Ueli Kraft

Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)


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diskutierte. Er ging davon aus, dass die schädlichen Auswirkungen auf die Säuglinge vor allem eine Folge von emotionaler Deprivation (Entzug von emotionaler Wärme und Zuneigung der primären Bezugsperson) waren (Bowlby, 1969). Die hohe Kindersterblichkeit in den Heimen sei folglich damit zu erklären, dass das Erreichen von Nähe und Geborgenheit zu einer Bindungsperson ein primäres, angeborenes Bedürfnis von Säuglingen ist. Wenn dieses Grundbedürfnis nicht gestillt wird, können Kinder massive seelische Störungen entwickeln, die in schweren Fällen tödlich sind. Neuartig war zu dieser Zeit die Auffassung, dass neben der intakten körperlichen Versorgung die liebevolle Fürsorge und Zuwendung von mindestens einer konstanten Bezugsperson für die Entwicklung von Kindern elementar und sogar überlebenswichtig sei. Diese Erkenntnisse führten in der damaligen Zeit zu erheblichen Qualitätsverbesserungen in der institutionellen Kinderbetreuung, um Deprivationserfahrungen fortan zu verhindern (Brisch & Hellbrügge, 2009). Gleichzeitig gelten sie bis heute als Geburtsstunde der Bindungsforschung, indem sie das Bewusstsein für die Relevanz menschlicher Bindungen schufen.

      2.2 Bindung als angeborenes Grundbedürfnis

      Der menschliche Fetus wird in einer sehr viel früheren Phase der individuellen Entwicklung geboren als der Nachwuchs jeder anderen Art von Säugetieren. Die Entwicklung findet deshalb über einen wesentlichen Zeitraum ausserhalb des Mutterleibs statt. Infolgedessen sind der Aufwand in der Kinderbetreuung und das Investment in die Bindung deutlich ausgeprägter verglichen mit den meisten anderen Tierarten (Bowlby, 2006). Für das Neugeborene hat die Aufrechterhaltung der Nähe zu den primären Bezugspersonen eine existentielle, überlebensnotwendige Funktion. Säuglinge verfügen ab Geburt über ein Verhaltensrepertoire von Bewegungen und Kommunikationsfertigkeiten (Laute, Gestik und Mimik), um Bedürfnisse zu signalisieren (z.B. durch Weinen, Wimmern und Schreien, später auch durch Rufen, Nachlaufen oder Anklammern). Dieses Bindungsverhalten zeigt der Säugling bei Irritation, Angst, Missempfindung, Unbehagen, Erkrankung und bei jedem anderen Versorgungsbedürfnis oder Stresserleben. Ziel des aktivierten Bindungssystems ist es, eine versorgende Bezugsperson zu erreichen, die dem Kind Schutz bietet, seinen Stress reduziert und so zur Wiedererlangung von Sicherheit und Geborgenheit beiträgt (Grossmann & Grossmann, 2012).

      Idealerweise binden sich Säuglinge an zuverlässige, fürsorgliche, stärkere und weisere Erwachsene, die sie schützen und versorgen und ihr Aufwachsen und Lernen aufmerksam begleiten. Die feinfühlige Fürsorge der primären Bezugspersonen stillt die kindlichen Versorgungs- und Zuwendungsbedürfnisse durch emotionale Wärme, Nähe, Trost und Sicherheit (in den Arm nehmen, streicheln, liebevoll zureden, füttern, wickeln etc.). Kleinkind und Bezugsperson werden hier als aktiv Interagierende betrachtet; Bindungs- und Fürsorgesystem beeinflussen sich zirkulär und wechselseitig. Durch konstant verlässliche und sichere Bindungserfahrungen gelangen Kinder zu der grundlegenden Überzeugung, dass die Welt ein sicherer Ort ist, an dem sie geliebt werden, und sich jemand um sie sorgt, wenn sie belastet sind.

      2.3 Die Bedeutung der elterlichen Feinfühligkeit

      Die Feinfühligkeit (resp. Sensitivität[18]) der primären Bezugspersonen ist eine Schlüsselvariable im Verständnis von Bindungserfahrungen und ihren Folgen für die Kindesentwicklung. Das Feinfühligkeitskonzept gründet hauptsächlich auf den frühen Untersuchungen von Mary Ainsworth (1977), die Feinfühligkeit als die Fähigkeit von Betreuungspersonen definierte, die Bedürfnislage des Kindes einfühlsam zu lesen und adäquat zu beantworten. Hierbei sind 4 Merkmale von besonderer Bedeutung:

      1 Wahrnehmung: Die Bezugsperson ist hinreichend zugänglich und aufmerksam gegenüber den kindlichen Signalen und nimmt auch subtile und nonverbale Äusserungen wahr.

      2 Interpretation: Die Bezugsperson erkennt, was der Säugling braucht. Die adäquate Interpretation bedingt eine störungsfreie Wahrnehmung und Einfühlungsvermögen.

      3 Promptheit: Die Bezugsperson reagiert unverzüglich innerhalb eines Zeitfensters, in welchem für das Kind ein Zusammenhang mit seiner Regung wahrnehmbar ist. Gemäss Experimentalstudien mit wenige Monate alten Säuglingen sollte das Reiz-Reaktions-Intervall innerhalb von etwa 5 bis 8 Sekunden liegen, damit es vom Säugling als kontingent wahrgenommen wird. Aber je älter das Kind wird, umso länger kann das Intervall dauern.

      4 Angemessenheit: Die Bezugsperson stillt die kindlichen Bedürfnisse adäquat, je nach Zuwendungsbedürfnis des Kindes (z.B. Schutz und Trost bei Angst und Erschrecken, Anregung bei Langeweile etc.). Die angemessene Reaktion kann das Kind effektiv beruhigen oder regulieren, sie ist strukturiert und vollständig (Bindungsverhalten des Kindes ist wirksam).

      Die Qualität der elterlichen Feinfühligkeit gilt wissenschaftlich als stärkster bekannter Vorhersagefaktor für die Entwicklung eines sicheren Bindungsmusters beim Kind (vgl. Tab. 1; Grossmann & Grossmann, 2003). Feinfühlige Bezugspersonen haben Kleinkinder, welche ihre Bedürfnisse häufiger durch ruhiges Wimmern signalisieren als mit lautem Schreien und Weinen. Indem sich diese Kinder leichter beruhigen lassen, sind auch meist die Eltern-Kind-Interaktionen stressfreier. Im Kindergarten und in der Schule sind Kinder von feinfühligen Eltern weniger aggressiv, bei den Gleichaltrigen beliebter, weisen bessere sozial-emotionale Kompetenzen (z.B. Kommunikationsfähigkeiten, Emotionsregulation) sowie einen höheren Selbstwert auf. In der Adoleszenz verfügen sie über ein positiveres Selbstkonzept, bessere Emotionsregulationsstrategien und stabilere Freundschaftsbeziehungen. Im Erwachsenenalter ist ihre eigene Feinfühligkeit gegenüber ihren Kindern ausgeprägter, was sich wiederum positiv auf die Bindungsqualität der nächsten Generation auswirkt (Bodenmann, 2016a).

      Neben der elterlichen Feinfühligkeit spielen jedoch auch andere Einflussfaktoren eine Rolle in der Bindungsentwicklung. Seitens des Kindes hat sich das kindliche Temperament im Säuglingsalter als besonders relevant herausgestellt. Mehrere Studien fanden, dass Neugeborene mit ungünstigem Temperament (hohe Irritier- und Reizbarkeit, geringe Anpassungsfähigkeit in neuartigen Situationen) mit höherer Wahrscheinlichkeit später eine unsichere Bindung ausbilden (vgl. Spangler & Zimmermann, 2019). Neuere Erkenntnisse aus Studien, die die elterliche Feinfühligkeit zusammen mit der genetischen Disposition für psychische Störungen bei Kleinkindern untersuchten, deuten darauf hin, dass die feinfühlige Fürsorge das genetische Risiko puffern kann (vgl. Zimmermann, Mohr & Spangler, 2009). Dies bedeutet, dass Kinder mit einer angeborenen Risikokonstellation für kindliche Störungen (z.B. Vorliegen einer genetischen Vulnerabilität für Depressionen oder ADHS) nicht häufiger emotionale oder Verhaltensprobleme entwickeln, wenn sie im frühen Kindesalter konsistent sensitives Fürsorgeverhalten erfahren.

      Zusammengefasst werden in einer modernen, integrativen Sichtweise individuelle Eigenschaften der Bezugsperson und des Kindes, deren Passung sowie Sozialisationsfaktoren in einem wechselseitigen Verständnis berücksichtigt. Die Kombination und Interaktion dieser Faktoren bestimmen, wie günstig typische Alltagsinteraktionen zwischen Kind und Bezugsperson ablaufen und wie sich infolge die Eltern-Kind-Bindung über die Zeit formiert.

      2.4 Ausbildung von kindlichen Bindungsmustern und inneren Arbeitsmodellen

      Empirische Befunde zeigen, dass Bezugspersonen von sicher gebundenen Kleinkindern (Typ B) hohe Feinfühligkeit aufweisen, Bezugspersonen von Kindern des unsicher-vermeidenden Bindungsmusters (Typ A) weniger einfühlsam auf das Kind reagieren oder ihm weniger Sicherheit vermitteln und Bezugspersonen von Kindern mit unsicher-ambivalenter Bindung (Typ C) in ihrer Feinfühligkeit von der Passung her inkonsistent und vigilant für Probleme des Kindes sind. Tabelle 1 veranschaulicht die spezifischen Charakteristika der verschiedenen Bindungsmuster im Kleinkindesalter sowie das zugehörige typische Fürsorgeverhalten der primären Bezugsperson.

      Individuen entwickeln auf der Grundlage von wiederholt erfahrenen, typischen Interaktionsmustern mit ihren primären Bezugspersonen in der frühen Kindheit später innere Arbeitsmodelle. Darin werden frühe Bindungserfahrungen gespeichert, verinnerlicht und in ein Gesamtbild integriert (Bowlby, 2006). Es handelt sich um die interne Repräsentation von Bindung, die Menschen in Abhängigkeit ihrer Lern- und Beziehungsgeschichte und auf der Basis gleichförmiger Bindungserfahrungen entwickeln. Innere Arbeitsmodelle bilden gleichsam das Entwicklungsfundament für Urteile und Erwartungen