starb – doch sollten Johanna und Hendrik noch schwerere Prüfungen erfahren. Das Jahr war fast zu Ende, als das Thermometer auf ungewohnte Höhen stieg. Am 8. November wurden in der Limburgischen Bucht vom Wetterdienst 21 Grad Celsius gemessen, jeder wollte die letzten schönen Tage des Jahres 1955 genießen. So auch die Bewohner der Middelburgstraat. Man ging zu Onkel Klaas und Tante Beppie, die einen Steinwurf weit vom Haus der Familie entfernt wohnten. Keiner ahnte in diesem Moment, welch dramatische Wende dieser schöne Tag noch nehmen würde.
Es war gemütlich, die Kinder waren im kleinen Garten hinter dem Haus ins Spiel vertieft. Die Erwachsenen sprachen über die Neuigkeiten des Tages, aber hauptsächlich über das ungewöhnlich schöne Wetter. Eigentlich müssten jetzt Novemberstürme über das Land fegen, bemerkte Hendrik. Er wusste nicht, dass ein verwüstender Sturm anderer Art sie in kurzer Zeit erreichen würde. Beppie verteilte Äpfel an die Kinder und während Johanna einen Apfel für ihren ältesten Sohn George schälte, naschte auch die kleine Ingrid von den Apfelstücken. Wie es genau passiert war, wusste später keiner mehr, aber plötzlich verschluckte sich das Mädchen. Ein Stückchen Apfel, das in die Luftröhre geraten war, konnte das Kind nicht aushusten. Alle Anwesenden gerieten in Panik, man versuchte, das Kind dazu zu bringen, sich zu übergeben, aber das gelang nicht, sodass es zu ersticken drohte. Vater Hendrik nahm die Kleine aus Johannas Armen und raste mit einem in aller Eile gerufenen Taxi ins St.-Josef-Krankenhaus in Heerlen. Als er nach fünf Minuten dort eintraf, versuchten die Ärzte alles, die Kleine zu retten. Doch trotz aller Bemühungen starb die kleine Ingrid, erstickt an einem Stückchen Apfel. Johanna und Hendrik waren untröstlich.
Trotz des großen Leids musste das Leben weitergehen, es waren immer noch zwei Kinder da, um die man sich kümmern musste, der fünfjährige George und der neu dazugekommene Heintje. In dieser Zeit kam immer mal wieder ein Scherenschleifer durch die Middelburgstraat. Die Frau, die ihn begleitete, bot den Leuten Handlesen und Tarotkartenlegen an.
Als die Mutter einmal ein paar Sachen zum Schleifen brachte, fragte diese Frau, ob sie Johanna die Hand lesen dürfe. Der Vater wollte nichts davon wissen, er glaubte nicht an solche Sachen, doch seine Frau blieb hartnäckig. Nach vielem Hin und Her gab er nach und Johanna reichte der Frau ihre Hand. Das erste, was die Frau sagte, war, dass Johanna und Hendrik durch den Verlust von zwei geliebten Menschen von großer Trauer gebeugt wären. Wusste sie vom Tod von Johannas Mutter und der kleinen Ingrid oder stand es in ihren Karten? Auf jeden Fall blieb Johanna und hörte weiter zu. Sie müsse, so sagte die Frau weiter, dieses Leid bis ans Ende ihrer Tage tragen. Aber durch die anderen Kinder werde sie durch die Welt kommen und große Liegenschaften erwerben. »Ich sehe, dass eines ihrer Kinder eine besondere Rolle zu erfüllen hat.« Oft dachte die Mutter später an die Worte dieser Frau und sagte immer dazu: »Ich bin ja nicht abergläubisch, aber …«
Doch so weit war es noch lange nicht, vorläufig wohnten Trauer und Leid zwischen den Mauern in der Middelburgstraat 5. Dazu wurden die Sorgen um den Vater immer größer. Die ungesunde Arbeit von Hendrik Simons machte sich jeden Morgen beim Aufstehen durch kaum stillbare Hustenanfälle bemerkbar. Trotz allem arbeitete er weiter, es musste ja Brot auf den Tisch kommen. Sich zurückziehen oder auf Teilzeitarbeit zu gehen, würde bedeuten, dass Ende der Woche weniger Geld in der Lohntüte war. Aber seinen Söhnen wollte Hendrik ersparen, mit 16 im Bergwerk zu arbeiten, wie er selbst es musste, das sagte er immer wieder.
So gut es ging, versuchten Hendrik und Johanna, nach dem Tod der kleinen Ingrid wieder in ihren normalen Alltag zurückzufinden. Auch, weil sie nicht wollten, dass ihre beiden Jungen unter der traurigen Situation zu Hause zu sehr leiden müssen, aber intuitiv spürten beide Kinder die Trauer der Eltern. Sie blieben oft allein oder gingen auf Besuch zu Onkel Klaas und Tante Beppie, weil dort eine entspanntere Atmosphäre herrschte und die Trauer weniger spürbar war. George, der fünf Jahre älter ist als Heintje, kam in die erste Klasse der Schule des Viertels Sint Jan.
Heintje war noch bei der Mutter zu Hause und sah sie manchmal weinen. Dann wollte er sie trösten, indem er ihr etwas vorsang. Vielleicht wurde er deshalb, so erzählt Johanna später, so ein feinfühliges Kind. Auf der anderen Seite war Heintje ein aufgeweckter Bursche, nicht ängstlich und stets zu Streichen bereit, ein fröhlicher Junge, der mit großer Freude verfolgte, wie der Karnevalsumzug und die Fanfaren durch Heerlen zogen. Henriks Bruder meinte einmal so nebenbei, dass der Junge später vielleicht mal in einem Zirkus auftreten sollte! Auf jeden Fall glaubte er, dass die Bühne sein Zuhause werden könnte. Ins Leben seiner Eltern brachte er mit seiner Fantasie und seinen Kapriolen Fröhlichkeit. Neben seiner künstlerischen Seite steckte in ihm auch ein großer Lausbub. Wenn irgendwo im Viertel etwas los war, war Heintje mit Sicherheit dabei. Klingelte es an der Tür, wussten Vater und Mutter, dass er wieder etwas angestellt hatte. Doch konnte man ihn selten erwischen, meist war er schneller als der Blitz. Das brachte ihm im Viertel den Spitznamen »Sputnik« ein. Er war unruhig wie ein Sack voll Hummeln.
Hendrik in Brunssum
Der Vater war inzwischen von der »Oranje Nassau Mijn« zur »Prins Hendrik Mijn« in Brunssum versetzt worden, dort arbeitete er nur noch in der Tagschicht, was nicht ganz so anstrengend war. Jeden Morgen um halb sieben wurde Hendrik mit seinem von der Mutter gepackten »pungeltje«, in dem sein Mittagessen war, von einem Bus der Bergwerksgesellschaft abgeholt. Eine halbe Stunde später war er unter Tage. Die »Prins Hendrik Mijn« hatte mit 1058 Metern den tiefsten Schacht von ganz Holland und acht übereinanderliegende Fördersohlen. Sie war als sehr gefährlich bekannt und jeder wusste, dass hier oft Unfälle passierten. Eine Gasexplosion, die 13 Menschen das Leben kostete, wurde zum Beispiel 1928 ausgelöst, als sich bei einem Kontrollgang ausgetretenes Grubengas durch eine Benzinlampe entzündete. Weil dieser Unfall an einem Freitag, dem 13. passierte und auch 13 Todesopfer forderte, wurde er von den abergläubischen Einwohnern von Brunssum dem Teufel zugeschrieben. Wieder 13 Todesopfer waren 1947 zu beklagen. Diesmal war ein Feuer in einem Lüftungsschacht ausgebrochen. Das Wissen um die immer gegenwärtige Gefahr schaffte ein starkes Band der Zusammenhörigkeit bei den Frauen und Kindern der Kumpel.
Manchmal, wenn der Vater einen freien Tag hatte, durfte Heintje mitfahren auf dem »Töff«, der Bergwerksbahn, und sie bestiegen zusammen den Förderturm des Bergwerks. So beeindruckend der weite Blick vom Turm auf die Erdoberfläche war, so eng und beängstigend war der Blick in den Schacht, der unter die Erde führte. Davor hatte das Kind Angst. Nie würde er mit dem Vater in den Lift steigen, um nach unten zu fahren. Nach der Fahrt auf den Turm kaufte der Vater Heintje eine »penny wafel« (eine knusprige Waffel mit Schokoladenfüllung).
Hin und wieder holte Heintje seinen Vater vor der Schachtbaracke ab, in die die Kumpel nach Ende ihrer Schicht gingen, unerkennbar und schwarz von Kohlenstaub! Man säuberte sich in den Duschräumen des Minengebäudes, wo die Männer einander die Rücken schrubbten. Der Anblick der mit Staub und Ruß beschmierten Männer prägte die oft gehörten Worte des Vaters fest in Heintjes Kopf ein. Nie und nimmer, so versprach er sich selbst, wird er je einen Fuß in ein Bergwerk setzen. Einen Vorsatz, den er 40 Jahre später ein bisschen bereute. Der Vater mochte gedacht haben, das sei Desinteresse von Heintje, aber es war eine große, tiefe Angst.
Nach dem Kindergarten ging Heintje genau wie sein Bruder George in die katholische Grundschule Sint Jan in der Pannesheidestraat in Heerlen. Er war ein mittelmäßiger Schüler, ließ sich leicht ablenken und träumte davon, Fußballer zu werden. Auch Musik hatte er gern. Piet de Munter, ein bekannter Tenor, wohnte im gleichen Viertel und Heintje hörte oft dessen Gesang, wenn er durch die Straße lief. Einmal fragte er Piet de Munter, ob er mit ihm singen dürfe. So sangen beide bald die populären Lieder der Zeit zusammen. Heintje genoss das aus vollem Herzen. Doch war er nicht nur wegen des Singens im Viertel bekannt, sondern vor allem durch seine Streiche. Zu Hause ging es langsam besser und groß war die Freude dann auch, als am 6. Juni 1959 noch einmal ein Mädchen geboren wurde, das die Eltern wieder Ingrid nennen.
Als Heintjes zweites Schuljahr begann, wurde Vater Simons wegen Staublunge entlassen und musste sich mit seiner angeschlagenen Gesundheit eine andere Arbeit suchen, was natürlich finanzielle Konsequenzen hatte. Er hatte 24 Jahre – von seinem 16. bis zu seinem 40. Lebensjahr – unter Tage gearbeitet. Dazu kam noch, dass die Familie aus dem Haus in der Middelburgstraat, das der Bergwerksgesellschaft gehörte, ausziehen musste. Fast ein Vierteljahrhundert hatte Hendrik das schwarze Gold aus der Erde geholt, immer sein Bestes gegeben