Gnade der Geburt
Niemand kann sich an das Wichtigste im Leben erinnern, und das ist nun einmal die Geburt, denn ohne sie wäre man nicht am Leben. Daher weiß ich, wie alle anderen Menschen auch, die Umstände meiner Geburt nur aus den liebevollen Erzählungen meiner Mutter. Sie erinnerte sich, dass sie, in einer Ambulanz liegend, bei großer Hitze – es war der 22. September 1945 – ins Goldene Kreuz gefahren wurde, und die Trümmerberge, an denen die Rettung vorbeifuhr, kontrastierten mit dem strahlend blauen Himmel. Gegen neun Uhr abends war ich dann da. Es ging soweit alles glatt. Meine Mutter war mit 43 Jahren eine Spätgebärende, die Sache war also nicht so einfach für sie.
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Frühjahr 1946: Meine Mutter zog es mit mir in den Prater.
Ich kam mit sieben Monaten etwas zu früh auf die Welt. Also kam ich zur großen Sorge meiner Eltern zunächst in den Brutkasten. Am folgenden Tag kam die Schwester mit mehreren Säuglingen im Arm in das Zimmer. „Jessas, jetzt hab i des Zwutschkerl aa mitbracht. Aber wissens was, wenns scho da is, versuch mas.“ Sie legte mich an die Brust meiner Mutter, und ich begann sofort, daran zu nuckeln. Die Schwester tat einen Luftsprung. „Jetzt hammas g’schafft, jetzt samma übern Berg!“ Als meine Mutter mit mir nach Hause fuhr, wieder an Trümmerbergen vorbei, war das Wetter gekippt. Es schüttete, war kalt. Der heiße Sommer hatte sich verabschiedet, der Herbst war da, und ein eiskalter Winter stand bevor. Ursprünglich hatte meine Mutter gedacht, sie habe einen Tumor. Groß war die Überraschung und sehr groß war die Freude, als sich herausstellte: Der Tumor war ich!
Noch in den letzten Kriegstagen, als sich meine Mutter ihrer Schwangerschaft noch gar nicht bewusst war, hatte sie mit meinem Vater schwere Matratzen vom dritten Stock unserer Wohnung in der Czerningasse 21 in den Keller geschleppt. Die letzten Kriegstage, ja Kriegsstunden haben sich in das kollektive Gedächtnis unserer Eltern- und Großelterngeneration eingraviert, selbstverständlich auch in das meiner Eltern und meiner um 13 Jahre älteren Schwester Marianne. Daher weiß ich sozusagen alles aus erster Hand. In dem Keller, in dem meine Eltern und die Bewohner unseres Hauses Zuflucht gesucht hatten, muss eine gespenstische Atmosphäre geherrscht haben. Hier saßen sie alle: die überzeugten Nazis, diejenigen, die meine jüdische Mutter und meine Schwester mieden, weil sie Angst vor Rassenschande hatten. Freilich waren nicht alle so. Manche, obwohl braun durchsetzt, behielten ihre Menschlichkeit, und ich möchte eine Familie, von der ich nur den Nachnamen weiß – Philipich –, ausdrücklich erwähnen, denn diese hat sich um meine Schwester gekümmert. Frau Philipich ging mit meiner Schwester während dieser schweren Zeit der Verfolgung schwimmen, in ein Schwimmbad, das es damals noch am Donaukanal gegeben hat. Sie war allerdings eine Ausnahme und nicht die Regel. Alle diese Menschen – wenn man so will, Täter, Mitläufer und Opfer (meine Familie) – waren nun also in diesem tiefen Keller in der Czerningasse 21 versammelt, hatten Zuflucht gesucht vor den letzten Bombardements und den herannahenden russischen Truppen, deren Stalinorgeln man immer deutlicher hörte. Sie alle vereinte die Angst: die einen die Angst vor den Sowjetsoldaten – das war die Mehrheit –, die anderen die Angst, dass fanatische und bis zum Schluss erbittert kämpfende Anhänger des NS-Regimes noch die letzten Juden oder die des Widerstandes Verdächtigten aus den Kellerverliesen zerren und erschießen oder am letzten Laternenpfahl aufhängen könnten. Auch dies ist ja, wie wir alle im Nachhinein wissen, passiert. Dazu kam, dass sich Heckenschützen in den Dachgeschossen mancher Zinshäuser verschanzt hatten und den Rotarmisten heftige Gefechte lieferten. Meine Schwester erlebte diese letzten Minuten des Endkampfes folgendermaßen: Der Gefechtslärm kam näher, im Keller herrschte Schweigen, als plötzlich lautes Klopfen an der Kellertür zu hören war. Die Mitbewohner, aber auch meine Eltern, meine Schwester und meine Großmama väterlicherseits erstarrten. Niemand wagte es, die Kellertür zu öffnen. Nur mein Vater traute sich, obwohl er nicht wusste, was ihn und seine Familie erwarten würde. Als er die Tür geöffnet hatte, stand ein russischer Offizier vor ihm. Meine Schwester empfand ihn als „schön wie ein Engel“. Er trug einen langen grauen Militärmantel und sagte in gebrochenem, aber sehr gut verständlichem Deutsch: „Dieses Haus steht unter dem Schutz der Roten Armee.“ Meine Schwester fiel auf die Knie und bekreuzigte sich.
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Mit Mutter vor dem zerstörten Burgtor (li.); mein stolzer Vater (re.).
Die Erleichterung hielt aber nicht lange an. Nach der Vorhut der Rotarmisten kam die Nachhut, der Tross, und es hat sich schnell herumgesprochen, dass diese ausgehungerte und vom Kampf brutalisierte Soldateska vor allem für junge Mädchen wie meine Schwester, aber auch für meine Mutter und alle anderen Frauen gefährlich war. Also packte man sich wieder zusammen, um einen etwas sichereren Zufluchtsort zu finden. Es muss chaotisch und hektisch zugegangen sein. Jeder wollte nur so schnell wie möglich auf die andere Seite der Praterstraße, wahrscheinlich in die Nähe der oder in die Pfarre St. Nepomuk. Meine Mutter erzählte, dass es Stunden brauchte, um diese paar Meter zu überwinden, über Schutthalden hinweg. Irgendwer hatte meinem Vater noch ein Paket in die Hand gedrückt, das in ein Tuch eingewickelt war, als es plötzlich begann, aus diesem Paket heraus zu tirilieren. Das verhüllte Behältnis entpuppte sich als Vogelkäfig, in dem ein um seine Ruhe gebrachter, erschreckter Kanarienvogel ein Lebenszeichen von sich gab. So schrecklich diese Situation war – man wollte natürlich um keinen Preis durch ein Geräusch auffallen –, so komisch war sie auch. Meine Eltern und ich haben noch Jahrzehnte später über diese Episode gelacht.
2.Frühe Prägungen
Es ist verständlich, dass meine Eltern nach dem Ende des Dritten Reiches nicht einfach den Schalter umlegen und so tun konnten, als sei nichts geschehen. Die zeitgeschichtlich relevanten Erzählungen wurden mir von frühester Kindheit an übermittelt und beeinflussten meine spätere Studien- und Berufswahl. So ist mir die berühmte Abschiedsrede des letzten österreichischen Bundeskanzlers Dr. Kurt Schuschnigg mit ihren Schlussworten: „Gott schütze Österreich!“, so vertraut, als ob ich sie selbst gehört hätte. Wann immer meine Mutter sich dieser historischen Rede erinnerte, kämpfte sie mit den Tränen. Das war die Zäsur in ihrem Leben, der Moment, von dem an nichts mehr so war wie früher.
Meine Mutter Elise Stenzel, geborene Jurberger, war, wie mein Vater, Jahrgang 1901. Sie kam aus einer liberalen, emanzipierten jüdischen Familie, typische Vertreter des Wiener Bürgertums der ausklingenden österreichisch-ungarischen Monarchie. Ihr Vater Salomon Jurberger, der 1921 verstarb, war Oberkantor im Leopoldstädter Tempel, menschenscheu und ein Opernnarr. Fast jeden Abend ging er in die Oper, Stehplatz selbstverständlich, und wenn er nach Hause in seine Dienstwohnung in der Czerningasse 21 kam – die Wohnung, in der auch ich aufwuchs – und noch verschlossener war als sonst, stellte seine Frau Klara – eine geborene Stern; auch ihr Vater Leopold Stern war Oberkantor gewesen – nur liebevoll fest: „Mein Gott, heute muss der ‚Pickerl‘ wieder gut gewesen sein.“ Sie meinte natürlich den damaligen Star am Wiener Opernhimmel, Alfred Piccaver. Von meinem Großpapa wurde mir von meiner Mutter auch folgende, offenbar typische Geschichte überliefert: Bei einem seiner Antrittsbesuche als Oberkantor öffnete der Gastgeber die Tür. Wer es war, ist meinem Gedächtnis entschwunden. Nicht entschwunden ist allerdings das, was meinem Großvater spontan herausrutschte, als ihm nach dem Läuten die Tür geöffnet wurde: „Ach Gott, ich habe gehofft, Sie sind nicht zu Hause.“ Wie meine Großmama Klara diesen Fauxpas auszubügeln versuchte, ist mir nicht berichtet worden. Sie sah ihrem Mann ebenso wie seine Kinder – meine Mutter Liesl, ihre ältere Schwester Stella und der Bruder Hermann – seine Eigenheiten, ja Schrullen nach. Er war der geliebte und verehrte „Vaterl“. Klara war die realitätsbezogene Resolute, die die Familie zusammenhielt – mit einem großen Sinn für Humor. Ihr Ausspruch, als die Familie sich einmal rund um den Tisch versammelt hatte und die Kinder offenbar aneinandergerieten, ging ebenfalls in die Familienchronik ein: „Ich dilde das bei Tusche nicht …“, rief sie aus, und ihr Bemühen um gute Tischsitten ging in großer Heiterkeit unter.
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