Ueli Kraft

Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)


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Lernentwicklung: Da die Persönlichkeits- und die Lernentwicklung einen wechselseitigen Prozess darstellen, wirken sowohl Störungen wie auch Förderungen der einen wie der andern, das heisst der Persönlichkeit wie des Lernens, auf das eine wie auf das andere, also von der Persönlichkeit auf das Lernen wie umgekehrt vom Lernen auf die Persönlichkeit.

      3.5 Lernschwierigkeiten und Handlungskonzept

      Ansatzpunkt der Lerntherapie sind Probleme im oder mit dem Lernen. Die Lerntherapie unterscheidet je nach deren Ursachen primär drei Kategorien von Lernschwierigkeiten: funktionale, aktionale und personale. Entsprechend diesen verschiedenen Ursachenkategorien arbeitet sie gemäss ihrem Handlungskonzept auf vier Stufen (vgl. Metzger, 2014, S. 153f.):

       Bei funktionalen Lernschwierigkeiten steht entsprechend der Lerntherapiestufe I die operative Aktivität der Lernenden im Zentrum.

       Bei aktionalen Lernschwierigkeiten (Schwierigkeiten mit dem zu Lernenden wie mit sich selbst und in ihrer Wechselwirkung) konzentriert sich die Lerntherapiestufe II auf die Persönlichkeit in ihrer operativen Aktivität mit dem jeweils aktuellen Lerngeschehen und dessen individueller Bewältigung, den Emotionen, dem Denken und dem Verhalten der Lernenden (Lerndynamik).

       Bei personalen Lernschwierigkeiten aus der intrapsychischen Dynamik wendet sich die Lerntherapiestufe III therapeutisch nahezu ausschliesslich der Persönlichkeit und ihren Problemen zu.

       Bei personalen Lernschwierigkeiten, ausgelöst in der interpsychischen Dynamik, zentriert sich die Achtsamkeit der Lerntherapiestufe IV auf die Beziehungen, ihre Dynamik und ihre Auswirkungen (Schule, Familie, Peergruppen).

      Da auf der Basis von Untersuchungen und Erfahrungen von Metzger (2008, S. 22) die grosse Mehrzahl der Lernschwierigkeiten die Persönlichkeitsentwicklung stark beeinflusst, wird in der Lerntherapie entsprechend am häufigsten auf den Lerntherapiestufen II und III gearbeitet.

      3.6 Menschenbilder aus heilpädagogischer und lerntherapeutischer Sicht

      Im Mittelpunkt der Geschichte der Heilpädagogik stehen Scheitern und Neuanfang in der Erziehung. Heilpädagogik begibt sich auf die Suche nach neuen Wegen in der Erziehung, wenn Erziehungs- und Lernprozesse nicht in Gang kommen, ins Stocken geraten oder vorzeitig abbrechen (vgl. Bundschuh, 2010, S. 19–32).

      Es geht primär um eine – neue – heilpädagogische Sinnorientierung (Palfi-Springer, 2019) von Kindern und Jugendlichen, die in vor-, ausser- und nachschulischen Handlungsfeldern aufgrund von Erziehungsfehlern sowie institutionellem Zwang und Druck in Not geraten sind.

      Unter Berücksichtigung der Bedeutung und der Geschichte des Begriffs Heilpädagogik geht es um ein behutsames erzieherisches Beeinflussen des Kindes in seiner somatopsychischen Ganzheit mit all seinen Schwierigkeiten auf der Basis guter zwischenmenschlicher Beziehungen. Das Anbahnen, Entwickeln und Vertiefen des erzieherischen Verhältnisses und seine Realisierung in der dialogisch-helfenden Beziehungsgestaltung wird bedeutsam (vgl. Kobi, 2010). Im Kontext Lerntherapie handelt es sich um eine Erziehung, die auf der Basis von Fachkompetenz etwas Zusätzliches in quantitativer und qualitativer Hinsicht bedeutet. Darüber hinaus zeichnet lerntherapeutisch Tätige eine innere Haltung aus, die ihr Tun und Denken trägt, gerade dann, wenn sich nicht gleich Lösungen finden oder Erfolge einstellen. Der Begriff «Heilpädagogik» wird hier verwendet im Sinne von «kinderorientierter Pädagogik». Dazu gehört ein Menschenbild, das jedes Kind in seiner Eigenart und Einzigartigkeit akzeptiert, achtet und ernst nimmt, eine pädagogisch-philosophische Orientierung, die ausgehend von den jeweils individuellen Möglichkeiten sowie konkreten Lebensbedingungen des Kindes auch die ureigenen Möglichkeiten wie Emotionen, Ressourcen und Kompetenzen unterstützt sowie fördert – und nicht primär das Anpassungsverhalten (vgl. Bundschuh, 2008, S. 49–55; Bundschuh, 2019a, S. 81–86). Es geht dabei keinesfalls um die Erziehung nach einem Menschenbild, wie es zum Beispiel Religionen, staatliche Systeme, vielleicht auch manche Lehrerinnen und Lehrer an Gymnasien vermitteln. Es gibt für die Einzigartigkeit eines Kindes kein Vorbild oder gar Muster. Eine Erzieherin oder ein Erzieher, die oder der ein Kind nach einem bestimmten Menschenbild erzieht, missbraucht an sich ihre oder seine «Vollmacht» zu erziehen (vgl. Möckel, 2019, S. 101). Urs Haeberlin hebt die «Gefahren von nicht-bewussten Menschenbildern» (1994, S. 18ff.) hervor und skizziert diese anhand von Beispielen im Kontext «Alltagstheorien».

      Kein Zweifel, wir machen uns ein Bild von Menschen und von Menschengruppen, aber wir müssen uns immer wieder die Frage stellen, welches allgemeine Menschenbild wir haben, und welches Bild von diesem oder jenem Kind mit Lern- und Verhaltensproblemen. Ein Menschenbild bildet auch die Grundlage unseres Tuns und Erkennens, aber wir müssen sehen, dass im Alltag ein Bild von einem Kind mit einer Behinderung, einer Lernproblematik, einem Kind, das vielleicht unter behindernden sozialen und materiellen Bedingungen aufgewachsen ist und von seinen Lehrerinnen und Lehrern als «lerngestört» oder «verhaltensgestört» bezeichnet wird, viele Aspekte von Vorurteilen aufweisen kann. Ein Menschenbild kann auch relativ leicht zur «Schuldigsprechung» führen in dem Sinne: «Wenn ein Kind eben nicht richtig – lernen – will, dann ist es selbst schuld.» Auch der oder die im Arbeitsfeld Lerntherapie Arbeitende unterliegt der Gefahr, dass er oder sie durch Theorien oder durch Meinungen anderer Personen, etwa eine rein traditionell medizinische Sichtweise (vgl. Bundschuh, 2019a, S. 47–51) auch durch Geschriebenes wie zum Beispiel Schülerakte und Gutachten zu Meinungen kommt, die anthropologisch betrachtet nicht haltbar sind. Ein kritisches und gut reflektiertes, gleichzeitig für zukünftige Entwicklungen offenes Menschenbild ist notwendig.

      3.7 Wahrnehmen, Verstehen und Handeln

      Heilpädagogik und Lerntherapie stehen gleichermassen im Dienste der Kinder und Eltern, die im Rahmen von Erziehung und Unterricht traditioneller Art in eine Problemsituation geraten sind. Es geht der Lerntherapie vor allem um ein Wahrnehmen und Verstehen dieser Problemsituation und um adäquates Handeln. Reichtum einerseits und alarmierende Zahlen über die Zunahme realer Armutserfahrungen von Kindern, Jugendlichen, alleinerziehenden Müttern und ausländischen Familien andererseits – gesellschaftliche Ausgrenzungen, der Kampf um elementare Menschenrechte und Kontroversen hinsichtlich der Würde des Menschen – diese beispielhaften Veränderungen und Differenzen bilden einen wichtigen Ausgangspunkt des Nachdenkens über Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen mit Lernstörungen und Verhaltensproblemen, die häufig unter behindernden Bedingungen leben. Diese komplexen Herausforderungen generieren die Impulse zukünftiger lerntherapeutischer Theorie und Praxisentwicklungen.

      Einerseits bedeutet Wahrnehmen, die Aufmerksamkeit auf das Sosein eines Menschen zu richten, ihn zu beachten, sein Leben in seiner speziellen Situation zu betrachten und zu analysieren, seine Lebenssituation mit Blick auf Verstehen und Unterstützen zu reflektieren. Andererseits steht der Begriff «Wahrnehmung» für die Aktivitäten des Gehirns. Wahrnehmen ist ein Prozess, durch den sich der Mensch in Form von Informationsaufnahme über die Sinnesorgane und Reizverarbeitung im Gehirn Welt konstruiert und aneignet, wobei die eigene Aktivität der wahrnehmenden Person im Vordergrund dieses Vorganges steht (Bundschuh, 2019b, S. 308–313). Das Informationsmaterial wird dabei so verarbeitet, dass für das Individuum auf der Basis emotionaler Prozesse immer wieder neu Bedeutung entsteht (ebd. 2003, S. 111ff., S. 147–152). Wahrnehmung bildet somit die Grundlage für die Begegnung mit der Person- und Sachumwelt sowie dem eigenen Selbst auf der Basis ständiger Bewertungen. Neuwahrnehmung heisst hier Möglichkeiten, Fähigkeiten und Kompetenzen kognitiver, sozialer, emotionaler und motorischer Art – trotz möglicher behindernder Bedingungen – in den Vordergrund der Wahrnehmung eines Klienten oder einer Klientin zu stellen.

      Welche Assoziationen sind mit dem Begriff «Verstehen» verbunden? Die moderne, rational orientierte Wissenschaft lehnt häufig mit scheinbar einsichtigem Begründen unsichere Begriffe wie beispielsweise «pädagogischer Bezug», «heilpädagogische Beziehung» und auch «Verstehen» ab. Mit Wahrnehmen und dem Versuch, zu verstehen, entwickelt sich allmählich ein Bild vom Gegenüber, vom Du (Buber, 2006). Einen Menschen verstehen heisst, seinen bisherigen Weg gedanklich und empathisch nachvollziehen und ihn in seinem Sosein annehmen – ihn