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Was bleibt von kommunikativer Nähe und Distanz?


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Deutschen, Französischen oder Englischen konstituiert (cf. Oesterreicher/Koch 2016, 44s.). Die entscheidende Rolle, die dem Standardisierungsprozess bei der Festlegung varietätenlinguistischer Indizierungen zukommt, illustriert im vorliegenden Band Ann-Marie MOSER (i.d.B) am Beispiel der doppelten Negation im Deutschen. Es handelt sich dabei um eine morpho-syntaktische Variante, die auf primärdialektaler Ebene nicht nur flächendeckend belegt ist, sondern sogar weitestgehend generalisiert erscheint. Aus der sich herausbildenden Distanzvarietät ist die doppelte Negation aber bereits früh – noch vor der expliziten Kodifizierung der neuhochdeutschen Schriftnorm im 18. und 19. Jahrhundert – verdrängt worden, möglicherweise unter dem Einfluss der lateinischen Grammatik. Bei der einfachen Negation scheint es sich somit in der Geschichte des Deutschen um eine ursprünglich rein schriftsprachliche, prestigebesetzte Variante zu handeln, die heute freilich als Folge der Reorganisation des Nähebereichs auch in der nicht-primärdialektalen Mündlichkeit (z.B. im „gesprochenen Standarddeutsch“ oder in den Regiolekten) als Normalform gilt, wohingegen die doppelte Negation in der Gegenwartssprache diatopisch (oder sekundär diastratisch) markiert ist, also der Dimension 4 (oder 3) im Kombinationsmodell zuzuordnen wäre.

      Wir können hier nicht im Detail die komplexe Diskussion nachzeichnen, die insbesondere die von Koch und Oesterreicher vollzogene Aufspaltung der Nähe/Distanz-Dimension in eine universelle (1a) und eine einzelsprachliche Ebene (1b) der konzeptionellen Variation nach sich gezogen hat. Die Notwendigkeit dieses Schritts ergibt sich für die Autoren aus der Beobachtung, dass es, zumindest in bestimmten Sprachen, historisch-kontingente Merkmale gebe, deren Ausprägung sich nach den für die konzeptionelle Variation maßgeblichen Kommunikationsbedingungen der Nähe bzw. Distanz richte, die aber lediglich in einer bestimmten Sprachgemeinschaft, aufgrund von historisch-sozietärer Traditionsbildung, zur Verfügung stehen und nicht übereinzelsprachlich vorkommen (also anders als etwa Anakoluthe, Dislokationen, Zögerungsphänomene oder Diskursmarker, die als universelle Nähe/Distanz-Merkmale auf der Ebene 1a verortet sind). Es handle sich mithin um einzelsprachspezifische Merkmale der kommunikativen Nähe und Distanz, deren Variation die synchrone Konsequenz des historischen Prozesses der Indizierung bestimmter Formen als standardsprachlich ist; in der (standardfernen) Nähesprache haben sich dagegen komplementäre Varianten etabliert bzw. erhalten. Besonders reich fällt das Inventar solcher Merkmale in einem tendenziell diglossisch angelegten Varietätenraum wie dem des Französischen aus: Aufgrund eines rigorosen Standardisierungsprozesses, der die (Schrift-)Norm des 17. Jahrhunderts vor allem in der Morphosyntax bis heute weitgehend bewahrt hat, liegt hier eine Reihe von binären Variablen vor, deren Realisierung nach Koch und Oesterreicher von der Nähe- bzw. Distanzsprachlichkeit (vom Formalitätsgrad) einer Äußerung abhängt (cf. etwa die schon angesprochene Realisierung vs. Absenz von ne bei der Negation, die Verfügbarkeit vs. Nicht-Verfügbarkeit des passé simple, verschiedene Fragesatztypen, morphologische Varianten wie ça vs. cela, on vs. nous als klitisches Pronomen der 1. Person Plural usw.; cf. im Einzelnen Koch/Oesterreicher 2011, 164–182). Aus der historischen Kontingenz solcher Merkmale folgt für die Autoren, dass die entsprechende Varietätendimension (1b in Abbildung 2) nicht in jeder Sprache ausgelastet sein muss. So fällt der Befund etwa für das Spanische, das sich durch eine vergleichsweise liberale, für nähesprachliche Innovationen offene (also laufend re-standardisierte) Norm auszeichnet, sehr viel magerer aus als für die vergleichsweise konservativen Schriftstandards des Französischen oder Italienischen (cf. Koch/Oesterreicher 2011, 235 und 264–267).

      Kontrovers wurde mit Bezug auf diesen Vorschlag vor allem die Frage diskutiert, ob nicht die konzeptionelle Variation (mindestens auf der einzelsprachlichen Ebene 1b) eine redundante Doppelung (mindestens von Teilen) desjenigen Phänomenbereichs darstellt, der bei Coseriu unter die Diaphasik fällt (cf. etwa Albrecht 1986/1990; Kiesler 1995; Dufter/Stark 2003). Vor dem Hintergrund der oben angesprochenen theoriegeschichtlichen Erwägungen erscheint ja die Vermutung nicht abwegig, dass das, was Coseriu (1969) strukturalistisch konzeptualisiert hat als einzelsprachliches Subsystem von Varianten, die für die Sprecher konventionell mit einer bestimmten Registermarkierung verbunden sind (etwa im Französischen: vulgaire, populaire, familier, courant, soutenu), in einer anderen Sichtweise dem entspricht, was Koch und Oesterreicher „kommunikativ-funktional“ an Situations- oder Sprachhandlungstypen im konzeptionellen Kontinuum rückbinden (cf. Selig 2011, 118s.). In beiden Perspektivierungen scheint jedenfalls die Situationsangemessenheit der zur Auswahl stehenden Varianten das entscheidende Realisierungskriterium zu sein.13

      Für Koch und Oesterreicher besteht gleichwohl ein prinzipieller Unterschied zwischen einzelsprachlicher Nähe/Distanz-Variation und einzelsprachlicher Diaphasik (die die Autoren, anders als Coseriu, im Wesentlichen auf den lexikalischen Bereich beschränken; cf. Selig 2011, 119). Mit der konzeptionellen Variation geht für die Autoren nämlich, obschon sie einzelsprachlich-kontingente Phänomene umfasst, keine ‘diasystematische Markierung’ einher (cf. DEL REY QUESADA i.d.B.): In Situationen der kommunikativen Nähe sei es also schlicht normal und funktional angemessen, ja sogar alternativlos, sich nähesprachlicher Varianten wie fr. ça, pas, on, passé composé14 usw. zu bedienen; distanzsprachliche Varianten wie fr. cela, ne … pas, nous oder das passé simple seien dagegen im Nähediskurs per Definition ausgeschlossen (es sei denn, eine Distanzvariante wird eingesetzt, um damit einen entsprechenden kommunikativen Effekt zu erzielen, der dann aber eben auch distanzsprachlich und in dieser Funktion seinerseits alternativlos ist). Im Bereich der Diaphasik hätten die Sprecher dagegen grundsätzlich die Wahl zwischen verschiedenen (lexikalischen) Bezeichnungsvarianten, „die mit bestimmten Bewertungen in Sprechsituationen korrespondieren“ (Koch/Oesterreicher 2011, 15).

      In dieser Logik wäre in einer (phonisch oder graphisch realisierten) Äußerung wie dt. Ich hab deine Nachricht bekommen von der Kombination einer nähesprachlichen (im Distanzdiskurs inadäquaten) Variante hab und einer diaphasisch neutralen Variante bekommen (als Alternative zu stilistisch niedrig markiertem gekriegt oder stilistisch hoch markiertem erhalten) auszugehen. Koch und Oesterreicher argumentieren in diesem Zusammenhang, dass die konkrete Markierungszuweisung im Bereich der Diaphasik erst durch das konzeptionelle Profil einer Äußerung festgelegt sei: Denn in einer konzeptionell mündlichen Äußerung des Typs Ich hab deine Nachricht _______ erschiene die diaphasische Variante erhalten stilistisch überzogen; in einer konzeptionell schriftlichen Äußerung – mit nicht-apokopierter Form des Auxiliars – wäre das Wort dagegen angemessen oder zumindest weniger hoch markiert (Ich habe deine Nachricht erhalten). Worum es den Autoren hier geht, ist also die oben zitierte Annahme, dass konzeptionelle Varianten nicht mit wertenden Registermarkierungen verbunden sind (hab ist demnach im Nähediskurs völlig normal und alternativlos, für habe gilt dies analog im Distanzdiskurs). Diaphasische Varianten seien dagegen grundsätzlich – wenn auch in Abhängigkeit vom Nähe/Distanzprofil des Kontexts (cf. Koch 1999, 156s.) – mit einer diasystematischen Markierung versehen, der ja traditionell auch die Lexikographie Rechnung trägt (cf. etwa auch substantivische Bezeichnungsvarianten wie Personenkraftfahrzeug – Wagen – Auto – Karre).

      Man mag diese Unterscheidungen für allzu konstruiert und anwendungsfern halten, zumal sie es nur auf Umwegen erlauben, offenkundige ‘konzeptionell-diaphasische’ Kontextsolidaritäten zu erklären, deren idiomatische Relevanz wohl jeder kompetente Sprecher intuitiv bestätigen würde: So wirken die Kombinationen hab gekriegt und habe erhalten zweifellos natürlicher und akzeptabler als die umgekehrten Verbindungen hab erhalten bzw. habe gekriegt. Koch und Oesterreicher führen dennoch eine Reihe von Argumenten an, mit denen sie ihre Unterscheidung und Hierarchisierung von einzelsprachlicher Nähe/Distanz-Variation und Diaphasik theoretisch abstützen. Ja die Beobachtung, dass in Distanzkontexten (habe) diaphasisch höher markierte Formen (erhalten) angemessener erscheinen als diaphasisch niedrig markierte (gekriegt), dient den Autoren sogar als Kernargument für die Annahme, dass sich die diasystematischen Markierungsverteilungen, und damit die gesamte einzelsprachliche Architektur, in letzter Instanz funktional an den Parametern der Nähe/Distanz-Dimension ausrichteten und dass mithin die konzeptionelle Ebene als „Endpunkt der Varietätenkette“ anzunehmen sei (Koch/Oesterreicher 2011, 17; cf. zu dieser Argumentation auch Koch 1999, 156–160). Koch und Oesterreicher erkennen aber auch die weitgehende