Ueli Kraft

Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)


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sei (1932, S. 527f.). Redl schlägt dafür nach längerer Diskussion den Begriff der Erziehungsbehandlung vor (a.a.O., S. 530). Er fordert, dass «den maßgebenden Instanzen die Begriffe Erziehungsberatung, Erziehungshilfe, Erziehungsbehandlung klar dargestellt werden» sollten. «Heute stehen wir einem Knäuel von Widerständen gegenüber, ihre Erledigung wird erschwert, wenn die dreischichtige Aufgabe mit dem Wort ‹Erziehungsberatung› bezeichnet wird» (a.a.O., S. 532).

      1.3.3 Die psychoanalytische Pädagogik im Schweizer Exil

      Der Faschismus der 30er- und der Kriegsjahre haben es mit sich gebracht, dass die Psychoanalyse nach der Flucht der Familie Freud aus Wien schwierige Zeiten durchlebte. Verschwunden ist sie allerdings auch in Deutschland nicht, die Schriften Sigmund Freuds blieben zugänglich und an den Hochschulen beachtet (vgl. Peglau, 2019). Die zentralen Konzepte wurden allerdings teilweise modifiziert verwendet – Wininger fragt im Titel seines Buches zur Rezeption der Psychoanalyse durch die akademische Pädagogik zwischen 1900 und 1945: «Steinbruch Psychoanalyse?» (vgl. 2011, S. 262). Der von der ZfpP gepflegte psychoanalytisch-pädagogische Austausch kam aber zunächst einmal zum Erliegen. Ernst Federn – Psychoanalytiker und Gewaltforscher, 1938–1945 als Jude und Antifaschist in Lagerhaft – schreibt: « … die eigentliche Psychoanalytische Pädagogik gab es nur mehr bei Hans Zulliger in Bern» (1993, S. 75).[2]

      Zulliger ist schon in sehr frühen Jahren mit der Psychoanalyse in Kontakt gekommen.[3] Aus einfachen Verhältnissen stammend, lernte er in seiner Zeit am Bernischen Lehrerseminar den damaligen Direktor Ernst Schneider kennen, welcher von der neuen Lehre sehr begeistert war und im Psychologie-Unterricht seine Seminaristen damit vertraut machte – seine Vorgesetzten waren davon allerdings weniger angetan und entliessen ihn bald wieder. Zulliger arbeitete in der Folge als Lehrer und blieb der Psychoanalyse treu, freundete sich mit Oskar Pfister und Hermann Rorschach an, unterzog sich einer Psychoanalyse und tauchte einige Jahre später bei der ZfpP auf. Wahrscheinlich hat ihm Schneider den Weg ins Herausgeberteam geebnet. Er war mit Freud und seinem Kreis vertraut und freundschaftlich verbunden (besonders eng mit Aichhorn), wurde ernst genommen und steuerte die Idee der Gruppe zur psychoanalytischen Pädagogik bei. Obwohl er sein ganzes Arbeitsleben als Dorfschullehrer in Ittigen verbrachte, publizierte er äusserst produktiv Fachbücher[4] und Zeitschriftenartikel, die auch in der akademischen Welt weit herum beachtet und übersetzt wurden.

      Unumstritten war auch er nicht: Die Nazis setzten eines seiner Werke auf die Liste der verbotenen psychoanalytischen Bücher. Auch in der Schweiz hatte Zulliger auf der Hut zu sein. Er schreibt:

      Am Anfang betrieb ich das, was man heutzutage als, ‹kleine psychoanalytische Kinderpsychotherapie› bezeichnen würde. Ich tat es nach dem Vorbilde Pfisters, nachdem ich mich selber hatte analysieren lassen und neben Pfisters auch zahlreiche Schriften Freuds […] studiert hatte. Es war während einer Zeit, da die Psychoanalyse auch in der Schweiz in heftigster Weise angefochten wurde. Deshalb musste ich mit äußerster Vorsicht vorgehen. Also arbeitete ich gänzlich im Stillen, befreite einzelne Schülerinnen und Schüler von störenden Symptomen wie Lernhemmungen, Bettnässen, Stottern, reaktiver Aggressivität und Sich-nicht-einfügen-Können in die Gemeinschaft, Schuldgefühlreaktionen wegen Onanie, zwanghaften Diebereien – und ich hatte Anfängerglück. Darüber aber redete ich mit niemandem, um ungestört zu bleiben (zitiert nach Kasser, 1963, S. 38).

      In den Nachkriegsjahren galt er als einer der wichtigsten Kinderanalytiker, wurde als Pädagoge gar in die Liga von Pestalozzi und Rousseau gerückt und erhielt 1952 den Ehrendoktor der historisch-philosophischen Fakultät der Universität Bern. Zu dieser akademischen Ehrung soll Zulliger bemerkt haben, seit er den Dr. h.c. habe, werde er wenigstens mehr in Ruhe gelassen. 1955 folgte ein weiteres Ehrendoktorat der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg – Zulliger wurde auch in Deutschland als einer der führenden Pädagogen und Kindertherapeuten gesehen. In der Schweiz folgten Lehraufträge an den Universitäten Bern und Zürich. Er hat den Test seines Freundes Hermann Rorschach um eine Kurzform erweitert, welche breit eingesetzt wurde. Und er hat – durch den Ersten Weltkrieg um die Möglichkeit eines eigenen Hochschulstudiums gebracht – mit seiner wunderbar einfachen, klaren und direkten Sprache viele Menschen erreicht, von Akademikern bis zu ungebildeten Eltern im Rahmen seiner erziehungsberaterischen Praxis.

      Um unsere Frage nach dem inhaltlichen Nährboden der Erziehungsberatung wieder in den Vordergrund zu rücken: Zulliger dürfte die frühen – und informellen – Pioniere lerntherapeutischen Handelns während Jahrzehnten entscheidend beeinflusst und geprägt haben.

      1.3.4 Zwischenbilanz: Zur Bedeutung der ‹Frühgeschichte› für die heutige Lerntherapie

      Die Beschäftigung mit der Frühgeschichte der Lerntherapie – ‹avant la lettre› – eröffnet einen Zugang zu eindrücklichen Texten, welchen auch aus heutiger Perspektive hohe Relevanz zukommt und deren Lektüre immer noch lohnt. Entstanden aus der Auseinandersetzung mit dem mächtigen Theoriegebäude der Psychoanalyse nehmen die Arbeiten dabei meist eine dezidiert psychologisch-therapeutische Perspektive ein. Die frühen Pioniere dürfen in zwei Hinsichten als Vorläufer lerntherapeutischer Arbeit bezeichnet werden:

       Die Erziehungsberatung, auch als offizielle Bezeichnung früher Institutionalisierungen, lässt sich als grosszügig bemessenes Sammelbecken verschiedenster Bemühungen verstehen, Kindern und Jugendlichen, deren Eltern und mitunter auch Lehrpersonen unter die Arme zu greifen. Sich auf die – wie immer geartete – Persönlichkeit der Klienten einzulassen steht im Vordergrund, Schulschwierigkeiten werden als Begleitsymptome zunächst allgemeiner Schwierigkeiten verstanden und nicht als das eigentliche Problem. Lösungen dieser Schwierigkeiten können ohne eine gute Beziehung der Klienten zur Person der Beratenden kaum gefunden werden. Methodisch stehen Beobachtungen und Gespräche im Vordergrund. Testdiagnostische Verfahren und strukturierte Anamnese-Instrumente werden – wenn überhaupt – erst eingesetzt, wenn die Beziehung der Klienten zur beratenden Person belastbar geworden ist und erzieherische Interventionen überhaupt greifen können. Dies bedeutet, dass sich diese Hilfestellungen – oft bei Klienten und deren Eltern – über längere Zeiträume erstrecken müssen, um die Probleme nachhaltig und in Kooperation lösen zu können.

       Bei allen Unterschieden des psychologisch-therapeutischen Vorgehens – vor allem in der Tiefe des Zugangs – arbeiten die Berater durchaus auch lerntherapeutisch im heutigen Sinn: «On fait c’qu’on peut avec c’qu’on a»[5], je nach dem therapeutischen Rucksack, welchen die beratende Person dabei hat. In verschiedensten Arbeiten wird allerdings explizit betont, dass sich eine psychoanalytisch-pädagogische Beratung von einer Kinderanalyse unterscheidet, und dass noch so engagierte Lektüre psychoanalytischer Texte ohne eigene Analyse dazu nicht befähigen. Immerhin auffällig: die Psychoanalyse scheint in diesen frühen Jahren für viele pädagogisch Tätige so attraktiv gewesen zu sein, dass sie sich einer vollen psychoanalytischen Ausbildung unterzogen haben. Wo wir heutige Lerntherapien sozusagen aus einer Hand anbieten und Überweisungen primär bei sehr schwierigen Fällen oder dem Verdacht auf psychische Erkrankungen vornehmen, sind diese Abgrenzungsprobleme nach wie vor dieselben. So schwer dies sprachlich zu fassen ist – so kreativ die gefundenen Wortschöpfungen (vgl. 2.2.3): Kleinanalysen (Zulliger); analytisch orientierte Pädagogik (Pfister und Zulliger); Arbeit nach analytischen Gesichtspunkten; Erziehung, welche sich die Erkenntnisse der Psychoanalyse zunutze macht (Kuendig); Arbeit ohne Anwendung psychologischer Kunststücke (Aichorn). Freud selbst, als Befürworter der Laienanalyse[6] (nach voller analytischer Ausbildung) spielt mit den Begriffen «pädagogische Analytiker» oder «analytische Pädagogen» (1926, S. 122), betont aber, dass pädagogische Arbeit «nicht mit psychoanalytischer Beeinflussung verwechselt und nicht durch sie ersetzt werden kann. Die Psychoanalyse des Kindes kann von der Erziehung als Hilfsmittel herangezogen werden. Aber sie ist nicht dazu geeignet, an ihre Stelle zu treten» (1925, S. 4–5).

      Zusammenfassend können wir diese therapeutische Grundhaltung als einen Weg sehen, welcher pädagogisch Tätigen erstens das Verständnis für Kinder und Jugendliche vertieft und zweitens das Repertoire ihres erzieherisch-pädagogischen Handelns erweitert. Sie ist keinesfalls mit Psychotherapie oder Kinderanalyse gleichzusetzen. Die