Ueli Kraft

Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)


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sowie bezüglich der Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit von künftigen sozialen Interaktionspartnern. Die inneren Arbeitsmodelle enthalten sowohl kognitive Komponenten (Erfahrung der eigenen Einflussnahme auf die Umwelt) als auch emotionale Aspekte (Erfahrung von Geborgenheit, Sicherheit und Geliebtsein) und steuern das menschliche Verhalten auf der Basis dieser internen Konzepte.

Typisches Fürsorgeverhalten der primären Bezugsperson Typisches Bindungsverhalten des Kleinkindes in Stresssituationen Innere Arbeitsmodelle
Sicheres Bindungsmuster (Typ B) Die Bezugsperson nimmt die kindlichen Bindungsbedürfnisse einfühlsam wahr, interpretiert sie adäquat und reagiert angemessen und prompt. Das Kind zeigt durch die Belastung kurzfristige Irritation, kann jedoch seine Bindungsbedürfnisse gezielt an die soziale Umwelt richten und ist leicht zu beruhigen. Das Kind besitzt die Zuversicht, dass seine Bezugsperson in stressreichen oder bedrohlichen Situationen verfügbar und verlässlich ist. Es lernt, dass auf seine Bedürfnisse konsistent reagiert wird.
Unsicher-vermeidendes Bindungsmuster (Typ A) Die Bezugsperson zeigt konstant unzureichende emotionale Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit gegenüber dem emotional belasteten Kind. Das Kind lernt, in Stresssituationen nicht die Nähe der Bezugsperson aufzusuchen, ist abweisend und distanziert. Das Kind erwartet Zurückweisung; Vertrauen auf Unterstützung in Stresssituationen fehlt.
Unsicher-ambivalentes Bindungsmuster (Typ C) Die Bezugsperson zeigt konstant unzureichende Konsistenz im Fürsorgeverhalten und hohe Aufmerksamkeit für negative Äusserungen des Kindes. Weil das Kind verinnerlicht, dass Bezugspersonen manchmal verfügbar sind und manchmal nicht, zeigt es anklammerndes und gleichzeitig abweisendes (ambivalentes) Verhalten gegenüber der Bezugsperson. Das Bindungsverhalten ist maximiert. Das Kind ist unsicher, ob die Bezugsperson in Stresssituationen verfügbar ist.
Desorganisiert-desorientiertes Bindungsmuster (Typ D) Kinder mit diesem Bindungsmuster stammen oft aus Risikofamilien, etwa von Hochkonflikteltern oder mit Erfahrung von frühkindlicher Misshandlung oder Missbrauch durch relevante Bezugspersonen. Das aktivierte Bindungssystem des Kindes zeigt sich häufig in bizarren und unerwarteten Verhaltensweisen (z.B. Verhaltensstereotypien, widersprüchliche Bewegungsmuster, dissoziationsähnliches Erstarren, Zusammenbruch der normalen Verhaltens- und Aufmerksamkeitsstrategien). Das Kind wird von der Bezugsperson stark verunsichert und ist nicht in der Lage, eine klare (organisierte) Bindungsstrategie zu entwickeln.

      Tabelle 1: Klassifikation der kindlichen Bindungsmuster und inneren Arbeitsmodelle (in Anlehnung an Zemp & Bodenmann, 2017)

      Die unsicheren Bindungsmuster A und C zählen mit dem sicheren Bindungsmuster (Typ B) zu den organisierten Bindungsmustern, gehören demzufolge ins adaptive Spektrum von Bindungsqualitäten und sind keine Störungen. Klinisch betrachtet sind die unsicheren Bindungsmuster aber prognostisch relevant, weil sie über die Lebensspanne (bei ähnlichen Milieubedingungen) mittelfristig relativ stabil sind und daher auch das Risiko für eine spätere Störungsentwicklung erhöhen können. Die Bindungsdesorganisation (Typ D) gehört ebenfalls nicht zu den Bindungsstörungen im engeren Sinne, wird aber entwicklungspsychopathologisch als sehr prädiktiv für die Entwicklung von psychischen Störungen angesehen. Jedoch zeigt der aktuelle Kenntnisstand, dass der Bindungstyp respektive die inneren Arbeitsmodelle nicht unveränderbar sind über die Lebensspanne. Es gibt zunehmend wissenschaftliche Befunde, dass sich Bindungsmuster durch die Internalisierung gesunder, «korrektiver» Beziehungserfahrungen mit alternativen Bezugspersonen (z.B. Partnerinnen und Partnern in Liebesbeziehungen, Therapeutinnen und Therapeuten, Lehrpersonen) über eine längere Zeit neu gestalten können.

      2.5 Hinreichend gute Eltern

      Die Feinfühligkeit von Betreuungspersonen gegenüber ihren Kindern ist zwar relativ stabil, kann aber durch zahlreiche Faktoren im Familienalltag beeinträchtigt werden. Hierzu zählen insbesondere Schlafmangel und Müdigkeit, geringe Zeitressourcen, hohes Stressempfinden oder die Notwendigkeit, auf mehrere Kinder gleichzeitig einzugehen (Zemp, Bodenmann & Zimmermann, 2019). Ebenfalls hängt die elterliche Feinfühligkeit von längerfristigen sozialen Gegebenheiten ab (allgemeine Lebenszufriedenheit und psychische Gesundheit der Eltern, Zufriedenheit in der Partnerschaft, Alleinerziehung, soziale Unterstützung, sozioökonomischer Status etc.). Vor diesem Hintergrund können Eltern nicht permanent alle Bedürfnisse des Kindes stillen. Folglich gilt es zu bedenken, dass es die perfekte Feinfühligkeit dauerhaft nicht gibt (Ahnert, 2010). Der Psychoanalytiker Donald Winnicott (1953) hat mit dem Begriff der «good enough mother» (hinreichend gute Mutter) das idealisierte Bild des perfekten Elternteils verworfen. Die Bezeichnung reflektiert, dass Vollkommenheit und Perfektionismus in der Fürsorge und Erziehung weder realistisch noch erstrebenswert sind und Abweichungen vom Ideal im Alltag respektiert werden müssen. Es ist wichtiger das Kind auch effektiv regulieren zu können (beruhigen, trösten, Schutz gewährleisten) als gehetzt, aber prompt auf alle Äusserungen des Kindes zu reagieren. Darüber hinaus sollen Eltern auch auf ihre eigenen Bedürfnisse achten, sich Zeit für sich und die Partnerschaft nehmen und ausreichend Gelegenheiten zum Auftanken schaffen. Es ist nicht zugunsten des Kindes, wenn Eltern erschöpft und ausgebrannt sind (Ahnert, 2010). Sie können nur so gut auf das Kind und seine Bedürfnisse eingehen, wie sie selbst in einer ausgewogenen Verfassung und Befindlichkeit sind.

      Das Konzept der elterlichen Feinfühligkeit sollte zudem entwicklungsabhängig verstanden werden. Während im Säuglingsalter auf das Bindungsverhalten so gut wie möglich (möglichst zuverlässig und prompt) reagiert werden sollte, ist mit zunehmendem Alter des Kindes Erziehungsverhalten günstig, das nur noch so gut wie nötig (hinreichend zuverlässig und prompt) ist, um den wachsenden Autonomiebestrebungen und Kompetenzen des Kindes gerecht zu werden (Zemp et al., 2019). Eine sichere Bindung des Kindes zu den Eltern stellt bis in die Adoleszenz und darüber hinaus einen der wichtigsten Schutzfaktoren gegen psychische Störungen dar (Spangler & Zimmermann, 2019). Durch zunehmende Stressbewältigungskompetenzen und Autonomie kommen Jugendliche seltener in Überforderungssituationen als Kleinkinder (Zimmermann & Iwanski, 2018). Zudem verbringen Jugendliche mehr Zeit ausserhalb der Kernfamilie mit Gleichaltrigen und suchen dort soziale Unterstützung. Die emotionale Verfügbarkeit der Eltern bleibt jedoch weiterhin hoch relevant. Feinfühligkeit bedeutet also sensitiv im Hintergrund die Entwicklung des Kindes zu verfolgen und dort altersgerechte flankierende Unterstützung zu bieten, wo dies erforderlich erscheint, weil das Kind sich nicht selbst beruhigen kann oder Zuwendung und emotionale Unterstützung braucht.

      2.6 Sichere Bindungserfahrungen und kindliches Explorieren und Lernen

      Sichere Bindungserfahrungen mit den Eltern und anderen primären Bezugspersonen gehören zu den bedeutendsten Determinanten der psychischen Gesundheit und zu den wichtigsten Schutzfaktoren gegen verschiedene psychische Störungen bis ins Erwachsenenalter. Dahingegen hängen unsichere Bindungsmuster im Kindes- und Jugendalter mit einem erhöhten Risiko für externalisierende Verhaltensprobleme (z.B. aggressives Verhalten, Störungen des Sozialverhaltens, Substanzmissbrauch) oder internalisierende Störungen (z.B. depressive Störungen, Angst- und Essstörungen) zusammen (Bodenmann, 2016a). Ausserdem belegen zahlreiche Studien, dass Bindungserfahrungen auch Auswirkungen auf das kindliche Leistungs- und Lernverhalten haben. Beispielsweise weisen sicher gebundene Kinder eine höhere Leistungsmotivation und bessere Schulleistungen auf