Ueli Kraft

Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)


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hemmender und behindernder Erfahrungen, die auch als «Teufelskreis Lern- und Verhaltensstörungen» bezeichnet werden können.

      Therapie und Unterricht gehen von zwei unterschiedlichen Konzepten aus. Unterricht vermittelt aktiv Inhalte und Techniken. Bei der Therapie stehen Prozesse wie Selbstbestimmung und Entwicklung sowie die Beziehung zwischen Lernendem oder Lernender und Therapeut oder Therapeutin im Zentrum des Interesses. Auch wenn die Lerntherapiestufe I der «Vermittlung» sehr nahekommt, versteht sich diese wie die «Lerntherapie» als Ganzes sowohl von der «Verknüpfung» von Persönlichkeit und Lernen als auch von ihrem therapeutischen Handlungsansatz her als Therapie. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil ihr die Persönlichkeit der Lernenden letztlich immer wichtiger ist als ihr Lernen: «Das Wichtigste ist immer der Lernende» (Metzger, 2008, S. 235). Man kann in Erweiterung auch sagen, dass Lerntherapie quasi ein «Learning-System» in sich darstellt. Es spricht vieles dafür, dass Lerntherapeuten mit jedem Klienten neue Erfahrungen machen und auch dabei lernen, dass sich die Lerntherapie entsprechend den Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft verändern, neu orientieren und sich auch weiterentwickeln muss, ohne dabei die Grundprinzipien aus dem Auge zu verlieren. Da Persönlichkeitsentwicklung und Lernen miteinander einhergehen, ist das eine nicht ohne das andere zu betrachten. Lernen geschieht durch die Persönlichkeit. Die Persönlichkeit ihrerseits entwickelt sich in und durch Beziehung. Um diese Prozesse zu fördern, verhalten sich die Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten nicht als «Lehrmeisterin» oder «Trainer», sondern begeben sich in eine sensible therapeutische Haltung und Beziehung. Diese fördern und erleichtern Veränderungen und damit Entwicklungs- und Lernprozesse.

      3.9 Grundlegende Prinzipien lerntherapeutischen Vorgehens im Kontext Orientierung am Kind

      Zuerst geht es darum, das Kind zu verstehen zu versuchen, eine Vertrauensatmosphäre und eine gute Beziehung herzustellen.

      Jedes Kind hat einen Entwicklungsstand, eine Lernausgangsbasis beziehungsweise Lernausgangslage. Diese gilt es mit förderdiagnostischen Methoden wie Anamnese, Verhaltensbeobachtung, Kind-Umfeld-Analyse, Screenings und gegebenenfalls psychologischen Tests zu finden.

      Jedes Kind hat Ressourcen, Stärken, Kompetenzen und Möglichkeiten, daran sollte man anknüpfen.

      Dann gilt es, einen – vorläufigen – an den individuellen Möglichkeiten orientierten Förder- und Lerntherapieplan zu erstellen, wobei die Ziele erreichbar sein müssen. Diese Planung muss für zukünftige Entwicklungen offen sein.

      Die Erfahrungen des Klienten «Ich kann nichts oder nur wenig» lässt sich durch die Erfahrung «Ich kann ja etwas, ich habe Erfolge» ablösen.

      Lernprozesse sollen in Richtung Zone der nächsten Entwicklung initiiert werden, also Lernen Schritt für Schritt, dabei ist es wichtig, Eigenkonstruktionen des Klienten oder der Klientin zu berücksichtigen, das heisst Über- oder Unterforderung zu vermeiden, gegebenenfalls Lernprozesse zu variieren.

      Das bedeutet, auf Motivation, das heisst, auf Freude am Lernen beziehungsweise Handeln, zu achten und den Förderprozess entsprechend den grundlegenden Bedürfnissen von Kindern nach Emotionalität, Beziehung, Neugierde, Bewegung und Wahrnehmung zu gestalten. Der Förderprozess sowie konkrete Förder- und Lernangebote werden in spielerische Prozesse eingebettet, denn das Spiel als spezielle, intrinsisch motivierte, grundlegende Handlungs- und Lernform vermittelt Freude.

      Über erfolgreiche Lernschritte wird gesprochen, neues Können wird transparent gemacht und Lernfortschritte, die zwischen der Lernausgangslage (Ist-Stand) und dem Fortschritt, beziehungsweise dem Lern- und Therapieziel (Soll) passiert sind werden aufgezeigt.

      Personen, die Lernende unterrichten und fördern, brauchen Flexibilität und die Fähigkeit, aktuelle Bedürfnisse zu erkennen und in den Förderungsprozess einzubeziehen (vgl. Bundschuh, 2008, S. 189ff.).

      Meist findet Lernen als kommunikativer Prozess in enger Verbindung mit der Eigenaktivität und Eigenkonstruktion der jeweiligen Person statt. Entwicklung ist auch in hohem Masse von der Umwelt insgesamt abhängig, die geistige Entwicklung und damit das Lernen von der Kommunikation, von Anregungen und Begegnungen. Der Weg zum Kind, zum Menschen überhaupt, führt über die emotional bedeutsamen und beziehungsstiftenden Prozesse mitmenschlicher Kommunikation.

      Lerntherapie trägt dazu bei, dass sich eine Klientin oder ein Klient neu wahrnehmen und sich von behindernden Bedingungen befreien kann. Neuwahrnehmung heisst hier, Möglichkeiten, Fähigkeiten, Ressourcen, Eigenaktivitäten und Kompetenzen kognitiver, sozialer, emotionaler und motorischer Art – trotz behindernder Bedingungen – in den Vordergrund der Wahrnehmung eines Klienten zu stellen. Erziehung und Bildung dürfen nicht vom unversehrten, störungsfreien, vollkommenen menschlichen In-der-Welt-Sein als Voraussetzung und Zielsetzung ausgehen. Jedes Kind trägt die ganze Würde des Menschen in sich und ist in seinem Sosein zu achten, zu akzeptieren und wertzuschätzen. Lerntherapie geht auf der Basis pädagogischer Verantwortung und Fachkompetenz Beziehungen ein, gestaltet und reflektiert sie.

      Der Begründer der hier akzentuiert vorgestellten Lerntherapie, Armin Metzger, hat durch seine Publikationen «Lerntherapie. Wege aus der Lernblockade – Ein Konzept» (2001) und «Lerntherapie in Theorie und Praxis» (2008) sowie durch die Gründung des «Instituts für Lerntherapie» in Schaffhausen nicht nur zu einem neuen Verständnis von Lernblockaden, Konzentrationsschwierigkeiten, Motivationsmängeln, Prüfungsängsten und Frustrationspotenzial beigetragen, sondern vor allem auch praktische Wege der therapeutischen Begegnung aufgezeigt.

      Literatur

      Buber, Martin: Das dialogische Prinzip. 10. Auflage. Heidelberg: Schneider Verlag, 2006.

      Bundschuh, Konrad (Hrsg.): Wahrnehmen – Verstehen – Handeln. Perspektiven für die Sonder- und Heilpädagogik. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt, 2000.

      Bundschuh, Konrad: Emotionalität, Lernen und Verhalten. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt, 2003.

      Bundschuh, Konrad: Heilpädagogische Psychologie. 4. Auflage. München: Ernst Reinhardt Verlag, 2008.

      Bundschuh, Konrad: Allgemeine Heilpädagogik. Stuttgart: W. Kohlhammer, 2010.

      Bundschuh, Konrad: Förderdiagnostik konkret. Theorie und Praxis für die Förderschwerpunkte Lernen, geistige, soziale und emotionale Entwicklung. 2. Auflage. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt, 2019a.

      Bundschuh, Konrad & Winkler, Christoph: Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik. 9. Auflage. München: Ernst Reinhardt Verlag, 2019b.

      Haeberlin, Urs: Das Menschenbild für die Heilpädagogik. 3. Auflage. Bern: Haupt Verlag, 1994.

      Kobi, Emil E.: Diagnostik in der heilpädagogischen Arbeit. 5. Auflage. Luzern: Verlag der Schweizerischen Zentralstelle für Sonderpädagogik, 2003.

      Kobi, Emil E.: Personale Heilpädagogik. Kulturanthropologische Perspektiven. Berlin: BHP Verlag, 2010.

      Metzger, Armin: Lerntherapie – Wege aus der Lernblockade. 2. Auflage. Bern: Haupt Verlag, 2002.

      Metzger, Armin: Lerntherapie in Theorie und Praxis. Bern: Haupt Verlag, 2008.

      Metzger, Armin: Lerntherapie. In: Wember, Franz; Stein, Roland & Heimlich, Ulrich (Hrsg.): Handlexikon Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen. Stuttgart: W. Kohlhammer, 2014, S. 143f.

      Möckel, Andreas: Das Paradigma der Heilpädagogik. Würzburg: Bentheim, 2019.

      Moor, Paul: Heilpädagogik. Ein Pädagogisches Lehrbuch. 3. Auflage. Bern: Verlag Hans Huber, 1974.

      Palfi-Springer, Sandra: Paul Moor – Impulsgeber einer Sinnorientierten Heilpädagogik. Berlin: BHP, 2019.

      4 Lerntherapie – was ist das? Der therapeutische Aspekt der Lerntherapie

      Barbara Indlekofer

      Was ist Lerntherapie? Der im Wort Lerntherapie enthaltene Begriff Therapie weist darauf hin, dass es dabei um etwas anderes als um Nachhilfe geht. Im Vordergrund der Nachhilfe steht nämlich das fehlende,