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Was bleibt von kommunikativer Nähe und Distanz?


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angesprochen werden, die aus der von Koch und Oesterreicher vorgenommenen Hierarchisierung von universeller und einzelsprachlicher (bzw. von konzeptioneller und diasystematischer) Variation im Kombinationsmodell erwachsen: Hier geht es zum einen um die Frage nach dem Platz der Standardvarietät im Modell sowie um das damit verbundene Problem der Unterscheidung zwischen diasystematisch ‘markierten’ und diasystematisch ‘nicht-markierten’ Varianten (DEL REY QUESADA). Zum anderen wird das für Kochs und Oesterreichers Theorie zentrale, im Einzelnen aber nicht geklärte Verhältnis zwischen konzeptioneller Variation und Diskurstraditionen zu erörtern sein (RAIBLE, LÓPEZ SERENA). In diesem Kontext erweisen sich auch die Ergebnisse zweier quantitativer Studien als interessant, die der empirischen Überprüfung des von Koch und Oesterreicher beschriebenen Zusammenhangs zwischen außersprachlichen Faktoren der Kommunikationssituation und konzeptioneller Variation gewidmet sind (HESSELBACH zur syntaktischen Komplexität am Beispiel des Spanischen; BÜLOW/STEPHAN zu syntaktischer Komplexität, Abtönung und lexikalischer Vielfalt am Beispiel des Deutschen). Außerdem werfen wir einen Blick auf die Rolle der einzelsprachlichen Nähe/Distanz-Variation im Rahmen der frühneuzeitlichen Standardisierungsgeschichte (MOSER).

      Einen zweiten Schwerpunkt des Bandes stellt das in der neueren Rezeption intensiv diskutierte Verhältnis von ‘Konzeption’ und ‘Medium’ dar (Abschnitt 3), und zwar besonders im Hinblick auf spezifische Verfahren der Zeichenprozessierung und damit zusammenhängende diskurstraditionelle Entwicklungen, die heute im Kontext der digitalen Schriftlichkeit zu beobachten sind. Diesem Problembereich sind in unserem Band sowohl stärker theoretisch ausgerichtete Beiträge gewidmet (DÜRSCHEID, CALARESU/PALERMO, SELIG/SCHMIDT-RIESE) als auch zwei datenbasierte Studien zum Französischen bzw. Italienischen (HAKULINEN/LARJAVAARA; BARBERIO/INGROSSO).

      Bei den folgenden Ausführungen werden wir nicht jeden der im Band versammelten Beiträge systematisch zusammenfassen, sondern ziehen es vor, ausgehend von den skizzierten, eng miteinander verwobenen Problemfeldern punktuell und in variabler Reihung auf die jeweils relevanten Kapitel des Bandes zu verweisen. Wer sich einen Überblick über die Argumentation einzelner Beiträge verschaffen möchte, der sei auf die englischen Résumés verwiesen, die die Autoren den von ihnen verfassten Artikeln vorangestellt haben. Die Anordnung der Kapitel im Band folgt der Unterscheidung zwischen theoretischen Beiträgen und empirischen Fallstudien.

      2 Universelle und einzelsprachliche Variation – Konzeption und Diasystem

      Die Schwierigkeit, die sich aus der in Abbildung 2 dargestellten Verknüpfung von konzeptioneller und diasystematischer Variation ergibt, besteht, wie bereits angedeutet, darin, dass diese Kombination den theoriegeschichtlich nicht unproblematischen Versuch darstellt, die gleichsam hermetisch konzipierte, von lebensweltlichen Bezügen weitgehend abstrahierende Architektur des einzelsprachlichen Varietätenraums mit einem universell-anthropologischen Konzept der Variation in Einklang zu bringen, das den Einsatz sprachlicher Varianten durch deren Rückbindung an ein sprachhandlungsrelevantes Bedingungsgefüge von – gleichermaßen variablen – Merkmalen der Kommunikationssituation zu erklären sucht (cf. dazu die Liste der „Kommunikationsbedingungen“ in Abbildung 1). Zwar basiert natürlich auch Coserius Modell, bei aller Systemorientierung, auf der Annahme einer regelmäßigen Verknüpfung von sprachlichen und außersprachlichen Merkmalen, und gleichermaßen setzt bekanntlich die Labov’sche Soziolinguistik methodisch an der Erfahrungstatsache an, dass Sprache mit den Sprechern und Gebrauchskontexten variiert. Bei Koch und Oesterreicher erscheint sprachliche Variation aber nicht einfach als systemisch angelegtes Korrelat räumlicher, sozialer oder sprechanlassbezogener Unterschiede, und die Autoren begnügen sich auch nicht damit, Variation durch den Abgleich von sprachlichen Formen und außersprachlichen Kontextmerkmalen parametrisierend zu beschreiben. Koch und Oesterreicher transzendieren vielmehr die genannten Ansätze, indem sie die Nähe/Distanz-Variation sprachtheoretisch als universelle pragmatische Kategorie begreifen, nämlich als anthropologisch fundiertes Kontinuum von Situationstypen und deren adäquate Ausgestaltung durch sprachliche Strategien, die sich anordnen lassen zwischen den Polen der kommunikativen ‘Formalität’ und ‘Informalität’ (cf. Kabatek Ms.).

      Für Oesterreicher (1988, 370s.) stellt das konzeptionelle Kontinuum die aus universellen Aspekten der menschlichen Sprechtätigkeit abzuleitende Vorbedingung der „Nicht-Einförmigkeit“ des Sprechens dar – der Möglichkeit also, sich in Abhängigkeit von den raumzeitlichen, sozial-interaktionalen, inhaltsbezogenen, motivational-affektiven oder wissenskontextuellen Merkmalen eines Sprechakts unterschiedlicher „Verbalisierungsprozeßtypen“ zu bedienen und so „eine Vielzahl von Abstufungen hinsichtlich der Sprechhaltungen und -strategien“ zum Ausdruck zu bringen. Der konzeptionelle Möglichkeitsraum zwischen den Polen von kommunikativer Nähe und Distanz reflektiert also die situative Variabilität – sozusagen das aptum – des Sprechens. Sprachtheoretisch ist diese auf außersprachliche Gegebenheiten bezogene Form der Variation insofern fundamental, als sie nicht einzelsprachlich erklärt werden kann, sondern unmittelbar aus universellen Eigenschaften der menschlichen Sprechtätigkeit resultiert; so etwa aus den Universalien der Alterität („[der] Orientierung der Sprechtätigkeit am alter ego“; Oesterreicher 1988, 364), der Semantizität („[der] Zeichennatur der Sprache“; Oesterreicher 1988, 362), der Kreativität („Realisierung eines subjektiven Sinns“; Oesterreicher 1988, 364) oder der Exteriorität des Sprechens („de[m] Umstand, daß Sprache sich in einer Substanz ausdrückt“; Oesterreicher 1988, 361).1 Die konzeptionelle Variation erscheint somit selbst als wesentliche Bestimmung des Sprachbegriffs – Sprechen ist situativ variabel –, ja die Autoren sehen darin nicht weniger als einen Teil des „menschlichen Gesamtleistungsaufbaus“ (Gehlen 1971; Oesterreicher 2010, 41) oder ein anthropologisches Universale. Der sprachtheoretischen Essenzialität dieser in universellen Sprechleistungen begründeten Variation entspricht im Verständnis von Koch und Oesterreicher ein zentraler kommunikativer Wert der konzeptionellen Gestaltung auf Diskursebene. Denn als übereinzelsprachlich gegebene Ur-Dimension der inneren Sprachverschiedenheit eröffnet das Nähe/Distanz-Kontinuum erst das pragma-semiotische Potenzial einer „aus außersprachlichen Sinnbezügen resultierende[n] Variabilität im Sprachlichen“ und erlaubt so „auf der Ebene des Diskurses […] [eine] fast grenzenlose Offenheit der sprachlichen Gestaltungen und der ihnen zugrundeliegenden Kommunikationskonzeptionen“ (Oesterreicher 1988, 369). Die Sprecher verfügen also über die Möglichkeit, im Diskurs auf aktuell relevante außersprachliche Gegebenheiten zu reagieren und die sprachlich zu vermittelnde Botschaft je nach Kontext und individueller Finalität des Sprechakts in spezifischer konzeptioneller Ausformung zu verpacken. Auf Diskursebene stellt sich das konzeptionelle Profil einer sprachlichen Äußerung mithin als direkter, heuristisch entsprechend aufschlussreicher Reflex ihrer pragmatischen Einbettung dar.

      Angesichts dieser philosophischen Fundierung des Variationsbegriffs sollte klar werden, dass die von Koch und Oesterreicher vorgeschlagene Parametrisierung des konzeptionellen Kontinuums anhand von „Kommunikationsbedingungen“ und damit korrelierten „Versprachlichungsstrategien“ nicht in erster Linie dem Zweck der datenbezogenen Operationalisierung dient. Sie steht also nicht im Dienst einer methodischen Konkretisierung, die es erlauben würde, die Form sprachlicher Äußerungen auf der Grundlage eines so oder so ausgeprägten außersprachlichen Merkmalsrasters, geschweige denn eines isolierten Parameterwerts, exakt vorherzubestimmen (cf. Winter-Froemel 2020, 87). Angesichts der Komplexität, die den konzeptionellen Raum zwischen Nähe und Distanz ausmacht – es handelt sich um „ein mehrdimensionales Kontinuum von Kommunikationsbedingungen, Kommunikationshaltungen und Kommunikationsmodi“ (Oesterreicher 1988, 371; Kursivierung im Original) –, ist die von Koch und Oesterreicher bewusst in Form einer offenen Liste gehaltene Parametrisierung („etc.“) vielmehr als Exemplifikation zu verstehen, die dazu anregen soll, den Variantengebrauch in individuellen Diskursexemplaren unter Berücksichtigung der jeweils relevanten „außersprachlichen Sinnbezüge[n]“ zu untersuchen und dabei die Prinzipien der konzeptionellen Gestaltung im komplexen Zusammenspiel von situativer Einbettung und sprachlicher Form begreifbar zu machen. Denn ebenso wie das universelle Nähe/Distanz-Kontinuum für die Autoren mehr ist als nur die Summe der außersprachlichen Parameter, die an dieser universellen pragmatischen Kategorie partizipieren, kann auch die spezifische Konfiguration sprachlicher Varianten im Diskurs nur unter der Voraussetzung sinnvoll erklärt werden, dass das individuelle Diskursgeschehen