Sinclair Lewis

Gesammelte Werke


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Inhaltsverzeichnis

      1

      Noch zwei weitere Serien von Meetings hielt Sharon Falconer in diesem Sommer ab, und in jedem trat die Autorität in der Maschinenwelt auf und berichtete von ihrer Bekehrung durch die Gideon-Bibel und die Beredsamkeit der Schwester Falconer.

      Manchmal schien er ihr sehr nahe zu sein; dann sah sie ihn aber wieder mit kalten Porzellanaugen an. Einmal fuhr sie auf ihn los: »Sie rauchen, nicht wahr?«

      »Warum, ja.«

      »Ich hab's gerochen. Es ist mir widerwärtig. Werden Sie damit aufhören? Ganz? Und zu trinken?«

      »Ja, ich werd' aufhören.«

      Und er tat es. Es war eine quälende Unruhe und Sehnsucht, aber er griff nie wieder zu Alkohol oder Tabak und bedauerte aufrichtig, daß er an den so leer gewordenen Abenden sich eines gewissen Interesses für Kellnerinnen nicht enthalten konnte.

      Es war spät im August, in einer kleiner Stadt in Colorado, nach seinem zweiten Auftreten als geretteter Finanztitane, daß er Sharon, als sie miteinander ins Hotel traten, anflehte: »Ach, lassen Sie mich in Ihr Zimmer hinaufkommen. Bitte! Ich hab' nie eine Möglichkeit, ruhig bei Ihnen zu sitzen und zu plaudern.«

      »Schön. Kommen Sie in einer halben Stunde. Telephonieren Sie nicht. Kommen Sie ganz einfach zur Abteilung B rauf.«

      Es war eine halbe Stunde herzklopfender, fast ängstlicher Erwartung.

      Sharon wurde in jeder Stadt, in der sie Meetings abhielt, eingeladen, im Haus eines der Erwählten zu wohnen, aber sie lehnte es immer ab. Sie hatte eine lange, feststehende Erklärung: sie könne sich inniger dem Gebetsleben widmen, wenn sie ihren eigenen Aufenthaltsort habe, und fülle ihn von Tag zu Tag mehr mit der Aura geistlicher Anschauung. Elmer überlegte manchmal, ob es nicht die Aura Cecil Aylstons sei, für die sie ihre Wohnung habe, versuchte aber, sich diese schmerzende Vorstellung vom Leibe zu halten.

      Die halbe Stunde war vorüber.

      Er raste die Treppe hinauf zur Abteilung B und klopfte. Ein entferntes »Herein«.

      Sie war im Schlafzimmer drüben. Er schlich in den Hotelsalon – Tapeten mit zwei Fuß großen Rosen, ein Tisch mit einer abscheulichen wulstigen Goldvase, zwei steife Stühle und eine harte Polsterbank, die sich an der Wand entlang zog. Die Lilien, die sie von ihren Anhängern bekommen hatte, verkamen in Schachteln, in einem Waschbecken, in einem Haufen in der Ecke. Rund um einen Porzellanspucknapf lagen welke Rosenblätter.

      Er setzte sich ängstlich auf die Kante eines Sessels. Er wagte sich nicht hinter die staubigen Brokatvorhänge, welche die zwei Zimmer trennten, aber seine Phantasie wagte nur zu viel.

      Sie zog die Vorhänge auseinander und stand da, in dem dämmrigen Zimmer wie eine Flamme leuchtend. Sie hatte ihr weißes Gewand mit einem scharlachroten Schlafrock vertauscht, der Ärmel aus Goldstoff hatte – Gold und Scharlachrot; wildes schwarzes Haar; ein langes, bleiches, weißes Gesicht. Sie glitt zur Polsterbank hinüber und rief ihn: »Kommen Sie!«

      Schüchtern legte er seinen Arm um sie, ihr Kopf war an seiner Schulter. Sein Arm zog sie näher. Aber sie seufzte reglos: »Ach, keine Liebe. Sie werden 's schon wissen, wenn ich das will! Heute abend seien Sie nur nett und trösten Sie mich.«

      »Aber ich kann nicht immer –«

      »Ich weiß. Vielleicht werden Sie auch nicht immer müssen. Vielleicht! Ach, ich brauche – was ich heute abend brauche, ist irgendein Pflaster für meine Eitelkeit. Hab ich einmal gesagt, daß ich die wiedergeborene Jungfrau von Orleans bin? Ich glaub' wirklich manchmal halb und halb dran. Natürlich ist das einfach Wahnsinn. In Wirklichkeit bin ich ein sehr unwissendes junges Weib, das sehr viel mißleitete Energie und ein bißchen Idealismus hat. Sechs Wochen lang halt' ich fabelhafte Predigten, aber wenn ich sechs Wochen und einen Tag in einer Stadt bliebe, müßt' ich die Leier wieder von vorn anfangen. Ich kann meine Predigten schön vortragen … aber die meisten davon hat Cecil für mich geschrieben, und den Rest hab' ich lustig und munter gestohlen.«

      »Haben Sie Cecil gern?«

      »Oh, er ist ein netter, eifersüchtiger, großer, dicker Mann!« Bisher war sie ein beunruhigender Orgelton gewesen, jetzt war sie lispelndes Kindergeschwätz.

      »Verdammt noch einmal, Sharon, spielen sie nicht das Kind, wenn mir's ernst ist!«

      »Verdammt noch einmal, Elmer, sagen Sie nicht ›verdammt noch einmal‹! Oh, ich hasse die kleinen Laster – Rauchen, Fluchen, Klatschen, grade so viel trinken, daß man dumm davon wird. Ich liebe die großen – Mord, Wollust, Grausamkeit, Haß!«

      »Und Cecil? Ist der auch eines von den großen Lastern, die Sie lieben?«

      »Ach, der ist ein lieber Junge. So süß, wie er sich ernst nimmt.«

      »Ja, er muß in der Liebe sein wie eine Portion Gefrorenes.«

      »Sie würden sich wundern! Na, na! Der arme Mann brennt ja darauf, daß ich was Gemeines über Cecil sag'! Ich will anständig sein. Er hat eine Menge für mich getan. Er versteht wirklich was; er ist nicht eine wunderschöne Gußeisenstatue voll Unwissenheit wie Sie oder ich.«

      »Jetzt passen Sie mal auf, Sharon! Wie immer es auch ist, ich bin College-Absolvent, und richtiger B. D.«

      »Das hab' ich ja gesagt. Cecil weiß wirklich vorzutragen. Und er hat mir auch beigebracht, daß ich mich nicht mehr wie ein Dienstmädel benehme. Aber – ach, ich hab' alles gelernt, was er mich lehren kann, und wenn ich noch mehr von den Weisheiten schluck', werd' ich die Fühlung mit den gewöhnlichen Leuten verlieren – Gott segne ihre lieben, guten, ehrlichen Seelen!«

      »Schmeißen Sie ihn raus. Nehmen Sie mich. Ach, es ist nicht das Geld. Das müssen Sie wissen, meine Liebe. In zehn Jahren, mit achtunddreißig, kann ich Verkaufsdirektor bei der Pequot sein – wahrscheinlich Zehntausend im Jahr – und vielleicht einmal Generaldirektor mit dreißig Mille. Ich seh' mich nicht nach einer Stellung um. Aber – Ach, ich bin verrückt nach Ihnen! Außer meiner Mutter sind Sie der einzige Mensch, den ich in meinem ganzen Leben verehrt hab'. Ich liebe Sie! Hören Sie mich? Verdammt noch einmal – ja – verdammt noch einmal, hab' ich gesagt – ich bete Sie an! O Sharon, Sharon, Sharon! Wie ich allen Leuten erzählt hab', daß Sie mich bekehrt haben, hab' ich nicht bloß in den Wind geredet, weil Sie mich wirklich bekehrt haben. Wollen Sie mich Ihnen dienen lassen? Und wollen Sie mich vielleicht heiraten?«

      »Nein. Ich glaub', ich werd' nie heiraten – richtig heiraten. Vielleicht werd' ich Cecil rausschmeißen – der arme nette Kerl – und Sie nehmen. Ich will mal sehen. Auf jeden Fall – lassen Sie mich nachdenken.«

      Sie schüttelte seinen Arm ab und saß überlegend da, das Kinn in der Hand. Er saß zu ihren Füßen – geistig sowohl wie körperlich.

      Sie machte ihn glücklich:

      »Im September hab' ich nur vier Wochen lang Meetings, in Vincennes. Den ganzen Oktober werd' ich Ferien machen, vor meiner Winterarbeit, (da werden Sie mich gar nicht wiedererkennen – ich bin einfach blendend, ich spreche drinnen, in großen Sälen!) und nach Haus fahren, zum alten Falconer-Familiensitz in Virginien. Pappy und Mam sind jetzt tot, und er gehört mir. Eine alte Plantage. Möchten Sie dorthin zu mir kommen, wir sind dann nur zu zweit, auf vierzehn Tage im Oktober?«

      »Ob ich möchte? Mein Gott!«

      »Können Sie sich frei machen?«

      »Und wenn's mich meine Stellung kostet!«

      »Dann – ich werd' Ihnen telegraphieren, sobald ich dort bin, wann Sie kommen sollen: Hanning Hall, Broughton, Virginia. So, und jetzt glaub' ich, werden wir schlafen gehen, mein Lieber. Angenehme Träume.«

      »Darf ich Sie nicht zu Bett bringen?«

      »Nein, mein Lieber. Ich könnte vergessen, daß ich Schwester Falconer bin! Gute