nicht zu den Salzburger Festspielen eingeladen worden und daraufhin künstlerischer Leiter des inzwischen sehr renommierten Musikfestes auf Schloss Grafenegg geworden war. Plötzlich unterbrach mich mein Gegenüber und bat mich, lauter zu sprechen, er höre nämlich schlecht. Ein schwerhöriger Musikkritiker bei den Salzburger Festspielen – das erlebt man auch nicht alle Tage.
Doch zurück zu Julius Stern und meiner Mutter, die von ihm nicht unbedingt seelisch aufgemuntert wurde. Als sie die erste Studienvorstellung im Akademietheater hatte, „Ein Sommernachtstraum“ von William Shakespeare, machte er sich noch lustig und sagte, alle stünden schon an der Kasse Schlange, weil sie unbedingt Liesl Jurberger sehen wollten. Nicht gerade förderlich für das ohnehin schwache Selbstbewusstsein meiner Mutter. Die Selbstzweifel waren – das kann ich im Nachhinein sagen – nicht angebracht. Sie hatte vor ihrer Aufnahme an der Schauspielakademie beim damaligen Direktor des Volkstheaters Rudolf Beer vorgesprochen. Danach wandte er sich an sie: „Ich rate jedem ab, zur Bühne zu gehen, aber Sie, Sie müssen zum Theater!“
Während ihrer Ausbildung studierte sie alle klassischen Rollen. Natürlich wollte sie auch Maria Stuart erarbeiten, aber ihr Lehrer riet ihr zur Elisabeth: „Sie wissen ja gar nicht, was in Ihnen steckt!“ Ein Jahr nach Abschluss ihrer Ausbildung wurde sie angerufen, ob sie bei den Salzburger Festspielen die Rolle der Hermia im „Sommernachtstraum“ übernehmen könne. Sie hatte diese Rolle schon während besagter Studentenaufführung im Akademietheater gegeben und war damals positiv aufgefallen. Als sie gefragt wurde, ob sie die Reinhardt-Inszenierung kenne, sagte sie wahrheitsgemäß Nein, woraufhin eine andere Schauspielerin diese Rolle erhielt, und schrieb darauf meinem Vater einen Brief: „Ich werde wohl immer die bürgerliche Liesl Jurberger bleiben.“
© Privatarchiv
Schauspielerin Gisela Jurberg, Cousine meiner Mutter (geb. 1875, vermutlich 1942 verst.).
Der Hang zum Theatralischen lag offenbar in der Familie. Eine entfernte Cousine meiner Mutter, Gisela Jurberg, war Schauspielerin. Eines ihrer Rollenfotos habe ich in einer alten Holzkassette aufgestöbert.
Ich bedauere sehr, dass meine Mutter diese ihre Berufung nicht ausleben konnte. Sie hat zu wenig an sich geglaubt. Einmal allerdings hat diese Begabung sie geschützt. Als sie in dem letzten Kriegsjahr in der Leergutsammelstelle der Stadt Wien auf dem Gelände in der Engerthstraße in der Nähe des Praters zu Zwangsarbeit verpflichtet war und sie im Winter um fünf Uhr früh einen Ofen einheizen musste, versuchte einer der Aufseher, ihr nahezutreten. Sie war mit ihm allein im Raum. Er kam keuchend auf sie zu: „Was denkst du jetzt?“, und meine Mutter antwortete ihm schockstarr: „Ich wünsche mir eine Tarnkappe.“ Sie muss eine derartige Würde ausgestrahlt haben, dass er von ihr abließ, bevor es zum Äußersten kam.
In dieser Leergutsammelstelle, heute würde sie als Mülltrennanlage bezeichnet werden, verrichteten viele Ehepartner aus sogenannten Mischehen Zwangsarbeit. Ohne Bombenschutz und der Willkür der Aufseher ausgeliefert. Einer von denen pflegte zu sagen: „Wann ich an von euch daschieß, gschiecht ma gor nichts, denn i hab an Kopfschuss und gelte als unzurechnungsfähig.“ Als ob es damals einer Unzurechnungsfähigkeit bedurft hätte, einen Juden ungestraft zu erschießen. Für meine Mutter hatte dieser Zwangsdienst aber auch – so schwer vorstellbar dies ist – etwas Positives, denn es wurden hier haltbare Lebensmittel für die Front gelagert. Übrigens gelangte das Wenigste dorthin. Die Aufseher stahlen laut Schilderung meiner Mutter wie die Raben, und so fasste auch sie Mut, ließ hin und wieder ein Stück Speck in einer ihrer Kleiderschichten verschwinden und brachte es nach Hause. In dieser Leergutsammelstelle herrschte ein gewisser Schlendrian, allerdings auch eine totale Unberechenbarkeit.
Eines Tages hatte sich der Ton allerdings merklich verschärft. Alle mussten zum Appell antreten. Niemand wusste, was vorgefallen war. Sie alle befiel die Angst, dass nun die Deportation unmittelbar bevorstünde. Erst am Abend, als meine Mutter erschöpft in unsere Wohnung zurückkehrte, wurde klar, welches dramatische Ereignis stattgefunden hatte: Es war der 20. Juli 1944, der Tag, an dem das Attentat Claus Schenk Graf von Stauffenbergs auf Hitler fehlgeschlagen war, mit all seinen fatalen Folgen, der Hinrichtung der Attentäter und der Verlängerung des Krieges um ein weiteres Jahr voller Angst vor Deportation und vor Bomben.
3.Die Überlebenshelfer
Immer wieder stellt sich mir die Frage, wie meine Eltern es geschafft haben, trotz allem – Verfolgung und Bombenkrieg – zu überleben. Und nicht nur zu überleben, sondern auch noch das Wunder zu vollbringen, so etwas wie familiäre Geborgenheit aufrechtzuerhalten, die sie vor dem psychischen Kollaps bewahrte.
Da war zunächst die österreichische Niederlassung der Firma Pintsch in Simmering, in der mein Vater als Maschinenbauingenieur mit dem Wohlwollen der Firmenleitung Unterschlupf fand und dort für die Lehrlingsausbildung zuständig war. Es war für mich sehr berührend, als ich im Hause meiner guten Freundin und Ex-ORF-Kollegin Dr. Liliane Roth-Rothenhorst die namhafte Klavierpädagogin Elisabeth Eschwé kennenlernte, eine außerordentliche Künstlerin, Pianistin und ausgebildete Schauspielerin – ganz abgesehen davon, dass sie auch ein Diplomdolmetschstudium absolvierte. Mit einem Wort, eine sehr beeindruckende Persönlichkeit, die es ebenso verdiente, im Rampenlicht zu stehen, wie ihr Bruder, der international geschätzte und auch bei uns besonders vom Volksopernpublikum verehrte Dirigent Alfred Eschwé. Ich erzähle diese Geschichte aber nicht deshalb, sondern weil mir Elisabeth Eschwé eröffnete, dass ihre Mutter meinen Vater gekannt und eine sehr lebendige Erinnerung an ihn habe, denn sie sei als junges Mädchen nach Absolvierung ihrer schulischen und beruflichen Ausbildung in die Buchhaltung der Firma Pintsch dienstverpflichtet worden. Ich durfte die alte Dame vor ihrem Tod noch mehrere Male sprechen und erfuhr so von ihr vom Martyrium meines Vaters; wie er in der Firmenbuchhaltung in Tränen ausgebrochen war, weil meine Schwester nach Absolvierung der Volksschule nicht mehr in eine normale Schule gehen durfte, sondern in eine Schule für „geistig Minderbemittelte“ musste, wie es in dem vom Rassenwahn beherrschten NS-Jargon hieß.
Gertha Gloss, wie sie mit Mädchennamen hieß, war – obwohl damals sehr jung – nicht von dieser Ideologie infiziert. Sie bewunderte meinen Vater, auch wegen seiner zeichnerischen Begabung. Bei ihr musste er sich nicht verstellen, konnte über seine Ängste sprechen, ohne fürchten zu müssen, denunziert zu werden.
Von ihr erfuhr ich auch, dass vor allem der Bücherrevisor Carl von Peez dem Widerstand nahegestanden haben soll. Von ihr habe ich den genauen Namen dieses aus Preußen stammenden Adeligen erfahren, der diskret, aber effektiv eine Art Schutzschild über meinen Vater gehalten hat. Er spielte in den Erzählungen meines Vaters immer eine wichtige, sehr oft auch humorvolle Rolle und war mir daher vertraut, obwohl immer nur von „dem Peez“ die Rede war. Zu den Österreichern hatte er ein wohlwollend-distanziertes Verhältnis, das sich in einer seiner Redensarten, die mein Vater immer wieder gern zitierte, manifestierte: „Vorne hochprima ’nen Berg und hinten mit der Zahnradbahn hinauf …“ Diesen Ausspruch assoziiere ich mit Carl von Peez, dem, heute würde man sagen, Chefbuchhalter der Firma Pintsch in Simmering.
© Elisabeth Eschwé
Gertha Gloss-Eschwé.
Den Pintsch-Managern war natürlich die künstlerische und zeichnerische Begabung meines Vaters nicht entgangen, und so beauftragten sie ihn anlässlich eines Firmenbesuches von Gauleiter Josef Bürckel, ein Fresko einer Wien-Ansicht in der Werkshalle anzufertigen. Mein Vater wählte, und das berührt mich heute noch, den Blick vom Oberen Belvedere auf Wien – den berühmten Canaletto-Blick, also jene Ansicht vom Wienerwald bis zur Inneren Stadt, die Bernardo Bellotto, wie er eigentlich hieß, in seiner berühmten Vedute Mitte des 18. Jahrhunderts festgehalten hat. Das Gemälde ist heute im Kunsthistorischen Museum in Wien zu besichtigen, und dieser sein Blick auf Wiens Innere Stadt ist trotz einiger architektonischer Eingriffe noch immer erhalten. Weshalb mein Vater dieses Sujet wählte, kann ich nur erahnen, wahrscheinlich