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Was bleibt von kommunikativer Nähe und Distanz?


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beschriebenen Tendenzen der konzeptionellen Variation in der statistischen Gesamtschau als empirisch valide; vom diskurstraditionellen Prototyp der variationellen Gestaltung abweichende Einzelbefunde fallen insgesamt offenbar nicht ins Gewicht.

      Es lässt sich bis hierher zusammenfassen, dass Nähe und Distanz für Koch und Oesterreicher mehr sind als die Summe der einzelnen Faktoren, die sie zur Illustration dieser universellen pragmatischen Basiskategorie exemplarisch aufrufen. Man mag es bedauern, dass sich das konzeptionelle Kontinuum – als in universellen Prinzipien sprachlicher Interaktion fundierte Typologie der Variation – weder rein linguistisch begreifen noch dahingehend operationalisieren lässt, dass auf der Basis simpler Korrelationsannahmen die variationelle Ausgestaltung von Diskursen exakt vorherbestimmt werden könnte. Eine derartige Methodik wird der Komplexität und Individualität des im Diskurs relevanten situationalen und volitionalen Bedingungsgefüges schlichtweg nicht gerecht. Gleichwohl sprechen aktuelle Studien – und darunter gerade auch solche, die mit großen Datenmengen operieren – recht eindeutig für die empirische Relevanz des Nähe/Distanz-Modells (cf. dazu von germanistischer Seite auch den von Ágel/Hennig 2010 herausgegebenen Band). Seine Anwendung erweist sich lediglich dann als problematisch, wenn versucht wird, auf der Basis eines geschlossenen Sets von als starr verstandenen Kommunikationsbedingungen die konzeptionelle Gestaltung von Diskursen gewissermaßen blind vorherzusagen (cf. Dufter/Stark 2003; Androutsopoulos 2007). Varietätenlinguistisch widersprüchliche Einzelbefunde werden dann gerne zum Anlass genommen, um das Modell per se in Frage zu stellen. Wie wir gezeigt haben, verbietet es aber die für Koch und Oesterreicher fundamentale sprachtheoretische Unterscheidung zwischen den drei Coseriu-Ebenen, den im Nähe/Distanz-Modell für die universelle Ebene postulierten Zusammenhang zwischen Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien methodisch unvermittelt auf die Ebene der Einzeldiskurse anzuwenden – ohne dass dabei nämlich die variationellen Einzeldaten vor dem Hintergrund ihrer jeweils erst individuell zu begreifenden Pragmatik hinreichend gewürdigt würden. Wie oben am Beispiel des Bewerbungsgesprächs angedeutet wurde, gelten für bestimmte kommunikative Gattungen oder Situationstypen gewiss bestimmte konzeptionelle Erwartungshaltungen (cf. dazu auch den Begriff des ‘Situationsentwurfs’, sp. esbozo de situación, bei SELIG/SCHMIDT-RIESE i.d.B.), die auf der historischen Ebene der Diskurstraditionen als normative Blaupause für die Gestaltung individueller Diskursexemplare dienen. Im Diskurs können aber diverse diskurstraditionelle Muster in schier unendlicher Variabilität und Vielschichtigkeit miteinander kombiniert und kreativ weiterentwickelt werden (cf. Kabatek 2015b), je nach kommunikativer Finalität und situativer Einbettung des aktuellen Diskursgeschehens. Bei aller – in Form von universellen Tendenzen beschreibbarer – Situationstypik sprachlichen Verhaltens und bei aller normativer Relevanz der im sprachlichen Sozialisationsprozess erworbenen, historisch konventionalisierten Kommunikationsroutinen kann die konkrete Ausgestaltung einzelner sprachlicher Handlungsvollzüge eben nur sehr bedingt kalkuliert werden. Und dies gilt letztlich auch für Phänomene der grammatischen Kovariation, die, obschon es sich dabei um weitgehend konventionalisierte, formal beschreibbare Tendenzen der morpho-syntaktischen oder morpho-phonologischen Kontextsolidarität handelt, eben doch auch in Abhängigkeit von den „außersprachlichen Sinnbezügen“ des Diskurses stehen und nicht zuletzt für die Sprechenden mit bestimmten varietätenlinguistischen Indizierungen verbunden sind.

      Wie lässt sich nun aber das universelle, multidimensionale Kontinuum von kommunikativer Nähe und Distanz mit Coserius einzelsprachlichen Dia-Dimensionen verbinden? – Koch und Oesterreicher begründen die im Kombinationsmodell vorgenommene Hierarchisierung von konzeptioneller und diasystematischer Variation unter anderem damit, dass Elemente aus allen drei Dia-Dimensionen sekundär im Sinne der konzeptionellen Variationsparameter funktionalisiert werden könnten. Wie die (nicht dem einzelsprachlichen Diasystem zugerechneten) Strukturen der konzeptionellen Mündlichkeit träten also auch dialektale oder diastratisch/diaphasisch9 niedrig markierte Formen bevorzugt unter den außersprachlichen Bedingungen der kommunikativen Nähe auf. Diasystematisch markierte Varianten könnten deshalb von den Sprechenden eingesetzt werden, um kommunikative Nähe oder Distanz zu signalisieren. Außerdem richteten sich die drei diasystematischen Dimensionen „in ihrer inneren Markiertheitsabstufung“ nach dem Nähe/Distanz-Kontinuum aus (Koch/Oesterreicher 2011, 17): Während also etwa ein Lexem wie dt. bekommen unter den Kontextbedingungen der kommunikativen Distanz diaphasisch neutral erscheine, sei es im Nähediskurs, wo üblicherweise die Variante kriegen verwendet wird, vergleichsweise hoch markiert (Oesterreicher/Koch 2016, 48s.). Die konzeptionelle Variation habe somit als „eigentlicher Endpunkt der Varietätenkette“ zu gelten (Koch/Oesterreicher 2011, 17): Erst durch die Nähe/Distanz-Parameter sei nämlich festgelegt, welche diasystematischen Varianten situationsangemessen sind und welche nicht. Entsprechend sei es im Nähediskurs eher erwartbar, dass etwa dialektale Formen eingesetzt werden, als im per Definition standardaffinen Distanzdiskurs.10

      Ein Aspekt, der in der Rezeption des Kombinationsmodells für Diskussionen gesorgt hat, ist die Frage nach der Verortung der Standardvarietät (cf. Krefeld 2011; Dufter 2018, 67–69). Für Coseriu, wie auch für Koch und Oesterreicher, stellt bekanntlich die Existenz einer Standardvarietät die Voraussetzung dafür dar, dass ein einzelsprachliches Diasystem sich überhaupt konstituiert. Nur mit Bezug auf eine Standardsprache (eine ‘historische Einzelsprache’) kann also von einem ‘Diasystem’, einer ‘Architektur’ oder einem ‘Varietätenraum’ die Rede sein (cf. zuletzt Fesenmeier 2020, 612–614). Aus dieser Bedingung – die die Pertinenz der im Kombinationsmodell verdichteten Annahmen gewiss auf eine überschaubare Gruppe von Kultursprachen reduziert (Dufter 2018, 68)11 – ist klar herauszulesen, dass Koch und Oesterreicher die Standardnorm als exemplarische, institutionalisierte Distanzvarietät begreifen, nämlich als das Resultat eines historischen Prozesses, in dem sich innerhalb einer Sprachgemeinschaft eine überregionale Referenznorm herausgebildet hat, die für die Kommunikation in distanzsprachlichen Diskursdomänen maßgeblich ist. Aus diesem Grund verorten die Autoren die „präskriptive Norm“ dezidiert „im rechten Bereich“ ihres Kombinationsmodells (Koch/Oesterreicher 2011, 19). Zwar mag man unter dem Begriff der Standardsprache in anderer Perspektivierung auch nicht (oder nur schwach) räumlich markierte Formen der gesprochenen Sprache verstehen, die in der Folge umfassender Alphabetisierung die traditionell in der Mündlichkeit gebrauchten primären Dialekte verdrängt haben (cf. Krefeld 2011, 104; DEL REY QUESADA i.d.B.). Dieser weitere Begriff des Standards, den etwa Termini wie „gesprochenes Standarddeutsch“ reflektieren (cf. Schneider 2011), entspricht aber nicht der von Koch und Oesterreicher gemeinten „präskriptive[n] Norm“: Für sie umfasst die Standardvarietät per Definition all jene Varianten einer historischen Einzelsprache, die in Situationen der kommunikativen Distanz verwendet werden können, die also – von der Konzeption her – schriftsprachlich sind (kanonische Syntax usw.) und die – von ihrer diasystematischen Markierung her – als hochsprachlich einzuordnen sind (zu einem anderen Vorschlag cf. DEL REY QUESADA i.d.B.). In Alltagssituationen mündlich realisierte Standardsprache (z.B. „gesprochenes Standarddeutsch“) mag so gesehen zwar diasystematisch (und vor allem diatopisch) ‘unmarkiert’ sein; gleichwohl wird sie von ihrer Konzeption her kaum dem Prototypen des elaborierten Distanzsprechens gerecht werden, solange es sich eben um gesprochene Sprache handelt, die ‘online’ produziert wird (cf. Auer 2000; Schneider 2011) und durch entsprechende Versprachlichungsstrategien charakterisiert ist (dem Idealtyp des Distanzsprechens kann im phonischen Medium für Koch und Oesterreicher lediglich ein mündlich vorgetragener, aber schriftlich konzipierter Text entsprechen – es sei denn, jemand wäre tatsächlich in der Lage, sich aus dem Stegreif mündlich ‘wie gedruckt’ zu äußern). Ein derartiger, dem historischen Prozess der Herausbildung einer exemplarischen Distanzvarietät Rechnung tragender Standardbegriff schließt im Übrigen keineswegs aus, dass die präskriptive Norm auch diasystematisch neutrale Elemente umfasst, die im alltäglichen, mündlichen Sprachgebrauch genauso gut vorkommen können wie in der Schriftlichkeit (cf. Oesterreicher/Koch 2016, 43s.). Allein schon im Bereich des Lexikons erscheint dies völlig evident, und auch auf anderen sprachlichen Strukturebenen dürfte es zahlreiche Merkmale geben, die in einer Einzelsprache generelle Gültigkeit besitzen und die deshalb weder in der Nähe- noch in der Distanzkommunikation in irgendeiner Weise auffällig erscheinen (cf. Schneider 2011, 172).12

      Es ist also der historische Prozess der Standardisierung – der Festlegung auf