Ursula Stenzel

Wie im Flug


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der Klosterschule eine Gegenwelt zu der Qual, die sie in der Schule für „geistig Minderbemittelte“ als „Mischling ersten Grades“ ertragen musste, mit einer fanatischen Nazine als Lehrerin, die sie stundenlang mit zum Hitlergruß erhobenem Arm in der Ecke stehen ließ und ihre schriftlichen Übungen zerriss, um sie noch zusätzlich zu demütigen. Meine Schwester war verpflichtet, die Vormittage an dieser Sonderschule zu verbringen. Nach dem Ende der Hitlerjahre musste meine Schwester wie alle Mädchen ihres Jahrganges die Aufnahmeprüfung an das Gymnasium der Ursulinen nachholen, und zwar musste sie mit 13 Jahren in die dritte Gymnasialstufe springen. Sie hatte sich so gut wie möglich darauf vorbereitet. Noch während des letzten Kriegsjahres und danach hatte sie Unterricht in den wesentlichen Fächern von einem jungen, zivilcouragierten Mann namens Bader erhalten (der Vorname ist mir nicht mehr in Erinnerung), den meine Eltern – ich weiß nicht wie – aufgetrieben hatten, und natürlich auch von meinem Vater. Sie hat auch alle Gegenstände geschafft. Trotzdem wäre sie fast an dem Religionsprofessor Dr. Anton Schifauer gescheitert. Er war mit der Beantwortung einer Frage nach der geschichtlichen und religionsphilosophischen Bedeutung der Reformation und Martin Luthers nicht zufrieden. Die Ursulinen seien keine Schule für „geistig Minderbemittelte“, sagte er und wollte meine Schwester durchfallen lassen – das Beispiel eines katholischen Geistlichen, an dem offenbar der religiös motivierte Antisemitismus nicht spurlos vorübergegangen war. Meine Schwester war verzweifelt und brach in Tränen aus. Nicht so Ursel Kehlmann, die ebenfalls zur Aufnahmeprüfung angetreten war und ein ähnliches Schicksal hatte wie meine Schwester: „Du wirst doch nicht heulen, das lassen wir uns nicht bieten …“, fuhr sie meine Schwester an und nahm sie sofort mit zu sich nach Hause, wo Marianne – für die unmittelbare Nachkriegszeit eine Sensation – mit panierten Hühnerbügerln gelabt wurde, eingewickelt in weißen Papiermanschetten und serviert von einem Hausmädchen in schwarzem Kleid mit weißer Schürze. Die Tafel war wunderschön gedeckt, an dem einen Tischende saß die Mama, ein wenig an Migräne leidend, am anderen Ende der Vater Ursel Kehlmanns, ein resoluter Rechtsanwalt, der es offenbar verstanden hatte, die großbürgerliche Kultur, die diese Wohnung in der Bartensteingasse atmete, über das Kriegsende hinwegzuretten. Der Bruder Ursel Kehlmanns, Michael, ging blass und durchgeistigt mit einem locker um den Hals geworfenen Schal durch die Räume und nahm von der familiären Tischgesellschaft so gut wie keine Notiz. Er war damals schon in seiner Welt, einer Welt der Literatur, des Theaters und des Filmes, in der er sich später als Regisseur einen großen Namen erwarb. In dieser Funktion lernte ich ihn viel später an der Seite meines Mannes kennen. Meiner Schwester blieb dieser Eindruck im Hause Kehlmann unvergesslich, und sie schilderte mir gegenüber die Atmosphäre noch viele Jahre später in so plastischen Worten, dass ich sie wiedergeben kann, als ob ich dabei gewesen wäre.

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      © Privatarchiv

       Meine Schwester mit neun Jahren: bedrückt und früh erwachsen.

      Ich hatte übrigens noch das Vergnügen, Ursel Kehlmann kennenzulernen. Wir gingen nämlich in dieselbe Sauna in der Rustenschacher Allee, die es leider nicht mehr gibt, und haben diese Erinnerung zwischen mehreren Aufgüssen Revue passieren lassen. Leider ist Ursel Kehlmann viel zu früh an Krebs gestorben. Ihr Vater hat damals nach dem Drama mit der missglückten Aufnahmeprüfung meiner Schwester umgehend bei der legendären Direktorin der Ursulinen, Mater Dr. Lucia Vecerka, vorgesprochen, die den Religionsprofessor sofort entließ und meine Schwester ins Gymnasium aufnahm, das diese 1951 mit der Matura erfolgreich abschloss. In diesem Jahr wurde ich bei den Ursulinen im alten Kloster in der Johannesgasse aufgenommen, der Beginn einer Schulzeit, die prägend für mich war und der ich Freundschaften zu verdanken habe, die mich mein ganzes Leben hindurch begleitet haben.

       4.Hommage an Vera und Dr. Richard Deutsch

      Im Gegensatz zu meinen Eltern, die in Wien blieben, emigrierten meine Tante väterlicherseits und ihr Mann in die USA – eine Odyssee.

      Sowohl Vera, die um sechs Jahre ältere Schwester meines Vaters, als auch Richard, ihr Mann, hielten die Geschichte ihrer Emigration schriftlich fest, zunächst in englischer Sprache für ihren Sohn Henry als auch für dessen vier Söhne, von denen sie die beiden ältesten noch heranwachsen sahen. Deren mittlerweile sechs Kinder, also ihre Urenkel, erlebten sie nicht mehr. Die Aufzeichnungen sind, abgesehen davon, dass sie ein dramatisches Zeugnis von dem verheerenden Rassenwahn der NS-Ideologie ablegen, eine Fundgrube an Berichten über die Geschichte der Ersten Republik, der sowohl Vera als auch Richard eng verbunden waren, zunächst als Sozialdemokraten der ersten Stunde.

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      © Privatarchiv

       Vera und Richard Deutsch.

      Sie heirateten am 10. November 1928 im Marmorsaal des Rathauses in Wien, fast auf den Tag genau zehn Jahre nach Ausrufung der Ersten Republik. Richard war als Absolvent der Handelswissenschaften bereits in einer guten Position bei der Wiener Städtischen Versicherung angestellt. Die Trauung fand mit einer Stunde Verspätung statt, weil der Trauzeuge Richards, der Direktor der Wiener Städtischen, Norbert Liebermann, an einer Feier zur Gründung der Republik teilnahm und diese nicht vorzeitig verlassen konnte, was Richard ihm zeitlebens nie verzieh. Der Standesbeamte schloss die kurze Zeremonie mit der sonst nur bei kirchlichen Hochzeiten üblichen Formel: „… bis dass der Tod euch scheidet“ – worauf der Trauzeuge meiner Tante Vera, Dr. Oswald Richter, ein bekennender Agnostiker und Sozialdemokrat, der fließend Latein und Altgriechisch sprach, unüberhörbar fallen ließ: „Das war aber so nicht vereinbart …“ Beide, sowohl Richard als auch Vera, waren damals ohne religiöses Bekenntnis. Vera war als Lehrerin Anhängerin des Glöckel-Erlasses, mit dem Schulgebete und verpflichtender Religionsunterricht abgeschafft worden waren, befürwortete den Wandel von der Drill- zur Lernschule, schrieb Artikel für eine neue Pädagogik in der „Arbeiter-Zeitung“; Richard hielt Abendkurse für Erwachsene, weil er davon überzeugt war, dass die Arbeiterklasse und die Masse der Arbeitslosen nur über Bildung den Weg zur Demokratie finden könnten.

      Richard hatte eine interessante Verwandtschaft: Julius Deutsch, der Gründer des Republikanischen Schutzbundes, war in erster Ehe mit der jüngsten Schwester seiner Mutter verheiratet, also ein angeheirateter Onkel; die Namensgleichheit war ein Zufall, allerdings politisch relevant. Richard hatte kein enges Verhältnis zu ihm, war aber sehr befreundet mit seinem Sohn Gustav und verzieh Julius Deutsch vor allem eines nicht: dass er auf die Bewaffnung der Arbeitermilizen setzte. In seinen Aufzeichnungen weist er darauf hin, dass diese Milizen schlecht ausgerüstet waren, mit alten Waffen aus dem Ersten Weltkrieg, und dass ihnen daher sowohl die Polizeikräfte als auch das Militär überlegen waren. Bereits im Jahr 1927, als am 15. Juli in Reaktion auf den sogenannten Schattendorfer Prozess der Justizpalast in Brand gesetzt wurde, hatte Richard ein traumatisches Erlebnis. Er ging von seinem Büro über die menschenleere Mariahilfer Straße nach Hause, als plötzlich wieder ein Schusswechsel ausbrach. Richard suchte Deckung unter einem Haustor und ging nach Beendigung der Schießerei wieder auf die Straße, wobei er über etwas stolperte, was sich als ein blutüberströmter Schädel herausstellte, in dem noch ein Teil des Gehirnes war. Den restlichen Leichnam hatte man offenbar schon entfernt. Als er das sah, an diesem 15. Juli 1927, befand er seine Arbeit als Erwachsenenbildner für gescheitert. Bei einem Treffen der Döblinger Sektion des Schutzbundes, der Richard seit April 1926 als Sektionssekretär angehörte, wurde Kritik an dem chaotischen Vorgehen der Bundesführung laut. Auch Richard schloss sich den Kritikern an, woraufhin er einige Tage später ein Schreiben erhielt, wonach er vom Schutzbund ausgeschlossen worden sei. Er hat – wie er schreibt – diesen Brief zuerst entzweigerissen, sich dann aber besonnen, die beiden Hälften wieder zusammengeklebt und sie in seinem Schreibtisch aufbewahrt. Seine Aufzeichnungen legen beredtes Zeugnis ab von der tragischen Zerrissenheit der Ersten Republik, die in den Ständestaat und letztlich in den Jubel über den Anschluss 1938 taumelte. Die Julirevolte war nur das Vorspiel für den Bürgerkrieg vom 12. bis 15. Februar 1934, in dessen Verlauf Richard kurzzeitig verhaftet wurde und sich in der Rossauer Kaserne mit anderen inhaftierten Genossen wiederfand, die ihn mit den Worten