Ueli Kraft

Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)


Скачать книгу

Fragen. Und natürlich danken wir vor allem den Autorinnen und Autoren, die sich die Zeit genommen haben, einen Teil ihres Erfahrungswissens für uns aufzuschreiben, es mit uns zu teilen.

      Die Herausgeberinnen und der Herausgeber

      Basel, Forch, Schaffhausen, im März 2021

      Teil I:

      Grundlegendes zur Lerntherapie

      1 Fragmentarisches zur Geschichte der Lerntherapie – ‹avant la lettre› bis zu den eigentlichen Anfängen

      Ueli Kraft

      In diesem Kapitel werden die Anfänge der Lerntherapie, welche weiter zurückreichen, als man vermuten würde, aus historischer Perspektive erkundet. Der Beitrag befasst sich zunächst mit der Frühgeschichte, während der Pionierinnen und Pioniere lerntherapeutisch gearbeitet haben, lange bevor der Begriff geprägt worden ist. Wir finden diese im Umfeld der psychoanalytischen Pädagogik, welche die vor circa 100 Jahren entstandene Erziehungsberatung stark beeinflusste, in deren Rahmen Schul- und Lernprobleme sehr häufig den primären Beratungsanlass boten. Im Zusammenhang mit der in etwa halb so alten Geschichte der eigentlichen Lerntherapie werden die frühen und zum Teil voneinander abgeschotteten Konzeptionen der wichtigsten Exponenten nachgezeichnet und die Antwort auf die Frage gesucht, wer den Begriff der Lerntherapie ursprünglich geprägt hat. Die reiche Vielfalt lerntherapeutischer Zugänge wird in der Hoffnung skizziert, daraus – auch auf der Metaebene verschiedener lerntherapeutischer Schulen – Lust auf bereichernde Begegnungen zu wecken.

      1.1 Zur Sache

      Der Versuch, wenigstens Teile der Entstehungsgeschichte der Lerntherapie zu rekonstruieren, setzt aus Schweizer Perspektive zunächst bei Armin Metzger (1945–2019) an – und stösst auf unerwartete Schwierigkeiten: bevor er 2011 sein von ihm 1990 gegründetes Institut für Lerntherapie verkaufte, liess er das Institutsarchiv aus unbekannten Gründen entsorgen. Abgesehen von seinen beiden Buchpublikationen – «Lerntherapie. Wege aus der Lernblockade – Ein Konzept» (2001) und «Lerntherapie in Theorie und Praxis» (2008) – hat er vergleichsweise wenig publiziert. Er erwähnt eine unveröffentlichte Diplomarbeit in Heilpädagogik aus dem Jahr 1972 («Schach in der Hilfsschule»), welche «Wechselwirkungen zwischen Kognition und Emotion» fokussiert (2008, S. 137). Eine zweite – ebenfalls unzugängliche – Diplomarbeit in Erziehungs- und Schulberatung aus dem Jahr 1975 («Apropos Beobachtungsklasse») wird lediglich im Literaturverzeichnis angeführt (2008, S. 408). Seine zeitnah zur Institutsgründung eingereichte Dissertation («Begegnung und Beziehung als Auslöser von Entwicklung und Genesung – Zur Bedeutung der Psychotherapie für die Sonderpädagogik» (1990) beinhaltet zwar Ansätze einer theoretischen Grundlegung – das Thema «Lernen» wird aber nur ganz am Rande aufgegriffen und der Begriff «Lerntherapie» kommt gar nicht vor. Zu dem von einer ehemaligen Studentin des Instituts herausgegebenen Buch «Lerntherapie in der Praxis» steuert er ein kurzes Vorwort und eine Darstellung seines Vierstufenmodells bei (Suter, 2003, S. 14–20). Ein Tagungsbeitrag «Lerntherapie – Auf den Spuren der Persönlichkeit» wurde 2003 veröffentlicht, ein kurzer Handbuchartikel («Lerntherapie») 2014.

      Verweise auf die in Deutschland seit den Achtzigerjahren bestehende Tradition der Lerntherapie sind bei Metzger äusserst spärlich. 2008 erwähnt er – ohne inhaltliche Bezüge – Betz und Breuninger, welche den Begriff der Lerntherapie bereits 1987 verwenden. In seinem Handbuchartikel findet sich lediglich ein Satz: «Weitere Ausdifferenzierungen der lerntherapeutischen Konzepte lassen sich derzeit im Ansatz der ‹strukturellen Lerntherapie› (vgl. Betz & Breuninger, 1987), in der ‹integrativen Lerntherapie› (vgl. Nolte, 2008) und in der ‹bewältigungsorientierten Lerntherapie› (vgl. Ruff, 2007) erkennen» (Metzger, 2014, S. 153). Aus historischer Perspektive helfen die erwähnten Autorinnen und der Autor auch nicht weiter, abgesehen vom Ergebnis einer bereits 1987 belegten Verwendung des Begriffs.

      Wer dann mit gleichschwebender Aufmerksamkeit zu Expeditionen in die Tiefen des World Wide Web aufbricht, häuft zunächst ein kaum überblickbares Konvolut an überwiegend unbrauchbaren Texten an, macht aber auch unerwartete Entdeckungen. Die erstaunlichste sei vorweggenommen: Idee und Praxis dessen, was wir heute als Lerntherapie bezeichnen, haben offenbar eine wesentlich längere Vorgeschichte, als die aktuelle Fachliteratur suggeriert. Wer diese allerdings detailliert beschreiben wollte, würde einige Lebensjahre übrig haben und einen potenten Financier oder eine potenten Financière finden müssen. Wer beides nicht hat, kann sich – in der Sprache der Archäologie – immerhin darauf konzentrieren, Sondiergrabungen vorzunehmen, welche das Feld wenigstens in einigen Hinsichten strukturieren helfen.

      1.2 Biografische Reminiszenzen

      Nichthistorikerinnen und -historiker auf Spurensuche nach Vorläufern heutiger Lerntherapie tun dies mit eingeschränktem Handwerkszeug. Aber seit Lindqvist 1978 «Grabe, wo du stehst. Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte» (deutsch 1989) veröffentlicht hat, können historische Laien mit gutem Gewissen dort ansetzen, wo Erinnerungen aus dem Bereich eigener Erfahrungen zugänglich sind:

      Zu meinen Kindheitsschätzen gehört eine von Kinderhand modellierte und bemalte kleine Schildkröte. Entstanden ist sie im Rahmen von Therapiestunden in der damaligen kantonalen Erziehungsberatungsstelle in Schaffhausen. Nach einem 1959 erfolgten Umzug aus einer Kleinstadt in ein Bauerndorf war ich sozial überfordert und zeigte grosse Mühe, mich in die neue 2. Klasse zu integrieren. Vor der Lehrerin hatte ich Angst (sie reagierte auf Verstösse gegen – mir nicht bekannte – Regeln mit Schlägen), meine Noten sanken. Die permanenten Ermahnungen meiner ängstlichen Mutter, mir mehr Mühe zu geben, halfen auch nichts. Ich wurde zu einer psychologischen Abklärung gebracht, woraus sich eine Therapie bei einem lieben älteren Mann ergab, dessen Namen ich heute noch weiss. Diese dauerte sicher 20 Stunden und folgten – wahrscheinlich nach einer testpsychologischen Abklärung, an die ich mich nur sehr vage erinnere – einem einfachen Ablauf: Jede Stunde begann mit einem für mich unvertraut langen Gespräch, anschliessend durfte ich malen, modellieren und mit dem wunderbaren kleinen Sandkasten auf Rädern und den kleinen Menschen- und Tierfiguren spielen. Ich genoss die geduldige Aufmerksamkeit des Therapeuten und war traurig, als meine schulischen Leistungen stiegen und ich nicht mehr hindurfte.

      Jahre später: als frisch ausgebildeter «Psychologe mit Fachrichtung Berufsberatung» (inklusive bereits drei Jahren Teilzeiterfahrung als Berufsberater in Schaffhausen) war ich vom testdiagnostisch dominierten Arbeitsalltag bereits ernüchtert und verzichtete auf eine angebotene Festanstellung. Zufällig ergab sich an der bereits genannten Erziehungsberatungsstelle 1976 eine Möglichkeit, das parallel begonnene Studium der Psychologie und der Sonderpädagogik an der Uni Zürich weiter finanzieren zu können. Als gut ausgebildeter und bereits etwas erfahrener Test- und Psychodiagnostiker hatte ich – in Teilzeit – Schulabklärungen und Begutachtungen zu machen, aber auch Beratungen von Eltern. Ab und an liess man mich vertiefter mit einzelnen Kindern arbeiten, was man damals gleichermassen grosszügig und ungefähr als Spieltherapie bezeichnete. Da war er wieder, der kleine Sandkasten mit den vielen Figuren (meine Akte von 1959 wurde zu Beginn der 70er-Jahre allerdings leider geschreddert). Erinnern kann ich mich durchaus auch an stattgefundene supervisierende Gespräche mit dem vor der Pensionierung stehenden Stellenleiter; ich glaube auch zu wissen, dass der spätere neue Leiter die Auflage erhielt, eine psychotherapeutische Ausbildung nachzuholen.

      Im Zusammenhang mit unserem Anliegen war ich überrascht, dass mir dies in all den Jahren noch nie aufgefallen war: Was ich 1959 als Kind auf einer Erziehungsberatungsstelle erlebte, war nach heutigem Verständnis eine psychologisch-therapeutische Lerntherapie. Sie ging die Schwierigkeiten an, welche hinter dem Symptom gestörten Lernens lagen – und beseitigte damit auch die Lernprobleme nachhaltig.

      Anzumerken ist weiter: In der Schweiz war die Bezeichnung «Erziehungsberatung» für Dienststellen, welche sich mit schulpsychologischen Fragestellungen befassten, damals die gebräuchlichste. Allerdings zeichnete sich in den 50er- und 60er-Jahren bereits ab, dass die schulpsychologischen Dienste eher nahe der Schule selbst und in Kooperation mit der Heilpädagogik operierten, während die Erziehungsberatungsstellen ihre Arbeit eher psychologisch-therapeutisch verstanden.