ersatztänzers in die Karibik sowie seine zweiwöchige Probenphase bezahlen, was ich mir natürlich nicht leisten konnte. Damals glaubte ich, mir bliebe nur noch der Ausweg, mich so miserabel zu benehmen, dass man mich vom Schiff werfen würde. Das geschah dann auch postwendend, und damit waren eine weitere Tänzerin und ich fast fünftausend Kilometer von zu Hause gestrandet. Zum Glück kamen mir meine Eltern zu Hilfe. Sie hatten zwar selbst nicht viel Geld, schickten mir aber so viel wie möglich, sodass ich nach Hause fliegen konnte.

      Wieder in London angekommen, wurde mir geraten, die Gesellschaft zu verklagen, damit ich das ausstehende Geld bekäme. Als ich dem Choreographen schrieb und um mein Geld bat, antwortete er, er schulde mir gar nichts und beendete seinen Brief mit „P.S.: Die korrekte Schreibweise ist ,Karibik‘.“ Alle sinnlosen Gefühle aus der Schulzeit brachen wieder über mich herein. Anscheinend war der Brief, den ich geschrieben hatte, voller Rechtschreibfehler und unverständlicher Grammatik gewesen. Ich begriff nicht, wie jemand, der mir so offensichtlich Geld schuldete, so herablassend sein konnte, seinen Brief mit einer Korrektur meiner Rechtschreibung zu beenden.

      Wie sich herausstellte, stammte der Vertrag, den ich unterschrieben hatte, gar nicht von Equity, weshalb Equity mir auch nicht helfen konnte. (Equity ist die Gewerkschaft der darstellenden Künstlerinnen und Künstler; unter anderem schützt sie darstellende Künstler vor schlechter Behandlung durch Arbeitgeber.) Ich wurde von Pontius zu Pilatus geschickt, und es war unklar, bei welchem Gericht ich Klage einreichen sollte. Schließlich gab ich das Geld auf, aber durch diese Erfahrung erkannte ich, dass sich in meinem Leben etwas ändern musste. Ich mochte das Gefühl nicht, dass ich so leicht über den Tisch gezogen werden konnte, und mir wurde klar, dass meine Leseschwierigkeiten Teil des Problems waren.

      Den Sommer über arbeitete ich, um meine ausstehende Miete bezahlen zu können und finanziell wieder ins Gleichgewicht zu kommen. In dieser Zeit lernte ich eine Gruppe sehr gebildeter Menschen kennen, die an angesehenen Universitäten studierten. Die Gruppe bestand aus jungen Frauen und Männern, die sehr wortgewandt, belesen, welterfahren und vor allem äußerst selbstbewusst waren. Sie vermittelten den Eindruck, dass sie alles erreichen konnten, was sie sich vornahmen. Und sie hatten eine tiefgreifende Auswirkung auf mein Leben.

      Frank war das Alphamännchen der Gruppe. Er war Schulsprecher an einer berühmten staatlichen Schule gewesen, und als ich ihn kennenlernte, studierte er Literatur an der Universität Oxford. Seine Eltern waren für meine Verhältnisse unfassbar wohlhabend, und sein Leben war das genaue Gegenteil von meinem. Auch wenn Frank sich in der Welt, in der Politik und in der Kunst auskannte und einen ganzen Tornister voller Qualifikationen hatte, genoss ich seine Gesellschaft und fühlte mich bei ihm wohl. Ich hatte meine Erfolge im Tanz und in der darstellenden Kunst, und er hatte seine infolge einer klassischen Bildung. Wir hatten beide unsere unterschiedlichen Begabungen – bis Frank in meine Welt übergriff. Als er wieder in Oxford war, stellte er eine Aufführung von Abigail’s Party von Mike Leigh auf die Beine und lud mich zur Vorstellung in sein College ein. Ich ging hin in der Erwartung, dass sie nichts taugen würde. Das tat sie aber natürlich doch. Er hatte seine Sache wirklich gut gemacht. Am darauffolgenden Tag verließ ich Oxford stinksauer, fühlte mich hintergangen und gedemütigt. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass ich zwar das Gegenteil von Frank, aber dennoch auf einer Ebene mit ihm war. Sein Regieerfolg warf dies nun über den Haufen.

      Dieser Gedanke verfolgte mich wochenlang und schwirrte in meinem Kopf herum. Es kam mir so vor, als bestünde der einzige echte Unterschied zwischen Franks gelehrten Freunden und mir darin, dass sie ihr Leben mit dem Studium von Büchern und Wörtern verbrachten und ich nicht; ich konnte es nicht. Ich fühlte, dass ich tolle Gespräche über Themen verpasste, in denen ich mich nur deshalb nicht auskannte, weil ich nicht las. Ich hatte zwei Möglichkeiten: Ich konnte entweder der Mensch bleiben, der bei Worten versagt, oder ich konnte lernen, meine Schwächen zu überwinden.

      Mit der Lektüre von Das Kreuz und die Messerhelden von David Wilkerson wärmte ich mich für einen Lese-Marathon auf. Dieses Buch suchte ich mir aus, weil eines der Mädchen in der Gruppe es in wenigen Tagen durchgelesen hatte. Ich beschloss, das Lesen so anzugehen, als würde ich einen neuen Tanz lernen. Ich wusste, ich würde nicht jeden Satz, ja, noch nicht einmal jedes Wort verstehen, aber ich dachte mir, wenn ich in der Geschichte einen Rhythmus oder eine Reihe verschiedener Rhythmen finden könnte, könnte ich mir das Lesen einteilen und einfach „einen Achter-Takt nach dem anderen“ lernen. Als Tänzer wusste ich außerdem, dass Perfektion von unermüdlichem Üben kommt und sich der Erfolg in kleinen Schritten einstellt. Tanzen ist vielschichtig, und es ist möglich, einen neuen Tanz Schicht für Schicht zu erlernen. Bei dieser Methode würde uns ein Tanzlehrer oder eine Choreographin zunächst ein Gefühl für das Stück vermitteln, indem sie uns den Kontext vorgeben: Vielleicht tanzen wir eine Szene aus Romeo und Julia und sollen ein verbotenes Begehren darstellen. Dann lernen wir die Grundstruktur kennen: dass es ein Pas de deux sein soll, ein Tanz für zwei Personen. Anschließend schauen wir uns die Art der Bewegungen an: die Hebungen und Figuren, und wie viel Platz wir im Studio brauchen. Wir sprechen darüber, für wen das Stück gedacht ist und welche Erwartungen das Publikum haben könnte; wir hören uns die Musik an und denken über die Stimmung des Stückes nach. Erst dann erstellen oder erlernen wir eine Choreographie, den eigentlichen Bewegungsablauf – aber wir fangen klein an, indem wir zunächst die Bewegung der Füße lernen, bevor wir die Arme hinzunehmen. All dies ist damit gemeint, wenn wir bei einem Tanz „einen Achter-Takt nach dem anderen“ lernen.

      Also fing ich an zu lesen. Immer wenn es ein Wort gab, das ich nicht aussprechen konnte, erfand ich einfach einen Laut dafür. Kein Mensch stieg mir aufs Dach, wenn ich das englische Wort „yacht“ (gesprochen jaat oder auch joot, Anm. d. Ü.) anders aussprach als mit langem O. Am nächsten kam ich der eigentlichen Aussprache noch, wenn ich dem Wort „act“ (engl. u. a. Theater spielen) einen Y-Laut voranstellte, sodass ein „Jäkt“ herauskam. Die Logik, nach der bestimmte Laute miteinander verbunden werden, erschließt sich mir bis heute nicht. Ich fand, wenn die Anordnung von Buchstaben in Worten willkürlich sein konnte, dann konnte auch der Laut in meinem Kopf willkürlich sein. Immer wenn ein langer Satz mit mehreren Nebensätzen auftauchte, zerlegte ich ihn einfach in Einzelteile, wie ich dies bei einer Tanznummer auch tun würde. Und statt mich in Mehrfachbedeutungen von Wörtern zu verlieren, entschied ich mich für eine einzige und versuchte, die anderen zu ignorieren, solange meine Interpretation nicht offenkundig danebenlag. All dies nahm sehr viel Zeit in Anspruch.

      Viele Jahre später, als ich bereits als Tanzpsychologe arbeitete, machte ich ein Experiment, um herauszufinden, wie Nichttänzer den Contemporary Dance verarbeiten. Dabei fiel mir auf, dass zwischen ihren Schwierigkeiten, in dem Tanz irgendwie einen Sinn zu erkennen, und meinen Schwierigkeiten, Wortfolgen zu verarbeiten, eine Ähnlichkeit bestand. Das Experiment fand nach der „Sprechdenken“-Methode statt. Dabei werden die teilnehmenden Personen gebeten, während sie eine Aufgabe erfüllen – in diesem Fall also ein Tanzstück ansehen –, alles auszusprechen, was ihnen in den Sinn kommt. Die Leute redeten, und während sie sprachen, zeichnete ich diesen Bewusstseinsstrom auf. Ich stellte fest, dass einige Personen einfach beschrieben, was sie sahen, so als beobachteten sie eine Reihe sinnloser Figuren. Andere sprachen über die Unterschiede zwischen ihren eigenen Fähigkeiten und denen der Tänzerinnen und Tänzer. Wieder andere versuchten, dem, was sie sahen, einen Sinn zu geben, indem sie ein Narrativ erfanden. Wenn aber die Bewegungen nicht zu diesem Narrativ passten, änderten sie die Geschichte. Wenn die Teilnehmenden verschiedene potenzielle Narrative ausprobiert hatten, die alle nicht funktionierten, gaben sie manchmal auf und sagten, sie hätten keine Ahnung, worum es in dem Stück ginge. Klar war, dass es „die eine“ oder gar „die richtige“ Lesart für den Tanz nicht gab, und dass Menschen, die nicht tanzen, ebenso große Schwierigkeiten haben, Bewegungsfolgen zu verstehen,