Vereinbarung eingegangen, zusammen einen Raum für freien Selbstausdruck und Selbsterforschung zu schaffen. Hier sind die Beziehungen zueinander dynamisch, humorvoll, authentisch, intim und somit förderlich für persönliches Wachstum. Jeder erlaubt dem anderen, sich frei auszudrücken, ohne von kulturbedingten Vorannahmen eingeschnürt zu sein. Es wird dann möglich, sich einander mit aufrichtiger Neugier zu begegnen. Wäre es nicht wundervoll, wenn wir Menschen im Allgemeinen in der Lage wären, so miteinander umzugehen? Eine derartig energische und gleichzeitig einfühlsame Haltung wäre eine Methode, die zur gegenseitigen Befreiung führt. Wie viele intime und intensive Beziehungen könntest du zu ganz verschiedenen Menschen haben, wenn es auch im alltäglichen Leben eine solche unausgesprochene Vereinbarung gäbe wie im Theater.
Der deutsche Psychologe Fritz Perls machte die sogenannte Gestalttherapie populär. Ziel dieser Therapie ist es, die Bewusstheit zu schärfen. Dazu gehört es, die eigenen Gefühle besser zu erkennen, Empfindungen in dem Moment wahrzunehmen, in dem sie auftauchen, und größere Aufmerksamkeit darauf zu richten, was im zwischenmenschlichen Umgang von Augenblick zu Augenblick emotional passiert. Perls Grundidee war, dass jeder Mensch untrennbar von seiner Umwelt ist. In diesem Sinne sind Selbsterkenntnis, das Verstehen der Mitmenschen und das Verstehen des Kontextes, sowohl innerlich als auch äußerlich, Aspekte ein und desselben Prozesses. Es ist nicht verwunderlich, dass Perls sich auch besonders für die Schauspielkunst interessierte. In der Theaterpraxis gibt es viele Übungen, durch die man seine Kommunikationsfähigkeit verbessern kann, besonders was Kreativität und Spontaneität betrifft.
Eine der Theaterübungen, die Perls an die Gestalttherapie angepasst hat, heißt »leerer Stuhl«. Ein Patient oder Klient sitzt einem unbesetzten Stuhl gegenüber. Er stellt sich vor, dass jemand auf diesem Stuhl sitzt – das kann eine andere Person sein oder aber auch ein Teilaspekt des eigenen Ich. Die Übung besteht darin, dass der Klient dann mit der in der Fantasie vorgestellten Person kommuniziert. Dadurch, dass die andere Person oder die personifizierten eigenen Gefühle und Gedanken auf den leeren Stuhl projiziert werden, können Dinge ausgedrückt und näher untersucht werden, die ansonsten unterdrückt blieben. Im zweiten Schritt kann sich dann der Klient auf den leeren Stuhl setzen und die Rolle des anderen spielen. Der Effekt dieser Übung kann es sein, dass man widersprüchliche Teilaspekte in sich selbst versöhnt oder dass man seine Perspektive in Hinsicht auf die Beziehung zu einem anderen erweitert. Dieselbe Übung gibt es in verschiedenen Varianten, mit oder ohne Stuhl oder mit anderen Requisiten. In jedem Fall geht es darum, eine Erfahrung ins Hier und Jetzt zu bringen, um sie dann untersuchen und verarbeiten zu können. Genau das ist auch die Aufgabe des Schauspielers, wenn er oder sie eine Rolle verkörpert. Es ist auch die Aufgabe eines Menschen, der sich vollständig auf das Leben einlassen will.
Als ich klein war, las ich oft Comics aus Indien, in denen zahlreiche Menschen, Götter, Göttinnen, Krieger, Dämonen, anthropomorphe Wesen und Tiere vorkamen. Viele der Geschichten aus der vedischen und hinduisti- schen Tradition hatten ein Thema gemeinsam: die Fluidität, mit der verschiedene Wesen sich zwischen allen Daseinsebenen ein- und ausbewegen. Die Schöpfungskraft des Lebens drückt sich auf unendlich vielfache, wild kreative Weise aus. Somit bist du ein Avatar Gottes, der ursprüngliche Ausdruck einer Stimme, die niemals wieder auf exakt dieselbe Weise wiedergegeben werden kann, genauso wie eine mythologische Figur in einem Theaterstück, dessen Autor du bist und in dem du selbst mitspielst, als Schauspieler, dessen Aufgabe es ist, den gegenwärtigen Augenblick hervorzubringen. Du bist beides, das Geschöpf und der Schöpfer, der unentbehrliche Mitarbeiter an der Erschaffung neuen Lebens.
In dem Augenblick, in dem es dir klar wird, dass genau das deine Rolle ist, wird das Leben zu einem großen Abenteuer. Das, was du als Beitrag bringst, kann von keinem anderen gebracht werden. Niemand kann dich kopieren. Diesen Beitrag zu bringen, ist also nichts weniger als eine göttliche Aufgabe.
Martin Buber stellte die Teilnahme am Leben in den Kontext der Beziehung zwischen dem Ich und dem Du. Das Du ist dabei das Auge Gottes, der Puls allen Seins, die Heiligkeit der Schöpfung. So wie du der Chefkoch bist, der ein göttliches Mahl kocht, bist du das süße Salz, welches die Essenz des Mahles ausmacht. Und ebenso bist du der Dirigent des Symphonieorchesters und gleichzeitig der Musiker, der die erste Geige spielt. Und genau jetzt, in dem Augenblick, in dem du diese Worte liest, bist du das Christuskind, das im Begriff ist, geboren zu werden, und du bist auch die Hebamme, die bei seiner Geburt assistiert. Wenn du im Wald stehst, kannst du die Rinde eines Baumes bewundern, dem Wind zuhören, wie er die Äste verbiegt, die kühle Brise auf deiner Haut spüren und den Duft verborgener Blumen sanft und sacht in deine Nasenlöcher einlassen. Du spürst und empfängst und nimmst diesen Wald in dich auf und genauso spürt und empfängt und nimmt er dich auch in sich auf. Ihr kommt beide von demselben Nichts und bewegt euch durch dasselbe All. Du bist ich und du bist du, du bist verschieden und doch gleichzeitig ein und dasselbe.
An einem Sonntagabend, als ich ungefähr sieben Jahre alt war, veranstalteten mein Vater, mein Bruder und ich eine kleine Feier zu Hause in Hawaii. Die Orte, an denen mein Vater wohnte, waren immer durch einen bestimmten Geruch charakterisiert und mit einem speziellen Gefühl verbunden. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass er in den Siebziger- und Achtzigerjahren so stark unter dem Einfluss von Indien stand, aber auf jeden Fall gab es immer brennende Räucherstäbchen, deren Geruch sich mit dem von Marihuana und Haschisch vermischte. Dazu indische Musik im Hintergrund, mit exotischen Akkorden, Trommeln, melodischen Gesängen. Gläser rochen nach Gin, Limonen, Tonic und Rotwein, Rasierwasser und Feuerzeugbenzin. Gerösteter Knoblauch, angebrannter Curry, Holzschnitzereien und ganze Stapel alter Bücher – alles Gegenstände, die seit Jahren von diesen Gerüchen durchtränkt worden waren.
An diesem Abend war es schon sehr spät, deutlich nach Mitternacht, und am nächsten Tag mussten wir früh aufstehen, um mit meinem Vater zur Uni zu fahren. Wir hatten den ganzen Abend Karten gespielt und schließlich schlug mein Vater vor, albern und verspielt wie immer, auf die Straße zu gehen, um den Planeten Mars am Himmel zu suchen. Gerade als wir den roten Planeten durch die nebligen Wolken scheinen sahen, fing ein tropischer Regen an. Wir rannten zum Haus zurück und als wir an der Tür ankamen, hörten wir das rhythmische Klopfen der schweren Regentropfen auf dem Dach unseres einstöckigen Hauses.
Natürlich hatte mein Vater wieder den Schlüssel vergessen und wir waren aus dem Haus ausgeschlossen. Das war nicht das erste Mal, aber vorher war ich immer klein genug gewesen, um durch die Hundetür ins Haus hineinzukriechen und die Haustür von innen zu öffnen. Jetzt war ich aber nicht mehr fünf, sondern sieben, und ich passte nicht mehr durch die enge Öffnung hindurch. Daher versuchte mein Vater, das Schloss mit seiner Kreditkarte aufzumachen. Der einzige Erfolg war, dass die Alarmanlage losdröhnte.
»Es darf doch nicht wahr sein, du machst wohl Witze!«, rief mein Vater. Das »du«, zu dem er sprach, war wohl er selbst, und das »es« war das »es« in »es regnet«. Der Regen stürzte weiter herab und wir waren schon völlig durchnässt. So standen wir vor unserem Haus, um ein Uhr nachts. Der Alarm war so laut, dass wir auf die Straße zurückgingen, bis an die Ecke des Nachbargrundstücks. Der Regen wurde noch stärker, fast wie ein Monsun. Mein Bruder, der ein paar Jahre älter war als ich, fragte: »Was machen wir denn jetzt?« Mein Vater war völlig wach und gegenwärtig und hatte keine Ahnung, was zu tun war. Plötzlich rief er: »Okay, jan ken po«, was so viel bedeutete wie »Spielen wir eine Runde Schere, Stein, Papier«. »Ich verstehe nicht«, sagte ich, als mein Bruder und er tatsächlich anfingen, zu spielen. »Komm, Sebastian, spiel mit, einfach nur so«, sagte mein Bruder. Und diese Begründung ist so gut wie jede andere.
Da standen wir zu dritt, mitten in der Nacht, klatschnass an der Straßenecke. Die Alarmanlage schallte durch die Nachbarschaft, der warme, orangefarbene Glanz des Wohnzimmerlichtes fiel auf die Zufahrt zum Haus. Indische Musik spielte immer noch fern im Hintergrund und verschmolz mit dem Peitschen des Windes, dem strömenden Regen und dem schrillen Klang des Hausalarms. Wir gaben uns ganz hin, an uns selbst, einander, an die Nacht, an das Leben als Ganzes, an den ewigen Augenblick, das ewige Ich und das mystische Du … Wir spielten unser Spiel und wir lernten, uns selbst zu feiern.
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