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Was bleibt von kommunikativer Nähe und Distanz?


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und sie räumen überdies ein, dass es „in der Praxis“ keineswegs „immer leicht [ist], konkrete Einzelphänomene mit absoluter Sicherheit entweder der Diaphasik oder der Nähe-Distanz-Variation zuzuweisen“ (Koch 1999, 159).

      Nach all diesen Ausführungen kann kein Zweifel daran bestehen, dass es sich bei der von Koch und Oesterreicher vorgeschlagenen vierdimensionalen Modellierung um einen systemorientierten Ansatz handelt (Berruto 2017; Gadet 2018, 54), dessen Ziel es ist, die Prinzipien sprachlicher Variation auf einem hohen Abstraktionsniveau zu erfassen und eine theoretisch fundierte begriffliche Ordnung für die Beschreibung der variationellen Vielgestaltigkeit des Sprechens und der Sprachen anzubieten. Dass ein Modell, das einen derart umfassenden Erklärungsansatz verfolgt, sich grundsätzlich als attraktiv für die verschiedensten Rezeptions- und Anwendungsperspektiven erweist, ist naheliegend und wird durch die Rezeptionsgeschichte in eindrucksvoller Weise bestätigt. Es kann aber auch nicht verwundern, dass es im Zuge der Aneignung des Modells durch unterschiedliche Schulen und Subdisziplinen zu divergierenden Auslegungen, zu epistemisch-methodologischen Verwerfungen und zu – berechtigter wie unberechtigter – Kritik gekommen ist. Zwar liegt auf der Hand, dass die Beschreibungsadäquatheit einer varietätenlinguistischen Theorie empirisch nachgewiesen werden muss, und so ist es auch prinzipiell zu begrüßen, wenn unterschiedliche Forschungstraditionen ihre methodische Expertise in die Diskussion einbringen. Wir meinen aber, dass – bei aller Kritik, die im Detail geübt werden kann und soll – grundsätzlich anzuerkennen ist, dass Kochs und Oesterreichers Modellierung auf einer soliden sprachtheoretischen Basis aufruht, deren varietätenlinguistische Relevanz sie mit überzeugenden Argumenten darlegt (Oesterreicher 1988) und die sie konsequent zu Ende denkt. Wie wir gezeigt haben, erweisen sich viele der in der Rezeptionsgeschichte anhand von Einzelbefunden vorgebrachten Einwände als ungerechtfertigt, weil die Kritik verkennt, dass das Nähe/Distanz-Modell keine selbsterklärende methodische Anleitung zur variationellen Analyse von Einzeldiskursen ist und sein will. Das Ziel des Modells besteht vielmehr darin, einen sprachtheoretisch fundierten, universell-anthropologischen Erklärungshorizont für die sich im Diskurs in unendlicher Variabilität manifestierende „Nicht-Einförmigkeit“ der menschlichen Sprechtätigkeit und deren außersprachliche Voraussetzungen zu formulieren. Wie dieses begriffliche Gerüst auf die Untersuchung von Korpusdaten konkret angewendet werden kann, lassen die Autoren offen. Aus entsprechenden Stellungnahmen (cf. etwa die oben zitierten Passagen) ist aber herauszulesen, dass Koch und Oesterreicher hier wohl keine ausgeklügelte (und schon gar keine automatisierte) Untersuchungsmethodik im Sinn hatten. Sie überließen es vielmehr dem hermeneutischen Gespür der Forschenden – man möchte sagen: dem gesunden philologischen Menschenverstand –, die Pragmatik variationeller Befunde im Diskurs zu begreifen und diese mithilfe der durch ihre Theorie an die Hand gegebenen begrifflichen Systematik linguistisch sinnvoll einzuordnen.

      Der wiederholt geäußerte Vorwurf, das Modell von Koch und Oesterreicher sei eine reduktionistische Setzung, die einer empirisch basierten Methodik der objektiven Beschreibung sprachlicher Variation nicht standhalte oder nachgerade im Wege stehe (cf. Dufter/Stark 2003; Dufter 2018), scheint uns bei genauerer Betrachtung nicht haltbar zu sein – zumal Koch und Oesterreicher zu diesem Vorwurf selbst Stellung nahmen und ihn mit schlüssigen Argumenten entkräftet haben. Dass empirische Forschung notwendig ist, um die im Nähe/Distanz-Modell verdichtete variationstheoretische Axiomatik zu fundieren, zu präzisieren und, wo dies nötig erscheint, auch zu hinterfragen, versteht sich wie gesagt von selbst. Allerdings sollte man die Autoren dabei beim Wort nehmen und das Modell und die ihm zugrundeliegenden Basiskonzepte (wie etwa den Begriff des Standards) nicht stillschweigend nach Maßgabe eigener Interessen uminterpretieren. Aufgrund seines anspruchsvollen theoretischen Fundaments und seiner methodologischen Offenheit scheint uns das Nähe/Distanz-Modell jedenfalls eher dazu anzuregen, die sprachliche Variation in unterschiedlichen historischen Kontexten auf empirischer Basis zu untersuchen, als dass es derartige Bemühungen blockieren oder gar verhindern würde. Dies bestätigt nicht zuletzt die Mehrheit der in diesem Band versammelten Beiträge, und zwar unabhängig davon, ob sie eher theoretisch (DÜRSCHEID, CALARESU/PALERMO, RAIBLE, SELIG/SCHMIDT-RIESE) oder empirisch ausgerichtet sind (MOSER, BÜLOW/STEPHAN, HESSELBACH). Im Übrigen erweist sich die Theorie der kommunikativen Nähe und Distanz aufgrund ihres universellen Anspruchs und ihrer methodischen Flexibilität gerade in Bezug auf sprachhistorische Fragestellungen, die ja empirisch immer nur approximativ, auf bisweilen stark reduzierter Datengrundlage bearbeitet werden können, als überaus hilfreiches und erklärungsmächtiges Instrumentarium.

      Auch scheint uns die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung des Nähe/Distanz-Modells weniger in den auf das einzelsprachliche Diasystem bezogenen Überlegungen zu bestehen, die sich ja im Wesentlichen auf bereits von Coseriu vorgeschlagene Konzeptualisierungen stützen und die in der Tat bisweilen den Eindruck einer allzu ‘geometrisch’ inspirierten Konstruktion vermitteln (cf. Dufter 2018, 64 und 67). Ungleich wichtiger, ja in seinem Entstehungskontext geradezu revolutionär, erscheint aber doch das, was man als das Nähe/Distanz-Modell im engeren Sinn bezeichnen möchte, also die im 1985er-Aufsatz dargelegte, durch Oesterreicher (1988) erweiterte Theorie der konzeptionellen Variation zwischen den Polen von kommunikativer Nähe und Distanz. Was in der Labov’schen Tradition als zunächst für sich stehendes Inventar von Kontextfaktoren daherkommt, die denn auch methodisch mehr oder weniger unvermittelt mit den sprachlichen Daten relationiert werden können, leiten Koch und Oesterreicher aus einem universellen, anthropologisch fundierten Variationsbegriff ab. Für sie geht es letztlich darum, das Gesamtphänomen der Variation sprachtheoretisch zu erklären. Deshalb sah Wulf Oesterreicher die Gefahr des „Erkenntnisverzicht[s]“ (s.o.), wenn die varietätenlinguistische Arbeit sich in der mehr oder weniger konstatierenden Beschreibung sprachlicher Daten und deren außersprachlicher Begleitumstände erschöpft, dabei aber die hinter der Variation stehenden historischen Regeln und universellen Prinzipien außer Acht lässt. Koch und Oesterreicher verfolgten hingegen das Ziel, das im Diskurs wirksame Zusammenspiel von Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien im Lichte eines übergeordneten, universellen Sprachbegriffs zu reflektieren und die historisch ausdifferenzierten Regeln der einzelsprachlichen Variation in den theoretischen Horizont einer allgemeinen, anthropologisch fundierten Kultursemiotik einzuordnen (cf. dazu auch Oesterreicher 2009).

      3 Konzeption und Medium – und die Rolle der Diskurstraditionen

      Die zunehmende Digitalisierung und die globale Vernetzung führten in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur zur Diversifizierung der kommunikativen Praktiken und einer regelrechten Multimodalität der Kommunikationskanäle, vor allem seitdem die Technologien und Anwendungen des Web 2.01 die Interaktion zwischen Internetnutzern, Inhalten und Daten ermöglichten. Die Emergenz der sogenannten ‘Neuen Medien’ hatte auch die Erweiterung des Spektrums linguistischer Untersuchungsfelder und Fragestellungen zur Folge. Dadurch wurde unter anderem die Medienlinguistik auf den Plan gerufen, deren Fokus sich programmatisch auf die Untersuchung medialer Aspekte der sprachlichen Kommunikation richtet.2 Im Rahmen medienlinguistischer Beschreibungen computervermittelter Kommunikation (CMC) erfolgte eine kritische Auseinandersetzung mit etablierten varietätenlinguistischen Konzepten, wobei dem Nähe/Distanz-Modell ein zweifaches Schicksal widerfuhr. Einerseits wurde es für die Untersuchung der CMC vielfach herangezogen. Andererseits führte aber gerade der Begriff des ‘Mediums’ (cf. Abbildung 1), den Koch und Oesterreicher anknüpfend an Söll (1985) ausschließlich auf die materielle Realisierung sprachlicher Äußerungen, mit einer strikten Dichotomie zwischen Graphie und Phonie, bezogen (Koch/Oesterreicher 1985, 17 und 2011, 3), zu teils heftiger Kritik. Der dabei erhobene Vorwurf der ‘Medienvergessenheit’ oder ‘Medienindifferenz’ (cf. auch Bittner 2003; Loos 2012) erscheint jedoch in zweierlei Hinsicht ungerechtfertigt: Denn zum einen griff die linguistische Internetforschung mit Koch/Oesterreicher (1985) auf einen Ansatz zurück, der „noch vor dem Siegeszug der Neuen Medien konzipiert wurde“ (Androutsopoulos 2007, 79) und dessen Instrumentarium diese somit noch nicht berücksichtigen konnte (cf. hierzu auch Dürscheid 2016, 357).3 Zum anderen haben Koch und Oesterreicher die Diversifizierung der Medienlandschaft in der überarbeiteten Auflage der Gesprochenen Sprache in der Romania (2011) sehr wohl zur Kenntnis genommen und haben auch begründet, inwiefern ihr Ansatz sich für die linguistische Beschreibung der CMC eignet. Entscheidend ist dabei, dass ihr dichotomes Konzept des ‘Mediums’, das sich ausschließlich