Ursula Stenzel

Wie im Flug


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und Kaiser Franz Joseph segnete, als dieser einmal mit der Kutsche vorbeifuhr. Ein Ende der Monarchie konnte sich weder die Familie meiner Mutter noch die meines Vaters je vorstellen.

      Dass meine Mutter ihre Kindheitssommer in Ischl verlebte, an das sie idyllische Erinnerungen hatte, verdankte sie vor allem dem Bruder ihrer Mutter, Julius Stern, der Publizist und Kulturkritiker war und sich schon berufsbedingt in Ischl aufhielt, der Metropole der silbernen Operettenära. Die wunderbare Lehar-Villa erinnert heute noch daran. Julius Stern war ein namhafter Feuilletonist, Theater- und Musikkritiker, Mitglied des Presseclubs Concordia und 1909 dessen Vizepräsident. Jahrzehnte später, als ich Publizistik studierte, zählte die Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum des Presseclubs, die er gemeinsam mit dem Präsidenten der Concordia Sigmund Ehrlich verfasst hatte, zu meiner Pflichtlektüre. Seinen Sohn Alfred, den es nach der Emigration nach Puerto Rico verschlagen hat, wo er an der dortigen Universität Philosophie lehrte, habe ich noch als betagten Herrn kennengelernt.

      Er mochte mich offenbar sehr. Dies erfuhr ich eher zufällig, als ich – schon Stadträtin im FPÖ-Klub – mit der Straßenbahn zu meinem Büro ins Rathaus fuhr und mich eine Dame ansprach, die sich als die engste Freundin Alfred Sterns und seiner bildschönen puerto-ricanischen Frau Gloria zu erkennen gab und mir berichtete, wie liebevoll und stolz Alfred Stern über seine kleine Nichte Uschi gesprochen habe. Ich war zu Tränen gerührt. Vielleicht war auch ein anderer Bruder meiner Großmama, Emil Stern, Ursache der Ischler Sommerfrische: Von ihm wurde mir nur erzählt, dass er Komponist war und eine Operette Joseph Lanners musikalisch überarbeitet hat, die hin und wieder auch heute noch ihren Weg auf die Bühne findet und den Titel „Alt-Wien“ trägt.

      Dass die Familie sich diese Sommerfrische in Ischl leisten konnte, verdankte sie sicher Maximilian Stern, dem ältesten Bruder meiner Großmutter mütterlicherseits, der die Familie als Begründer der Firma Schiff & Stern großzügig unterstützte. Die Firma, die wärmetechnische Geräte herstellte – solange das Rauchen noch nicht verpönt war, übrigens auch Tabakbefeuchtungsanlagen –, existiert heute noch unter dem gleichen Namen und gehört der Familie Joseph Trösch, die vor dem Erwerb dieses Unternehmens die letzte Molkerei in Wien betrieben hat. Sie hat die Firmenunterlagen von Schiff & Stern dankenswerterweise aufbewahrt und mir im Zuge meiner Recherchen für dieses Buch übergeben, wodurch ich auch authentische Unterlagen über den Sohn von Max Stern, DI Roland Stern, besitze. Roland Stern, der Cousin meiner Mutter, konnte nach London emigrieren und war eine für mich prägende Persönlichkeit. Er lebte jeweils ein halbes Jahr in England und ein halbes Jahr in Wien und wäre lieber Schriftsteller geworden als Diplomingenieur für Maschinenbau sowie Unternehmer, obwohl er auch in wirtschaftlichen Belangen durchaus erfolgreich war. Ich wage zu behaupten, dass er ein Genie war. Nie vorher und nie nachher bin ich einem Menschen von so umfassendem literarischen, kunsthistorischen und musikalischen Wissen begegnet wie ihm. Er führte mich noch während der Schulzeit in die schwierigsten Opern ein, so in „Ariadne auf Naxos“, eines seiner Lieblingswerke von Richard Strauss. Er setzte sich einfach ans Klavier und spielte mir die Motive vor, ohne Partitur – er spielte auswendig. Ebenso das Spätwerk Giuseppe Verdis, „Falstaff“ und viele andere klassische „Zuckerln“. Wenn er nicht gerade selbst Gäste hatte, war er entweder im Theater, in der Oper, im Konzert oder im Kino. Auch seine Geschäftsfreunde nahm er in die Oper oder ins Theater mit, nicht immer zu deren Vergnügen, wie ich annehme. Er schätzte und kannte das Werk Arthur Schnitzlers in all seinen Facetten. Einmal hielt der großartige Schriftsteller Manès Sperber einen Vortrag in Wien über „Schnitzler und die Unfähigkeit zu lieben“. Roland konnte nicht und schickte mich hin, die ich als Studentin kaum einen Vortrag in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur ausließ, um ihm darüber zu berichten. Der Vortrag war insofern bemerkenswert, als Sperber Arthur Schnitzler, dem scharfsinnigen Beobachter der Erotik der Jahrhundertwende und Verfasser des „Reigens“, des „Einsamen Weges“ usw. vorwarf, dass dieser eigentlich unfähig zu lieben gewesen sei, und eine schonungslose Abrechnung mit der schwülstigen Erotik der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vortrug. Für mich war dieser Wunsch meines Onkels, ihm über den Vortrag Manès Sperbers zu berichten, mehr wert als so manche Vorlesung am Institut für Zeitungswissenschaft. Noch dazu, da ich dessen Romantrilogie „Wie eine Träne im Ozean“ über die grausamen Geschehnisse auf dem Balkan während des Zweiten Weltkrieges verschlungen hatte und auch die erschütternde Verfilmung kannte. So war ich später, als ich bereits die „Zeit im Bild 2“ moderierte und Sperber interviewen durfte, auf diese Aufgabe gut vorbereitet.

      Roland Stern war auch „schuld“ daran, dass mein Vater meine Mutter kennenlernte. Die Leben von ihm und meinem Vater waren seit der gemeinsamen Schulzeit im Realgymnasium in der Vereinsgasse und danach während des Maschinenbaustudiums an der Technischen Hochschule in Wien eng miteinander verbunden. Schon während der Realschulzeit verkehrte mein Vater im Hause der Familie Stern, und das änderte sich auch während der Studienzeit nicht. In diesem Haus lief ihm auch eines Tages, als er mit Roland wieder höhere Mathematik für eine Abschlussprüfung an „der Technik“ lernte, eine dunkelhaarige junge Frau über den Weg, und er fragte Roland, wer sie sei. „Meine Cousine Liesl – willst du sie kennenlernen?“ So nahm eine schicksalhafte Begegnung ihren Anfang, die schließlich im März 1931 zur Ehe führte.

      © Privatarchiv

       Meine Eltern auf Hochzeitsreise in Amsterdam (1931).

      Meine Mutter arbeitete damals vorübergehend in der Firma ihres Onkels im Büro. Ihre Leidenschaft aber galt dem Theater; sie hat ihre Ausbildung an der Akademie im Jahrgang vor Paula Wessely absolviert. Aus dieser Zeit stammte eine große gegenseitige Wertschätzung. Paula Wessely soll einmal in einer Pause zu ihr gesagt haben: „Liesl, wenn ich dein Talent hätt …!“ Und meiner Mutter blieb ihr Gretchen in der Max-Reinhardt-Inszenierung von Goethes „Faust“ in Salzburg unvergesslich. Knapp nach dem Anschluss sind sie einander einmal zufällig auf der Praterstraße begegnet und haben sich umarmt in einem Gefühl der Hilflosigkeit. Beide haben geweint.

      Meine Mutter hat ihren Wunsch, Schauspielerin zu werden, lange vor ihrer Familie geheim gehalten. Das war eine Vorsichtsmaßnahme. Schließlich war ihr Onkel Julius ein gefürchteter Theaterkritiker. Er war es auch, der sie als Kind zu ihren ersten Theater- und Opernvorstellungen mitnahm, ins damals noch existierende Karltheater. Sie erzählte immer von ihrem Kindheitserlebnis im „Freischütz“ von Carl Maria von Weber: Julius hatte sie begleitet. Kurz vor der berühmten Szene in der Wolfsschlucht sagte er, er müsse gehen, er fürchte sich zu sehr, und ließ das arme siebenjährige Mädchen, das meine Mutter damals war, allein im Theater zurück. Sie hat sich wirklich gefürchtet; ihm, dem Theaterkritiker, war lediglich fad. Bei späteren Gelegenheiten schickte er sie allein ins Theater und bat sie, ihm zu berichten, ob ein Luster heruntergefallen sei. So viel zur Objektivität der Kunstkritik. Heute ist dies wahrscheinlich ganz anders.

      Allerdings hatte ich einmal ein Erlebnis, das auch bei mir Zweifel an der Seriosität von Kulturkritik in der Gegenwart aufkommen ließ. Man gestatte mir, es an dieser Stelle einzufügen. Ich besuchte im Rahmen der Salzburger Festspiele einen Soloabend des von mir sehr bewunderten Pianisten Rudolf Buchbinder, der im Goldenen Saal des Mozarteums alle Beethovensonaten in Serie spielte. Großartig! Ich ziehe in Salzburg mittlerweile Konzerte den Theateraufführungen, egal ob Oper oder Schauspiel, vor. Allerdings: In der neuen Zeitrechnung „vor und nach Corona“ hoffe ich inständig, dass die Salzburger Festspiele wieder stattfinden mögen und noch weitere 100 Jahre lang bestehen. An besagtem Konzertabend war ich zu früh dran und setzte mich, um die Zeit zu überbrücken, ins wie immer überfüllte „Café Bazar“ am Salzachkai. Ein älterer Herr fragte, ob er sich zu mir setzen dürfe. Es war sonst weit und breit kein Sessel frei. Wir kamen ins Gespräch, und er war, wie sich herausstellte, einer der renommiertesten Kenner der Salzburger Festspiele, vor allem der Musikproduktionen, und langjähriger Musikkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Wir hatten das gleiche Programm vor, nämlich Beethoven mit Buchbinder, den er, wie er mit Nachdruck betonte, nicht sonderlich schätzte, worauf ich aus vollster Überzeugung entgegnete, ich hielte Buchbinder für einen der größten Interpreten der Gegenwart, außerdem hätte ich seine Biografie gelesen – wie er, aus bescheidenen Verhältnissen kommend, schon als Kind aufgefallen war und