Ueli Kraft

Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)


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eine solche zwar am nötigsten hätten, deren Eltern sich dies ökonomisch aber schlicht nicht leisten können, soll genügen. Es verknüpft sich allerdings nicht nur mit Überlegungen zur Ausgestaltung der Bildungsinstitutionen – sondern auch mit der Frage, ob die früheren Experimente mit Formen der Lerntherapie, die streckenweise in Kleingruppen gearbeitet haben, es aus ebendiesen ökonomischen Zwängen nicht verdienen würden, gemeinsam wieder aufgegriffen und weiterentwickelt zu werden.

      Lerntherapeutinnen und -therapeuten leben ja nicht auf verschiedenen Inseln[16], sondern im deutschsprachigen Raum Europas, welcher eigentlich sehr gut vernetzt ist. Bei den Recherchen zu einigen historischen Fragmenten zur Geschichte der Lerntherapie habe ich die verschiedenen Denktraditionen, welche sich in die DNA des Fachs eingeschrieben haben, als äusserst anregend erlebt. Die Unterschiede im Fokus des theoretischen und methodischen Zugangs, in der Anbindung an die Schule und in der Ausbildung der lerntherapeutisch Tätigen sind erheblich – ebenso aber auch die Gemeinsamkeiten, welche überall mächtig durchscheinen. Dazu gehören primär eine mehr oder weniger grosse Distanz zu den Gegebenheiten der real-existierenden Pädagogik im Klassenzimmer und ein kompromissloses Eintreten für die Kinder: Schülerinnen und Schüler, welche am absurden Leistungswettbewerb verzweifeln, welche darunter leiden, dass ihnen Lehrende (und Eltern) das versagen, was sie dringendst nötig hätten: emotionale Sicherheit und Zuwendung, kompetente Hilfe und Unterstützung statt Leistungsdruck und Vorwürfe. Kinder brauchen Beziehung und so wunderbar Altmodisches wie in einem Spruch des Mundart-Schriftstellers Albert Bächtold aus dem Schaffhauser Klettgau, in dem ich aufgewachsen bin, beschrieben: «Di Guete gern haa, isch liicht – aber di andere hend’s nötiger.»[17]

      1.6 Epilog: Eine letzte biografische Reminiszenz

      Zu meiner Zeit an der Erziehungsberatungsstelle des Kantons Schaffhausen (1976–80) stammten Kinder mit Migrationshintergrund noch meist aus Italien. Die Kleinen sassen von einer Woche auf die nächste in einer Regelklasse der Unterstufe – meist ohne ein Wort Deutsch zu verstehen. Sie wurden von eher ängstlichen Lehrerinnen beinahe zuverlässig für eine «Hilfsschul-Abklärung» angemeldet – oft mit der implizit schlichten Annahme, schlechte Leistungen in Deutsch würden auf eine möglicherweise eingeschränkte Intelligenz verweisen. Ja, natürlich wollte ich mir ihre Geschichten erzählen lassen – und wenn es mit der Mama und dem Kind sprachlich zu schwierig war, holte ich den liebenswürdigen Pater der Missione Cattolica dazu, welcher zwischen den beiden Kulturen behutsam und respektvoll vermitteln konnte. Die Kinder liess ich beim beobachteten Spielen erzählen, liess ihnen überhaupt Zeit, aufzutauen. Klar machte ich mit ihnen (es waren wahrscheinlich insgesamt etwa sieben oder acht, die bei mir landeten) etwas Diagnostik: einen sprachfreien IQ-Test, ich liess sie einiges zeichnen, um Entwicklungsverzögerungen ausschliessen zu können, und weniges mehr. Zusätzlich führte ich aber unaufgefordert eine Legasthenie-Abklärung durch. Wunderbarerweise gab der damals eingesetzte Test bei Deutsch-Anfängern zuverlässig an. Ich diagnostizierte meist eine schwerere oder mittelschwere Legasthenie, schrieb zuhanden der Kostenstelle ein kleines Gutachten und schlug zu Beginn zwei Stunden Therapie pro Woche vor. Dies wurde ohne Weiteres bewilligt und konnte bis zu zwei Jahre verlängert werden, ebenfalls ohne Probleme. Und die Lehrerinnen hatten eine Diagnose, nahmen Druck weg und freuten sich über Fortschritte.

      Die Kleinen erhielten in der Folge also eine Legasthenietherapie – die Therapeutinnen waren meist Lehrerinnen, welche ihre Stellen zugunsten einer Familienphase aufgegeben hatten und nach einer Zusatzausbildung Klienten bei sich zu Hause empfingen. Diesen hat die Therapie gewiss nicht geschadet: akustische Wahrnehmungsdifferenzierung ist bei Kindern anderer Muttersprachen eine gute Sache. Aber sie erhielten auch viel informellen Deutschunterricht und Hilfe bei der Integration in das noch fremde Land, in dem so vieles so anders war. Jemand kümmerte sich um die Hausaufgaben, sprach ab und an mit den Eltern. Und die Kinder? Die erfuhren vor allem geduldige Aufmerksamkeit und Zuwendung: jemand, die zu ihnen schaute und die sie gerne bekamen –, sie erhielten das, was Kinder überhaupt und in solchen Situationen besonders brauchen. Und wenn sie Durst hatten, gab’s einen Sirup in der Küche …

      Keines der Kinder kam in die Hilfsschule. Ich sah sie jeweils wieder, wenn eine der Nachkontrollen anstand. Im Gutachten strich ich die – realen – Fortschritte heraus, reduzierte den Schweregrad der Legasthenie ein wenig und verlängerte die Therapie um ein weiteres halbes Jahr. – Habe ich informelle Lerntherapien initiiert? … Wahrscheinlich. – Waren diese erfolgreich? … Soweit ich weiss, ja. – War das korrekt? … Nein. – Ist die Sache verjährt? … Ja. – Hatte ich je ein schlechtes Gewissen? … Nein, überhaupt nicht.

      Literatur

      Aichhorn, August: Verwahrloste Jugend. Leipzig: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1925.

      Aichhorn, August: Erziehungsberatung. In: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, VI(11–12), 1932, S. 271–279.

      Aichhorn, August: Zur Technik der Erziehungsberatung – Die Uebertragung. In: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, X(1), 1936, S. 5–74.

      Atkinson, John W.: Motivational determinants of risk-taking behaviour. Psychological Review, 64, 1957, S. 359–372.

      Bergmann, Thesi: Versuch der Behebung einer Erziehungsschwierigkeit. In: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, XI(1), 1937, S. 29–43.

      Betz, Dieter: Strukturanalyse der Legasthenie – eine theoretische Untersuchung. In: Ebel, Volker (Hrsg.): Legasthenie. Bad Königshofen: Eigenverlag Bundesverband Legasthenie e.V., 1977, S. 133–159.

      Betz, Dieter & Breuninger, Helga: Teufelskreis Lernstörungen. 2. Auflage. München: Psychologie Verlags Union, 1987.

      Bornstein, Steff: Eine Technik der Kinderanalyse bei Kindern mit Lernhemmungen. In: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, VIII(5–8), 1929, S. 141–154.

      Buxbaum, Edith: Über schwierige, insbesondere faule Schüler. In: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, IV(11–12),1930, S. 461–477.

      Bychovski, Gustav: Schwierigkeiten in der Schule und ihre Psychotherapie. In: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, IV(11–12), 1930, S. 420–430.

      Deimann, Pia & Kastner-Koller, Ursula: Was machen Klienten mit Ratschlägen? Eine Studie zur Compliance in der Erziehungsberatung. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 41, 1992, S. 46–52.

      Darwin, Charles: Die Fahrt der Beagle. Hamburg: marebuchverlag, 2006.

      Federn, Ernst: Zur Geschichte der psychoanalytischen Pädagogik. In: psychosozial, 16(1), 1993, S. 70–77.

      Freud, Anna: Einführung in die Technik der Kinderanalyse. Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1927.

      Freud, Anna: Erzieher und Neurose. In: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, VI(10), 1932, S. 393–402.

      Freud, Sigmund: Geleitwort. In: Aichhorn, August: Verwahrloste Jugend. Leipzig/Wien/Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1925, S. 3–6.

      Freud, Sigmund: Die Frage der Laienanalyse. GW XIV. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1976, S. 207–286.

      Häberlin, Paul: Statt einer Autobiographie. Frauenfeld: Verlag Huber & Co., 1959.

      Hegg, Suzanne: Die Bernische Erziehungsberatung. In: Der Jugendpsychologe, 3(2), 1977, S. 37–113. Nachdruck (Faksimile) in: Aebi, Thomas & von Steiger, Katharina (Hrsg.): Mit weitem Blick. Die Geschichte der bernischen Erziehungsberatung in Vision und Wirklichkeit. Praxisforschung der Bernischen Erziehungsberatung: Band 17, 2016, S. 26–102.

      Hofmann, Michèle: Wie der Arzt in die Schule kam – Schulhygiene in Bern (1899–1952). Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde, 70(4), Bern: Historischer Verein des Kantons Bern, 2008, S. 1–47.

      Hunter, Regina: minimal lernen. Bern: hep Verlag, 2011.

      Just-Keri, Hedwig: Lernhemmungen in der Schule. In: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, IV(11–12), 1930, S. 480–481.

      Käser, Roland: Neue Perspektiven in der Schulpsychologie.