Ueli Kraft

Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)


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die das Verhalten des Anderen und sein Sosein achtet und akzeptiert, die unter Beachtung seiner Subjektivität versucht, ihn immer besser und vertiefter zu verstehen. Die sich dabei aufbauende Intersubjektivität impliziert, dass die lerntherapeutische Fachperson die Welt des Anderen in seiner individuellen Lebenssituation begreift oder zumindest bereit ist, in einen Prozess des Verstehenwollens und -lernens einzutreten. Vom Anderen her gesehen erweist sich jede Handlung, jede Art von Verhalten, als sinnvoll. Insofern heisst Verstehen auch Achtung vor der Unerschliessbarkeit und Unverfügbarkeit des Anderen (vgl. Bundschuh, 2019a, S. 91–96). Lerntherapeutisches und heilpädagogisches Denken erfordert Flexibilität, Offenheit und Offensein für alle Möglichkeiten einer Lebensgeschichte, bereit sein, den von uns persönlich bevorzugten Standpunkt in Frage zu stellen. Für Lerntherapeutinnen und -Therapeuten ist dieses «Auf-dem-Wege-Sein» (Moor, 1974, S. 260f.) wichtiger als das Wissen um das Ziel. Es lässt sich fast ein triviales, allgemeines Ziel ableiten: Die besondere Situation einer Klientin oder eines Klienten in einer Problemsituation fordert immer wieder aufs Neue zum Handeln auf.

      Eine Handlung ist eine Einheit, bestehend aus einer äusseren manifesten Aktivität und einem inneren kognitiv-emotionalen Anteil. Handeln ist oft soziales Handeln, insofern spielt der soziokulturelle Kontext eine wichtige Rolle. Der Lerntherapie geht es um Handeln und um die Handlungsfähigkeit in den emotionalen, sozialen und geistigen Entwicklungen und ganzheitlichen Prozessen des Kindes und Jugendlichen, vor allem um Erweiterung der Handlungsfähigkeit und Autonomie. Der Mensch entwickelt und gestaltet seine Persönlichkeit in der erlebenden und handelnden Begegnung mit der konkreten, in bestimmter Weise strukturierten und sich dynamisch verändernden Welt, die wir als Alltagswirklichkeit bezeichnen. In diesem prozesshaften Geschehen liegt die Herausforderung der Lerntherapie. Sie trägt eine grosse Verantwortung und spielt eine wichtige Rolle im Rahmen der Bildung, Ausbildung sowie Sinnfindung von Kindern und Jugendlichen. Die sozialen und anregenden, aber auch die objektiven und physikalischen Gegebenheiten besitzen vor allem in ihrer subjektiven Bedeutung für die handelnde Person hohe Relevanz. Es ist eine grosse Herausforderung für die Lerntherapie, die häufig bestehende Kluft zwischen Wahrnehmen, Verstehen und Handeln im Sinne der Klienten zu schliessen oder zumindest zu verringern.

      3.8 Lerntherapie im Dienste von Kindern und Eltern – Systeme und zukünftige Handlungsmöglichkeiten

      Gerade Heilpädagogik und Lerntherapie müssen Unwohlsein, insbesondere Ängste und Probleme von Kindern und Jugendlichen in der heutigen Zeit wahrnehmen und sehr ernst nehmen. Die entscheidenden Erkenntnisse der Pädagogik, der Heilpädagogik und Lerntherapie sind aus Krisen der Systeme, speziell des Schulsystems im Hinblick auf Nichtbeachtung und Vernachlässigung der Probleme betroffener Kinder und ihrer Eltern hervorgegangen. Krisen können zu entscheidenden Neuorientierungen führen. Frühe Hilfen, das heisst Erkennen und Diagnose von – häufig system- und umfeldbedingten – Problemen und die prophylaktische Aufarbeitung durch Gespräche und Lerntherapie im eigentlichen Sinne erweisen sich, gerade in der Gegenwart, als dringend notwendig.

      Die einst so gepriesene pluralistische Gesellschaft mit den Erscheinungen Hedonismus, Werteverfall und Bindungslosigkeit birgt für die soziale und emotionale sowie für die geistige Entwicklung von Kindern und Jugendlichen leider auch Bedrohungen und Verletzungen unbekannten Ausmasses. Insofern müssen pädagogische Grundfragen im Hinblick auf diese Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft neu aufgegriffen, reflektiert und beantwortet werden. Das geschieht auch durch Umorientierung von der traditionellen Diagnostik hin zu einer verstehenden mehrdimensionalen Förderdiagnostik (Bundschuh, 2019a, S. 75–135). Heilpädagogik und Lerntherapie bemühen sich prinzipiell um eine solide verstehende pädagogische Basis, die vor allem auch erfüllte Lebensbewältigung ermöglichen soll. Die pädagogische Aufgabe der Zukunft liegt auch darin, die Komplexität und Vielfalt der Möglichkeiten unserer Zeit auf ein für Kinder verträgliches und erträgliches Mass zu reduzieren. Die Ergebnisse der PISA-Studien lehren uns, dass manchmal weniger mehr sein kann, indem sie für eine Reduktion von starren, abstrakten Lehrplänen im Sinne konkreter Handlungsorientierung und damit auch Orientierung am Schüler und an der Schülerin sprechen. Diese Implikationen gelten prinzipiell für alle Schultypen. Das Kernproblem im allgemeinpädagogischen, speziell im lerntherapeutischen Arbeitsfeld liegt in der Frage der weiteren Erziehung angesichts ins Stocken geratener Prozesse in den Bereichen Lernen, Kommunikation im weiten Sinne und Sozialverhalten beziehungsweise emotionales Erleben. Frustrationen, zusammenbrechende und zusammengebrochene Erziehungsfelder, schlichtweg Notsituationen begleitet von Zweifeln, Konflikten, Demütigungen der Eltern und Kinder und der ständigen Suche nach Hilfe, Unterstützung und neuen Möglichkeiten, sind Ausdrucksformen solcher Probleme. Prozesse, die Familien bedrücken, angesichts übermächtiger Institutionen, die zwar das Angebot der Schulen bereitstellen, es bisher jedoch nicht erreicht haben, die mit dem Besuch dieser Schulen immer noch bedrückende, Ängste sowie Minderwertigkeitsgefühle erzeugenden und auch diskriminierenden Begleiterscheinungen in Institutionen, Gesellschaft, Nachbarschaft und Freundeskreis zu neutralisieren (vgl. Bundschuh, 2008, S. 43–49). Meist bedeutet es für die Betroffenen Leid, zusätzliche Erschwernis menschlicher Alltagsbewältigung und Problemhaftigkeit, mit den Phänomenen und Begleiterscheinungen einer Behinderung und behindernden Bedingungen unmittelbar, hautnah im wahrsten Sinne des Wortes, konfrontiert zu werden.

      Ähnlich, wenn auch etwas distanzierter betroffen, sind Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen, Erzieher und Therapeutinnen und Therapeuten, die sich ständig bemühen, trotz auftretender Widerstände und häufigen Scheiterns bei Grenzproblemen, pädagogisierbare Möglichkeiten zu erkennen. Mit Diagnostik traditioneller Art kann hier nicht weitergeholfen werden. Es setzt im lerntherapeutischen Bereich die differenzierte Suche nach neuen Möglichkeiten für Erziehung und Förderung und damit nach erweiterter Handlungsfähigkeit des betroffenen Kindes, der Eltern, der Lehrerinnen und Lehrer ein. Förderdiagnostik (Bundschuh, 2019a) übernimmt hier die wichtige Aufgabe der Problemanalyse sowie Vermittlung zwischen Kindern und Jugendlichen mit ihren Nöten sowie Problemen und der Lerntherapie. Was heisst Förderung und Therapie angesichts solcher Not- und Problemsituationen? Was bedeutet das für die Frage der Erziehung? Welche Rolle spielen Förderung und Therapie im Rahmen der Entfaltung der Persönlichkeit von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen? Können Förderung und Therapie auch mit Problemen und Gefahren verbunden sein? Inwiefern bedeuten Förderung und Therapie Entdeckung und Wahrnehmung neuer Möglichkeiten? Solche Fragen müssen gestellt werden, können jedoch im Rahmen dieses kurzen Beitrages nicht systematisch beantwortet werden.

      Grundlegende Überlegungen zu Fragen des Verstehens, der Erziehung und der Förderung sind notwendig, Fragen nach der Orientierung am Kind und nach dem Kindgemässen (Bundschuh, 2019a, S. 249f.). Lerntherapie bedeutet Neuanfang, Neuorientierung, Aufbruch, und den Gedanken der Erziehung und des Verstehens in die Frage nach der Diagnose und Förderung beziehungsweise in den lerntherapeutischen Prozess unmittelbar zu integrieren, das heisst:

       Individuell gesehen Weiterführung, Dynamisierung ins Stocken geratener Lernprozesse, Nöte von Kindern und Jugendlichen angesichts übermächtiger institutioneller Mächte wahr- und ernst nehmen, die Entwicklung hemmender – negativer – Kreisprozesse aufbrechen, behindernde Bedingungen in der Umwelt mit aller Entschiedenheit diagnostizieren, in Wort und Schrift benennen und nach Möglichkeit durch Handeln beseitigen. Das betroffene Kind selbst durch Aufzeigen und Bewusstmachung eigener Handlungsfähigkeit sowie positiver Erweiterung des Selbstbildes und der Selbstkompetenz ermutigen, eigene Kompetenzen und Ressourcen zu erkennen und zu nutzen;

       Belebung sozialer Prozesse – Interaktionen und Begegnungen – durch Förderdiagnostik und Analyse separierender sowie behindernder Bedingungen sowie Anschluss an neue soziale Gemeinschaften im Sinne von Integration und Inklusion (Bundschuh, 2010, S. 93–99);

       im Bereich der Eltern durch Vermittlung von Hoffnung, Mut und Stärkung des Willens zu Erziehung und Förderung, Öffnung von besseren Perspektiven für die Zukunft angesichts deprimierender Erfahrungen – «Unser Kind leistet zu wenig oder nichts, passt sich nicht dem Unterricht an», «stört ständig im Unterricht», «erreicht die nächste Klasse nicht» – im Kontext Schule und Lernen sowie Verhalten.

      Insgesamt gesehen meint «Aufbruch» das Aufbrechen und Zerbrechen hemmender Erfahrungen und Strukturen im Bereich