Ueli Kraft

Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)


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beginnt das gemeinsame Aufarbeiten des fehlenden Schulstoffs unter fachkundiger Anleitung und Begleitung des Nachhilfelehrers. Ziel ist das raschestmögliche Schliessen der Wissenslücken, sodass bessere Noten erreicht werden und die Ausbildung erfolgreich weitergehen respektive abgeschlossen werden kann. Die in der Nachhilfe thematisierten Fragen betreffen den Unterrichtsstoff, den man sich anzueignen hat. Das Subjekt des Lernens, der Lernende in seiner psychischen Befindlichkeit, spielt dabei kaum eine Rolle. Das muss auch nicht zwangsläufig sein: Sind die Lernschwierigkeiten primär Verstehensschwierigkeiten, die im Nachhilfeunterricht so aufgearbeitet werden können, dass ein Lernfortschritt objektiv in Form von besseren Noten sichtbar wird, und bleibt diese Leistungsverbesserung in etwa auch stabil, braucht es auch keine Lerntherapie. Was aber, wenn die Nachhilfe nicht fruchtet? Wenn die oder der Lernende den Stoff in der Übungsstunde zwar begriffen, in der Prüfungssituation aber das Wissen und Können einfach nicht mehr zur Verfügung hat? Hier geschieht etwas mit dem Subjekt, das keine Nachhilfe zu beheben weiss. Zudem treten Lernschwierigkeiten ja nicht einzig in Form von kognitiv bedingten Verstehensschwierigkeiten auf; auch Konzentrations- und Motivationsprobleme können das Lernen behindern und auch in solchen Fällen greift Nachhilfeunterricht als Fördermassnahme nicht. Denn Nachhilfeunterricht setzt genau dies: ein sogenannt lernwilliges und lernfähiges Subjekt als unabdingbare Basis schon voraus.

      4.1 Die Grundgedanken der Lerntherapie

      Lernen und Lernerfolg ist aber mehr als eine rein kognitive Leistung, die losgelöst vom Subjekt und seiner psychischen Verfassung stattfindet, daher lassen sich Lernschwierigkeiten und ausbleibender Lernerfolg auch nicht immer mit dem Verweis auf fehlendes Fachwissen und fehlende Fachkompetenz erklären. Es kann sein, dass die Lernfähigkeit aufgrund der psychischen Verfassung des oder der Lernenden blockiert ist, dann ist eine Lernschwierigkeit Anzeichen oder Ausdruck einer psychischen Schwierigkeit und in solchen Fällen kann die Lerntherapie weiterhelfen. Denn die Lerntherapeutin, der Lerntherapeut geht zwar auch auf die Lernschwierigkeiten des Subjekts ein, betrachtet und thematisiert diese aber nicht isoliert, sondern fragt immer auch nach dem Verhältnis von Subjekt und Lernschwierigkeit: Seit wann bestehen die Lernschwierigkeiten, in welchen Situationen treten sie auf, wie äussern sie sich? Und: Wie wirken sie sich auf die Lernende aus, wie reagiert das (familiäre) Umfeld? Was könnten die möglichen Gründe für die Lernschwierigkeit sein, welchen Sinn und Zweck auch könnten sie haben?[19] Indem der Lerntherapeut Fragen dieser Art stellt, behandelt er eine Lernschwierigkeit nicht primär als Wissenslücke, die es so schnell als möglich zu beheben gilt, sondern als ein Phänomen, das etwas über das Subjekt selbst aussagt, etwas mit ihm und seiner Geschichte zu tun hat. Und darum auch kann die Lernschwierigkeit nicht losgelöst vom Subjekt und seiner psychischen Verfassung und seiner Geschichte angegangen werden.[20] Diese Grundgedanken der Lerntherapie sollen anhand des folgenden Einblicks in ein Erstgespräch illustriert werden.

      4.2 Einblick in ein Erstgespräch – Illustration der lerntherapeutischen Grundgedanken

      Sophia[21] ist eine 14-jährige Jugendliche, die seit neun Monaten das Gymnasium besucht. Zurzeit hat sie jedoch in vier Fächern ungenügende Noten, die sie nicht kompensieren kann, und das heisst, dass ihre Promotion in drei Monaten gefährdet ist. Für die Fächer Mathematik und Französisch nutzt sie bereits seit vier Monaten das kostenlose Nachhilfeangebot der Schule, dieses Engagement hat aber bislang noch zu keiner Leistungsverbesserung geführt. Da sie in der vorhergehenden Schulstufe eine gute Schülerin gewesen ist und die für das Gymnasium erforderlichen Noten auch erbringen konnte, vermuten ihre Eltern, dass Sophia «falsch» lernt. Dies ist dann auch das Anliegen, das sie an die Lerntherapeutin haben: Sie soll mit Sophia die dem Gymnasialstoff angemessenen Lerntechniken und Lernstrategien erarbeiten.

      Im Erstgespräch, bei dem auch die Eltern präsent sind, berichtet Sophia, dass sie am Gymnasium viel Zeit ins Lernen investiere, sie gehe regelmässig in die Nachhilfe und lerne zudem auch zusammen mit ihrer Mutter. Sie wolle ja unbedingt am Gymnasium bleiben, darum organisiere sie sich dort, wo sie etwas nicht verstehe, Hilfe.

      Zu den einzelnen Fächern erzählt sie, dass sie in Mathematik dem Unterricht einfach nicht folgen könne, alles gehe so schnell und sie begreife die Erklärungen des Lehrers nicht.

      In Französisch habe sie mittlerweile eher Angst, da sie die Arbeitsaufträge während der Stunde wie auch die Fragen im Test oftmals nicht verstehe. Im Fach Geschichte würde sie vielfach die Jahreszahlen verwechseln, sie habe jeweils auch Mühe, die Texte zu verstehen, da würden so viele neue Wörter vorkommen, die sie nicht verstehe. In Biologie sei die Zeit zum Lernen für die Prüfung eher knapp, es seien nämlich stets sehr viele Lernziele, die sie erreichen müsse. Sowieso sei Biologie für sie ein neues Fach, das habe sie in der vorhergehenden Schule gar nicht gehabt, auch darum bereite ihr dieses Fach Schwierigkeiten.

      Auf die Nachfrage der Lerntherapeutin, wie denn ihre jetzige Schulsituation auf sie wirke, antwortet sie, sie habe keine Bauchschmerzen oder Schlafprobleme; stressig empfinde sie aber die dauernden Raumwechsel von einem Fachzimmer ins andere – sie habe auch jetzt, nach neun Monaten, noch Mühe, das jeweilige Zimmer zu finden, obwohl sie eigentlich einen guten Orientierungssinn habe. Zum Glück könne sie sich da auf ihre Freundin verlassen, die sie jeweils mitnehme.

      All dies erzählt Sophia freimütig und unbefangen, insgesamt wirkt sie recht heiter. Nun übernimmt die Mutter das Wort und erzählt:

      Sie lerne viel mit Sophia zusammen. Damit das möglich ist, hat die dreiköpfige Familie den Alltag umgestellt: Früher gab es ein kaltes Mittag- und ein warmes Abendessen, nun gibt es für die dreiköpfige Familie ein warmes Mittagessen, das die Mutter am Morgen, wenn Sophia in der Schule ist, vorkocht, am Abend gibt es ein kaltes Abendessen, am Nachmittag lernt sie mit ihrer Tochter. Die Mutter tritt dabei recht engagiert auf; sie beschreibt, wie sie zusammen mit Sophia lernt, und sagt bezüglich des Faches Biologie: «Wir lernen das so», und führt dann aus, dass sie mit Sophia den Lernstoff zusammenfasst, Sophia diesen dann auswendig lernt und die Mutter sie schliesslich darüber abfragt. Vielleicht aber, so meint die Mutter, gebe es ja bessere Methoden, das sei eben ihr Anliegen an die Lerntherapeutin: professionelle Unterstützung im Bereich von Lerntechnik und Lernstrategien, dies im zeitlichen Rahmen von fünf Stunden, da die Finanzierung der Lerntherapie für die Familie doch eine Budgetbelastung darstelle.

      Hier schaltet sich der Vater ins Gespräch ein und meint, dass sie alle beim Wechsel ins Gymnasium «auf die Welt gekommen» seien. Es sei doch eine grosse Umstellung hinsichtlich der Anforderungen. Sophia müsse nun aber halt selbst «den Knopf aufmachen und sich durchbeissen».

      Sophia verhält sich während der Ausführungen der Eltern sehr ruhig, sagt kaum etwas. Sie wirkt aber keineswegs bedrückt, sondern vielmehr als aufmerksame und interessierte Zuhörerin.

      Welche Informationen erhält die Lerntherapeutin nun aufgrund dieses Erstgesprächs?[22] Da sind zunächst einmal die Aussagen zu den konkreten Lernschwierigkeiten, die wie folgt zusammengefasst werden können: Sophia bekundet Schwierigkeiten beim Nachvollzug mathematischer Erklärungen und im Französisch fehlt ihr wohl ein Teil des nun erwarteten Vokabulars; zudem hat sie Mühe beim Lesen und Verstehen von Sachtexten, beim Memorieren von Jahreszahlen sowie beim Erarbeiten von umfangreichen Stoffmengen. Diese Schwierigkeiten bestehen seit dem Wechsel von der Sekundarstufe I ins Gymnasium und äussern sich in Form von ungenügenden Noten.

      Welche Auswirkungen haben diese Schwierigkeiten auf Sophia? Da die Promotion gefährdet ist, steht sie, die am Gymnasium bleiben möchte, zwar unter einem gewissen Leistungsdruck, sie reagiert darauf aber nicht mit psychosomatischen Beschwerden – diesbezüglich scheint sie also stabil zu sein. Hinsichtlich der Auswirkungen der Lernschwierigkeiten auf das Umfeld, die Familie sind dann aber doch recht grosse Veränderungen zu verzeichnen: Der Familienalltag wurde umorganisiert, so dass die Mutter mit Sophia lernen kann, und das heisst ja auch, dass die Mutter und Sophia aufgrund des gemeinsamen Lernens mehr Zeit miteinander verbringen. Zudem kann auch vermutet werden, dass die Mutter, die über keinen Gymnasialabschluss verfügt, selber auch einiges für sie Neues erlernt. Der Vater, der einen handwerklichen Beruf ausübt, bleibt hingegen bei diesem Lernsetting von Mutter und Tochter aussen vor, ist dabei eher ein passiv Beteiligter. Indem sich die Lerntherapeutin nach dieser