Ueli Kraft

Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)


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Lerntherapie von hoher Relevanz.

      1.4 Zu den Anfängen eigentlicher – und auch sogenannter – Lerntherapie

      Wir haben versucht, einige der informellen Anfänge der Lerntherapie historisch festzumachen. Die Frage, wer denn den Begriff erstmalig verwendet habe, bleibt allerdings noch offen – und wird das historisch verstandene Unternehmen doch noch etwas in die Länge ziehen. Vorläufig auf dem Spielfeld stehen Metzger, der Pionier der Lerntherapie in der Schweiz, und Betz und Breuninger mit ihrem in Deutschland unverzichtbaren Praxisbuch. Beide Zugänge nutzen den Begriff der Lerntherapie, wie wenn es diesen schon immer gegeben hätte. Grund genug, hier eine weitere Sondiergrabung vorzunehmen, um die Sprache der Archäologie noch einmal zu bemühen. Es geht dabei darum, die Hintergründe ihres Verständnisses etwas heller auszuleuchten, beziehungsweise ihre ursprünglichen Konzeptionen der Lerntherapie ansatzweise fassbar zu machen.

      1.4.1 Armin Metzger – der Begründer der Lerntherapie in der Schweiz

      Metzger (2001) konstatiert, dass «sich institutionalisiertes Lernen unter starken Wechselwirkungen zwischen Lernprozessen und Persönlichkeitsentwicklung vollzieht», und dass sich Entwicklungsprozesse von Sach- und Persönlichkeitskompetenz gegenseitig beeinflussen. Dies fordere «deshalb im Interesse einer ganzheitlichen und effizienten Förderung» grundsätzlich «beiderseitige Aufmerksamkeit». Er fährt fort: «In der Lerntherapie verfolgen wir deshalb beide Entwicklungslinien: Eine lerntheoretische beziehungsweise didaktische und eine persönlichkeitstheoretische beziehungsweise entwicklungspsychologische» (2001, S. 12). 2008 formuliert er etwas ausführlicher: «Neu an der Lerntherapie ist zunächst das Verständnis des Lernens». Dieses sei «einerseits existenzbildender Teil der Persönlichkeit», welche ander- und ihrerseits Lernen generiere. «Lernschwierigkeiten und Lernstörungen entspringen mehrheitlich nicht falscher Technik oder Lernlücken, sondern haben mit der Persönlichkeit, ihrer Entwicklung, ihrer Identität, ihrer Präsenzdynamik, ihrer Biografie und ihrer Lebenssituation zu tun» (2008, S. 15). Der Begriff der Lerntherapie selbst ist plötzlich einfach da, wie hingestellt auf eine zuvor unbebaute grüne Wiese, ohne jegliche Herkunftsangaben.

      Unter seinen Publikationen durchsuchte ich die Dissertation, die Metzger 1990 einreichte, maschinell nach dem Begriff Lerntherapie, fand aber nichts und legte die Arbeit wieder beiseite. In zweiter Lesung blieb ich zunächst am Titel hängen, der mich doch neugierig machte: «Begegnung und Beziehung als Auslöser von Entwicklung und Genesung – Zur Bedeutung der Psychotherapie für die Sonderpädagogik» (1990). Metzger bezieht sich auf die philosophischen Arbeiten von Martin Buber («Ich und Du», 1962, zit. nach Metzger, 1990, S. 9) und sieht Begegnung und Beziehung nicht nur als zentral konstituierende Faktoren bei der Entwicklung menschlicher Persönlichkeit, sondern auch als den Weg, Störungen anzugehen und Genesung einzuleiten. Er bezieht die Begriffe auf psychotherapeutische und heilpädagogische Bemühungen und konstatiert grosse Gemeinsamkeiten. Daran schliesst natürlich die Frage, weshalb sich die beiden Disziplinen gleichzeitig so nah und so fern stünden – wir erinnern uns, dass Metzger Psychoanalytiker, Erziehungsberater und Heilpädagoge war. Und so macht er sich auf, das gegenseitige Verständnis zu fördern, indem er der Heilpädagogik einen tiefen Einblick in die Arbeit von psychotherapeutisch Tätigen und in die Dynamik ihrer Prozesse gibt.

      Bei der Darstellung wichtiger Persönlichkeitstheorien legt er den Fokus vor allem auf die Psychoanalyse, erläutert ausführlich Modell und Fachtermini von A (wie Abwehrmechanismen) bis V (wie Verdrängung). Breiten Raum nehmen zwei Fallberichte ein: Metzger hat eine erfahrene Psychoanalytikerin dazu gewinnen können, zwei sehr unterschiedliche Kindertherapien auf Band aufzunehmen, was akribisch transkribiert wurde. Ausgewählte Sequenzen finden sich im Text, durchsetzt von einer Diskussion des Geschehens, welches Metzger eingehend auf das psychoanalytische Gedankengebäude zurück bezieht. Die Konstellation erlaubte zudem, auch das Erleben der Therapeutin einzubeziehen – eindrücklich vor allem, wie geschickt sie das Instrument des eigenen Gegenübertragungs-Geschehens nutzt.

      Im Schlusskapitel formuliert Metzger ausführlich «Prinzipien für die praktische Heilpädagogik» (1990, S. 180ff.), denen er Gedanken voranstellt, in denen wir zwar noch keine Definition der in etwa zeitgleich geborenen Lerntherapie sehen dürfen, aber wichtige Elemente eines Anforderungsprofils an lerntherapeutisch Tätige einschliessen:

       «Ich meine, dass das Gros der Verhaltens- und Lernstörungen ihren [sic] Anfang in der zwischenmenschlichen Begegnung und Beziehung genommen haben – und dass es auf der anderen Seite gerade wieder dieser ‹Ort› sein müsste, [an dem] die Genesung ihrerseits ihren Anfang nehmen kann – und wohl auch muss» (a.a.O., S. 179).

       «[…] bezogen auf die praktische Heilpädagogik müsste ich sagen, dass Selbsterfahrung, Entwicklungs- und Tiefenpsychologie jedenfalls mein Verständnis in der heilpädagogischen Arbeit mit ‹verhaltens- und lerngestörten› Kindern erweitert und vertieft hat. Sie haben mich vor allem sensibler und wahrnehmungsfähiger gemacht» (a.a.O., S. 179).

       «So ist mir beispielsweise in der Ausbildung und Supervision von Lehrern […] deutlich und bewusst geworden, wie verbreitet das Nicht(er-)kennen und -verstehen der psychischen Dynamik des Einzelnen ist und [dass es] entsprechende Auswirkungen zeitigte: Bei Lehrern war dies oft Ursache zur Zentrierung auf Stoff und Stoffvermittlung oder auf Organisation und Disziplinierung des Einzelnen oder der Klasse» (a.a.O., S. 179f.).

       «Ich habe […] nicht die Erwartung, dass es zum ‹Handwerk› des Heilpädagogen gehöre, Psychotherapeut zu sein! Es geht mir stattdessen lediglich um Sensibilisierung und […] um Wahrnehmungserweiterung» (a.a.O., S. 193).

       «Allerdings sind damit noch nicht alle Träume ausgeträumt, denn es schlummert in ihm [dem psychoanalytisch-psychotherapeutischen Ansatz, Anmerkung UK], wie mir scheint, eine neue, oder zumindest vertiefte Zugangsart […]. Es wird sich nun in der Zukunft weisen müssen, […] ob die Erweiterung durch das in dieser Arbeit im Grundriss aufgezeigte psychoanalytische, beziehungsweise metapsychologische Verständnis […] für die heilpädagogische Praxis Auswirkung finden könnte». Dies, indem es «den Heilpädagogen noch vermehrt von der zum Teil noch vorhandenen und ungeliebten Rolle als ‹Macher, Zurechtbieger und Hinkrieger› […] entbindet und ihm und seiner erzieherischen Begegnung und Beziehung mehr Raum für das Wahrnehmen und Verstehen […] [des Gegenübers] offen lässt» (a.a.O., S. 197f.).

      Obwohl nicht namentlich erwähnt, lassen sich Elemente seiner Konzeption der Lerntherapie am Horizont erahnen – vor allem die spätere Forderung, dass sich Lerntherapeutinnen ausbildungsbegleitend einer Psychotherapie unterziehen müssen, ist in seiner Dissertation bereits 1990 hinlänglich begründet (mehr zu Metzgers Konzept im Beitrag von Konrad Bundschuh in diesem Band).

      Unsere historische Perspektive verdient die Erwähnung, dass Metzger im Zusammenhang des Verhältnisses von Psychoanalyse und (Heil- oder Sonder-)Pädagogik auch auf Exponenten der psychoanalytischen Pädagogik verweist. Ohne diese Stellen referieren und zitieren zu wollen: Metzger bezieht sich unter anderen auf Aichhorn, Bettelheim, Redl und Zulliger (vgl. 1990, S. 49ff.) – allerdings werden sie in den Publikationen von 2001 und 2008 nicht mehr erwähnt.

      1.4.2 Die Initialzündung der Lerntherapie in Deutschland – Dieter Betz und Helga Breuninger: ‹Teufelskreis Lernstörungen›

      Der Begriff Lerntherapie taucht bei Betz und Breuninger ab der zweiten Auflage[7] ihres Buchs in einem kurzen Abschnitt erstmals auf: «Die Behandlung struktureller Lernstörungen erfordert eine strukturelle Lerntherapie, das heisst ein systemisches Vorgehen, da es der Lerntherapeut mit komplexen Wirkungsgefügen zu tun hat. Das Ziel der strukturellen Lerntherapie ist, die negative Lernstruktur in eine positive umzuwandeln» (1987, S. 4). Ab der dritten Auflage (1993) steht im Vorwort zusätzlich: «Der Begriff Lerntherapie hat sich eingebürgert» (hier zitiert nach der fünften Auflage, 1998). Weiter: «Wir wenden uns an Psychologen, Berater und Lerntherapeuten. Für ihren Gebrauch ist der Ertrag von mehr als 10 Jahren Lerntherapie, theoretischer Reflexion und empirischer Kontrolle zusammengetragen und adaptiert worden» (1987, S. 5). Historisch können wir immerhin