Ueli Kraft

Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)


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in der betroffenen Person bereits vorhanden sind und durch Unterstützung der Lerntherapie aktualisiert werden. Hier wirkt das pädagogisch Richtige therapeutisch und das Therapeutische pädagogisch, das heisst durch die enge Verbindung zwischen therapeutischen und pädagogischen Aspekten beginnt – in unmittelbarer Orientierung an den Bedürfnissen der betroffenen Person nach Achtung, Wertschätzung und Anerkennung – der therapeutische Prozess.

      3.2 Lerntherapie – Arbeitsweise und Persönlichkeit des Lernenden

      Die Fähigkeit zu lernen ist eine Grundvoraussetzung dafür, sich besser in den Gegebenheiten des Lebens und der Umwelt zurechtfinden zu können, darin sinnvoll zu agieren und sie konstruktiv nach eigenen Vorstellungen und Interessen zu verändern. Traditionell werden verschiedene Lernarten unterschieden, so zum Beispiel spielerisches Lernen, Erfahrungslernen, Imitationslernen, intentionales, selbst- oder fremdmotiviertes Lernen sowie Verständnislernen. Im Mittelpunkt aller Arten und Varianten des Lernens steht dabei die Persönlichkeit des oder der Lernenden. «Lernen ist immer subjektiv, ist Ausdruck der Persönlichkeit, ihres jeweiligen Befindens, Fühlens und Denkens» (Metzger, 2001, S. 33). Lernen geschieht in der und «durch die Persönlichkeit des Lernenden» (Metzger, 2008, S. 24f., 47f., 67ff.; 2014, S. 154), das heisst, der individuelle Lernprozess konstruiert sich auf der Basis der Lerntherapie weiter. Sowohl emotionale als auch kognitive Prozesse spielen hierbei eine wesentliche Rolle. Massgebend neben den emotionalen und kognitiven Voraussetzungen wie zum Beispiel Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit, Wachheit, Interesse, Engagement, (emotionale und kognitive) Verständnis- und Denkfähigkeit ist als entscheidende und steuernde Instanz die Persönlichkeit (vgl. Metzger, 2008, S. 15–22). Diese wiederum wird getragen durch ihre Identität. Die Identität ihrerseits bezieht ihre Energie und ihre Ressourcen aus dem Selbstwertgefühl, aus Selbstvertrauen, Selbstsicherheit, Selbstbild, Selbstverständnis, Selbstbewusstsein und Selbstverhältnis. Sie ist es, die letztlich über Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Die Lerntherapie arbeitet bei Lernschwierigkeiten deshalb primär mit und durch die lernende Persönlichkeit und stärkt gleichzeitig ihre Identität.

      Bei Langzeitschwierigkeiten ist diese dialogische Vorgehensweise sowohl im Zusammenhang mit dem aktuellen Lernen als auch bei der Entwicklung des Selbstverhältnisses Grundvoraussetzung. Bei passageren Lernschwierigkeiten wird mit Wertschätzung und unter Beachtung der aktuellen Situation und Befindlichkeit der Persönlichkeit vor allem die jeweils aktuelle Lernproblematik in den Vordergrund der lerntherapeutischen Arbeit gestellt.

      Der Erfolg der Lerntherapie ist dank des zentralen Einbezugs der Lernpersönlichkeit anderen Ansätzen gegenüber überlegen und nachhaltiger. Lernen wird im Rahmen der Lerntherapie interdisziplinär gesehen und im Zusammenhang mit dem entsprechenden Studium auch interdisziplinär vermittelt. So spielen Psychologie (Entwicklungs- und Lernpsychologie, Pädagogische Psychologie, Förderdiagnostik, Sozialpsychologie und Therapieformen), Pädagogische Anthropologie, Heilpädagogik sowie die lerntherapeutische Praxis eine zentrale Rolle.

      Der Einbezug der Bereiche Psychotherapie, Psychologie, Anthropologie, Heilpädagogik wird von Dozenten aus dem In- und Ausland wissenschaftlich und praxisbezogen begleitet, so dass auch gewährleistet ist, dass die Studieninhalte entsprechend den komplexen Herausforderungen in den Erziehungsfeldern der neueren Zeit systematisch und dynamisch weiterentwickelt werden.

      3.3 Lernen, behindernde Bedingungen und das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung

      Lernen bedeutet, das eigene Verhalten zu aktualisieren und zu verändern, damit das Ziel, das zukünftige Leben selbstständig zu gestalten und zu bewältigen, erreicht wird.

      Lernen erfolgt mittels bewusster und unbewusster Verarbeitung von Umwelteinflüssen und -reizen und führt somit zur Veränderung individuellen Denkens, Fühlens und Handelns. Im allgemeinen Sinne handelt es sich dabei um Vorgänge im Organismus, die zu Veränderungen des Verhaltens führen. Dabei bestimmen emotionale Prozesse Lernvorgänge wesentlich (vgl. Bundschuh, 2003, S. 111–130).

      Ängste hemmen und behindern schon sehr frühzeitig Lernprozesse im Zusammenhang mit rigiden, vielleicht Angst auslösenden Erziehungspraktiken und Überforderungssituationen. Es spricht vieles dafür, dass manche Lernstörungen und Lernbehinderungen bereits frühzeitig auf dem Weg negativer emotionaler Prozesse erworben wurden, die sich neurophysiologisch betrachtet als «Synapsenhemmer» und damit als Lernhemmung im gegenwärtigen und zukünftigen Leben auswirken. Hier kann Lerntherapie Positives bewirken und neue Entwicklungen initiieren.

      Emotionalität, Motivation und Lernen bilden eine Einheit. Die neurophysiologische und neuropsychologische Forschung weist auf den Zusammenhang zwischen emotionaler Befindlichkeit, Hormonen und Wahrnehmungs-, Gedächtnis-, Denk- sowie Lernprozessen im Allgemeinen hin. Eine positive emotionale Befindlichkeit stellt somit die Basis für Lernen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen dar. Das Nervensystem als Netzwerk, die Gedächtnisprozesse, die Vorgänge im Bereich der Synapsen (Transmitter), der Nervenzellen, Prozesse der Wahrnehmung und der kognitiven Verarbeitung schlechthin markieren, dass die emotionale Befindlichkeit, das Emotionale schlechthin, den Weg zum Bewusstsein zu öffnen oder zu blockieren vermag. Emotionalität kann Zuwendung fördern oder hemmen, geistige Tätigkeit intensivieren oder abschwächen.

      Das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung auch durch Lernen und damit nach Entfaltung beziehungsweise Aktualisierung der Persönlichkeit kann nur entstehen, wenn die genannten Bedürfnisse nach Sicherheit, Angstfreiheit, Ordnung, Liebe, Wertschätzung, Achtung und Anerkennung in der (frühen) Kindheit adäquat befriedigt wurden. Hier setzt Lerntherapie an. Erkenntnisse sowohl naturwissenschaftlich als auch geisteswissenschaftlich orientierter Disziplinen sprechen dafür, dass die emotionalen Bedingungen im Kind und die sozialen Prozesse (Lernklima) sowie der Lerngegenstand für Lernvorgänge wichtig sind.

      Lernvorgänge beeinflussen entscheidend die Entwicklung eines Kindes. Lerntherapeutische Kenntnisse erweisen sich im Hinblick auf die Problem- und Notsituation der betroffenen Kinder, Jugendlichen und auch Erwachsenen für Lehrerinnen und Lehrer, Psychologinnen und Psychologen, Allgemein- und Heilpädagoginnen und -pädagogen, Sozialpädagoginnen und -pädagogen, Erzieherinnen und Erzieher als dringend notwendig, denn es geht auch um die Neuwahrnehmung einer Problemsituation. Lerntherapie leistet einen wesentlichen Beitrag zur Neureflexion von Schule und Lernen in Richtung gesunde Schule und steht damit im Dienste einer positiven Persönlichkeitsentfaltung.

      3.4 Grundlagen von Lerntherapie

      Die Lerntherapie basiert auf einem entwicklungstherapeutischen Verständnis. Die zentralen Annahmen und Grundlagen der Lerntherapie sind:

      Jeder Mensch entwickelt sich. Die Entwicklung erfolgt in allen existenziellen Bereichen: biologisch, emotional, kognitiv und sozial.

      Der jeweilige Akt der Veränderung und Entwicklung beruht auf einem komplexen Prozess, der als «Lernen» bezeichnet wird. Das menschliche Lernen geschieht nicht losgelöst, sondern steht in engster Verbindung und geht einher mit der Persönlichkeitsentwicklung, die sich ihrerseits in Beziehungen aktualisiert.

      Die Persönlichkeits- und Lernentwicklung geschehen wechselseitig. Sie befruchten, hemmen oder stören einander gegenseitig (vgl. Metzger, 2002; 2014, S. 153f.).

      Persönlichkeitsentwicklung ist zugleich Aufbau und Prozess:

      Das zum besseren Verständnis entwickelte Persönlichkeitsmodell der Lerntherapie ergibt sich aus dem Blickwinkel der Lernprozesse. Zur Vereinfachung der Persönlichkeitsstruktur unterteilt die Lerntherapie den Persönlichkeitsaufbau in drei das Lernen unterschiedlich beeinflussende und vom Lernen beeinflusste Ebenen:

      Realisierungs-, Präsenzdynamik- und Vorgabenebene. Die verschiedenen Prozesse der Persönlichkeit münden letztlich in ihrer Identität. Gleichzeitig ist die Identität ihrerseits darauf ausgerichtet, sich selbst zu erhalten. Entsprechend bedient sich die Persönlichkeit eines Präferenzverhaltens, welches die Identität stärkt, stützt und schützt. Die Identität, bestehend im Wesentlichen aus Selbstwertgefühl, Selbstwahrnehmung, Selbstbewusstsein und Selbstkonzept, ist innerhalb der «Realisierungsebene» für die Bedürfnisse und Aktivitäten prioritär und dadurch