Ursula Stenzel

Wie im Flug


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ins Englische von Martin Heideggers „Die Frage nach dem Ding“ vor („What Is a Thing?“, Chicago 1967), worauf sie zu einem Philosophenkongress nach Wien eingeladen wurde. Es war ihre erste Rückkehr nach ihrer Emigration. Damals traf ich auch das erste Mal mit den beiden zusammen. Vera hatte offenbar keine Hemmungen, Martin Heidegger zu übersetzen. Die Debatte über Heideggers Verstrickung in den Nationalsozialismus (er war von 1933 bis 1945 Mitglied der NSDAP gewesen) ging offenbar an ihr vorüber. Immerhin war ja auch eine der bedeutendsten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts, Hannah Arendt, seine Lieblingsschülerin gewesen, zu der er auch eine intime Beziehung hatte. Vera war auf jeden Fall von seinem Werk überzeugt und ihr ganzes Leben lang eine unbequeme Nonkonformistin.

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      © Privatarchiv

       Heidegger-Übersetzerin Vera Deutsch.

       5.Bitteres Erwachen aus dem amerikanischen Traum

      Abgesehen von meinen journalistischen Reisen in die USA sind es meine Verwandten in Amerika, denen ich ein sehr authentisches Bild von den Vereinigten Staaten verdanke. Mein Cousin Henry Deutsch – äußerst naturverbunden, umweltbewusst und sportlich – war Forstingenieur, im Dienste der amerikanischen Bundesforste u. a. in der Öffentlichkeitsarbeit tätig und ist mittlerweile ein rüstiger Achtziger, für mich fast wie ein älterer Bruder – seine Frau Judy, ausgebildet in frühkindlicher Pädagogik, deren Vorfahren aus Südfrankreich eingewandert waren und es in den USA mit einer Fabrik für Fensterrahmen zu erheblichem Wohlstand gebracht hatten, war eine College-Liebe. Die Fabrik gibt es nicht mehr. Gemeinsam haben sie vier Söhne, die in den USA verstreut leben, von Viroqua bis Sacramento und Los Angeles, und nach wie vor in Memphis.

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      © Privatarchiv

       Cousin Henry Deutsch.

      Der älteste der Söhne, in Kalifornien beheimatet, Architekt und Raumplaner, hat im Zuge der Reform des österreichischen Staatsbürgerschaftsgesetzes4 per Anzeige um die österreichische Staatsbürgerschaft angesucht und diese auch erhalten, ohne deshalb seine amerikanische zu verlieren. Er hat mir dies freudig mitgeteilt, und ich habe ihm ebenso freudig gratuliert. So schließt sich der Kreis. Bei mehreren Besuchen hatte er die Heimat seiner vor den Nationalsozialisten geflohenen Großeltern kennen- und lieben gelernt. Die Vorstellung, dass er mit der Staatsbürgerschaft nun auch das Wahlrecht erworben hat, sehe ich – man möge mir verzeihen – mit gemischten Gefühlen. Ich will nicht pars pro toto sprechen, aber selbst wenn die Verbundenheit meiner amerikanischen Familie mit der ursprünglichen Heimat der Großeltern eine ausgeprägte ist, erscheint mir die Vorstellung, dass mein Neffe nun in Österreich wählen darf, nicht unproblematisch. Seine Kenntnis der österreichischen Situation ist naturgemäß rudimentär. Stimmen wie seine und die der Nachfahren der österreichischen Emigranten fallen allerdings kaum ins Gewicht, im Gegensatz zu den Hunderttausenden Zuwanderern aus vorwiegend islamischen Ländern, denen, wenn es nach dem Willen von Sozialdemokraten und Grünen in Österreich ginge, schon nach sechs Jahren die Staatsbürgerschaft und damit das Wahlrecht angeboten würde. Die Aussicht auf deutlich verkürzte Einbürgerungsfristen hat selbstverständlich einen „Pull“-Effekt, ist ein Anziehungsfaktor und dazu angetan, Österreich als Zielland der Migration noch attraktiver zu machen, abgesehen davon, dass eine solche Neuerung selbstverständlich Auswirkungen auf das Wahlresultat hätte. Und zwar nicht zugunsten rechtskonservativer Parteien. Um dies zu erkennen, bedarf es keiner prophetischen Gabe. Doch zurück zu meinen sehr persönlichen amerikanischen Erfahrungen.

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      © Privatarchiv

       Zu Gast (3. v. re.) bei Familie Deutsch in den Vereinigten Staaten.

      Die „Deutsches“, wie ich meine in den USA lebenden nächsten Verwandten der Einfachheit halber nenne, sind Demokraten – nicht immer aus Überzeugung, wie mir mein Cousin Henry einmal gestand, sondern aus Mangel an Alternativen. Sicherlich aber ist ihre politische Orientierung ein von den Eltern übernommenes europäisches Erbe. Einer von ihnen, der mittlere Sohn Michael, scheint ein konservativer „Ausreißer“ zu sein. Finanzberater von Beruf, blieb er der Heimatstadt seiner Großeltern und Eltern treu, Memphis im Bundesstaat Tennessee. Er ist mit einer entzückenden Frau verheiratet, Alia, einer echten „Memphian“, wie sie sich bezeichnet. Als ich vor wenigen Jahren einmal bei ihnen zu Gast war und immerhin fast zwei Wochen bei ihnen verbrachte, war ich auch bei der Familie Alias eingeladen. Sie wohnte in einem großen Haus, abgeschirmt in einem Areal, das von einem Schranken begrenzt war. Es gab eine großzügige Bewirtung. Ich zog mich mit einem älteren Herrn, einem Onkel der Frau meines Neffen Michael, in ein Eck zurück. Im Zuge des Gespräches ließ ich durchblicken, dass die USA für mich noch immer die führende Großmacht des Westens seien. Er war zu Tränen gerührt. Was mir auffiel, war, dass ich während meines gesamten Aufenthaltes in Memphis und danach in Arizona, wo mein Cousin die Wintermonate verbrachte und jetzt mit seiner Frau in einer Altersresidenz lebt, nicht einen einzigen Afroamerikaner und auch keinen Latino zu Gesicht bekam, außer am Flughafen, in Einkaufszentren und Fast-Food-Ketten. Meine Verwandten sind nicht reich, aber Mittelstand, bestrebt, in einer „guten Nachbarschaft“ zu leben. Ihre Kinder besuchen Privatschulen; besonders mein in Memphis lebender Neffe ist bestrebt, Einrichtungen zu unterstützen, die die Integration und Weiterbildung von Kindern unterschiedlichster sozialer Herkunft fördern. Er besitzt übrigens eine Waffe, und dies nicht, weil er der mächtigen Waffenlobby angehört und irgendwelche romantisierten Freiheitsrechte aus dem Wilden Westen verteidigen will, sondern schlicht und einfach aus Angst vor Überfällen. Falls die Polizei zu lange braucht, um vor Ort einzutreffen, will er die Möglichkeit haben, sich und seine Familie zu schützen. Trotz gewaltiger Kraftanstrengungen auch vieler privater Initiativen, die Segregation zu beenden, angefangen bei der Ära Kennedy über Martin Luther King jr., dessen Gedenkstätte in Memphis ich besucht habe, bis hin zu Expräsident Barack Obama, an den der heutige demokratische Präsident Joe Biden anknüpft: Die wenigsten Afroamerikaner sind im Mittelstand angekommen, zumindest in den südlichen Bundesstaaten der USA. Es kommt zu keiner wirklichen Vermischung der unterschiedlichen sozialen Schichten. Und die gesellschaftlichen Spannungen werden verschärft durch die Zuwanderung aus Mittelamerika, besonders kritisch durch den Zustrom über das nördliche Dreieck aus Guatemala, Honduras und El Salvador. In Arizona hat man es nicht weit zur mexikanischen Grenze. Ich habe den noch vor Trump errichteten Grenzzaun gesehen, der die Grenzstadt Nogales durchschneidet. Trump hat diesen Grenzzaun mit NATO-Draht bestückt, der mit messerscharfen Klingen versehen ist, was der Bürgermeister von Nogales als Überreaktion bezeichnet hat. Auf den Autobahnen musste man immer damit rechnen, von einer Polizeistreife auf der Suche nach illegalen Einwanderern, die über die nahe mexikanische Grenze kamen, angehalten zu werden. Auch das Überschwappen von Bandenkriegen auf amerikanisches Territorium war gefürchtet. In den Kirchen wurde für die Flüchtlinge aus Mittelamerika gebetet und gesammelt; private karitative Organisationen heuerten Hubschrauber an, aus denen sie Mineralwasserflaschen über der Sonora-Wüste abwarfen, um die zumeist vor Armut und sozialer Not Flüchtenden vor dem Verdursten zu bewahren, während Polizeistreifen den Wüstensand nach Fußabdrücken Illegaler absuchten. Die Migration spaltet die Gesellschaft auch in den USA, wo sie die vorhandenen sozialen Gegensätze, zugespitzt durch die Corona-Epidemie, noch verschärft. Biden war ausdrücklich angetreten, um die Politik seines schrillen Amtsvorgängers Donald Trump zu revidieren. Das hat die Erwartungshaltung potenzieller Migranten erhöht und die Flüchtlings- und Migrationswellen an der Südgrenze zu Mexiko anschwellen lassen. Darunter befinden sich auch Tausende von unbegleiteten Minderjährigen. Wenn Biden seine ehrgeizigen Sozial- und Beschäftigungsprogramme sowie seine Infrastrukturprojekte, sein 1,9 Billionen Dollar schweres Konjunkturprogramm nicht gefährden will, kann er sich eine deutlich erhöhte Zulassung von Migranten nicht leisten. Seine Anhänger warten daher vergeblich darauf, dass er die Einwanderungsobergrenze im Vergleich zu seinem Vorgänger deutlich anhebt. Im Moment sei die Zeit nicht reif dafür, heißt es aus dem Weißen