Johann Gottfried Herder

Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang


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Francesco! Ich sollte mich dieser Stunde freuen. Wie konnte Ruggieri den menschlichen Gedanken fassen, deinen Tod zu beschleunigen? Es ist wundervoll, ich gesteh es.

      Francesco. Bist du stark genug, meine traurige Erzählung zu hören?

      Ugolino. Ich glaube, daß ich sie hören kann.

      Francesco. Im Taumel meiner Wonne, Pisas Pflaster noch einmal zu betreten, floh ich augenblicklich dem Palaste meiner Mutter zu. Alle Wände hallten von der Wehklage ihrer Frauen. Ich blieb nicht lange im Zweifel. Blind vom Schrecken stürzte ich vor der Schwelle nieder. Als ich erwachte, sah ich das Zimmer voll hagerer hohnblickender Gesichter; Ruggieri war nicht unter ihnen. Ich wollt entspringen, da ich mich umringt sah: allein ich war von ihren Riechwassern, wie sie sie nannten schwindlicht und krank. Man riß mir die Kleider auf; man bot mir einen Becher mit kühlem Getränke dar; ich trank; meine Geister waren verwirrt. Neue Ohnmachten überfielen mich, und da ich endlich die Augen öffnete, herrschte stille Nacht um mich her, ich fühlte mich schweben, in einem engen Raume, und atmete schwerer: wo ich aber war, konnt ich nicht erkennen. Lange vernahm ich nur ein undeutliches Geräusch in meinen Ohren: zuletzt eine Stimme. O diese Stimme! Noch zittre ich. Sie hatte mich versteinert, daß ich den Gebrauch meiner Sinne verlor, bis ich, wie im Traume Gaddo reden hörte.

      Ugolino. Was sagte diese Stimme?

      Francesco. Verlange nicht, es zu erfahren.

      Ugolino. Da ich das Ärgste weiß?

      Francesco. Wahr ist's. »Ich erwarte euch hier unten«, zischelte sie. »Ich will den Thurmschlüssel selbst in den Arno werfen. Was droben ist, gehört der Verwesung: kein lebendiger Mensch soll diese Stufen nach uns betreten. Es müssen noch Schlupfwinkel im Thurm sein«, sprach sie lauter; »verwahrt sie: denn der Thurm ist von dieser Stund an verflucht! ein Gebeinhaus!« –

      Ugolino. Und verflucht die Stimme, die diese Unmenschlichkeit aussprach! O Pisa! Schandfleck der Erde! geschieht das in deinen Mauren? Ich will der unerhörten Bosheit itzt nicht weiter nachsinnen. Es könnte die Weisheit selbst wahnsinnig machen. (Geht gedankenvoll) Sollen meine armen Kinder zu meinen Füßen verhungern? Verhungern? Hast du jemals dies greuliche Wort: »Verhungern!« recht überdacht, Francesco?

      Francesco. Sprich es nicht aus, mein Vater!

      Ugolino. Selbst Verhungern zu milde! Verhungern sehn! Meine Kinder verhungern sehn! Und dann verhungern! Das ist das große Gericht! Und bin ich! ich Gherardesca! ich der Sieger! ich, der ich einen Fürsten zu ehren schien, wenn ich ihn meiner Rechten an meiner Tafel würdigte! bin ich be stimmt den Tod des Hungers zu sterben? Doch stille! Ich will, ich will des Schändlichsten, o dieses Schändlichsten Frevelstücke nicht nachsinnen! Aber ach! wie bedaure ich dich, mein Francesco!

      Francesco. Mich?

      Ugolino. Dich. Hast du mir alles erzählt?

      Francesco. Alles, alles.

      Ugolino. Keinen kleinsten Umstand verschwiegen?

      Francesco. Keinen. Verlaß dich drauf.

      Ugolino. Überlege es wohl.

      Francesco. Keinen, keinen, mein Vater; nicht den mindesten.

      Ugolino. So bedaure ich dich! Bei allem, was heilig ist, ich bedaure dich!

      Francesco. Du setzest mich in Verwundrung.

      Ugolino. Was für Grund hattest du, zu hoffen, daß der Becher, den man dir reichte, ein Giftbecher sei?

      Francesco. Er kam von Ruggieri. Was konnt er sonst sein?

      Ugolino. Siehst du? Du trautest Ruggieri Menschlichkeit und Gefühl zu. Nein, nein, mein Sohn, es war ein Erquicktrank; ich kenn ihn besser.

      Francesco. Ha! wenn dem so wäre! ich dürfte mit meinem Vater ganz ausdulden! gewürdigt sein, ihn zu trösten und zu ermuntern! die Stütze seines reifern Elends! der Teilnehmer seiner Leiden! Ach ich wäre beneidenswürdig! Ich kann's nicht glauben!

      Ugolino. Francesco, was du mir itzt sagst, ist der empfindlichste Vorwurf, den mir je ein Sterblicher gemacht hat.

      Francesco. Ich zittre.

      Ugolino. Wie sehr hab ich dich verkannt! Dein Herz ist ein erhabnes Herz, Francesco! Ich bewundre dich. Ich betrachte dich mit Entzücken.

      Francesco. Nur dein Herz ist erhaben, mein Vater. Ich bin eigennützig. Doch wage ich nicht, es zu hoffen. Mein Leben neigt sich; ich fühl es zu sehr.

      Ugolino. Überreste deiner Ohnmacht – Du warst in einen Sarg gepreßt.

      Francesco. Gesegnet, gesegnet seist du mir, bester Vater! Du machst mich noch einmal glücklich!

      Ugolino. Laß uns diese Unterredung abbrechen, du große Seele; sie rührt mich zu sehr.

      Francesco. Wollen wir jenen Sarg nicht entfernen, der itzt meine Augen nur ärgert? Ich hoff ihn noch lange nicht zu bewohnen.

      Ugolino. Ich bin's zufrieden. (sie tragen Francescos Sarg ab)

      Vierter Aufzug

       Inhaltsverzeichnis

      Ugolino. Bin ich endlich allein? (Er schiebt den Sargdeckel ab) Hier war ich König! Hier war ich Freund und Vater! Hier war ich angebetet! Ich heischte mehr. Ich wollte Sklaven im Staub meines Fußtritts sehen; und so verlor ich alles, was das parteiische Verhängnis mir geben konnte. Wenn ich mir itzt das goldne Gepränge, die Trophäen, den Stolz meiner kriegerischen Tage zurückerkaufen könnte, ach mit Entzücken gäb ich sie alle die geprahlten Nichtswürdigkeiten, um ein dankbares Lächeln ihrer errötenden Wangen, um einen belohnenden Blick ihrer Augen, um einen Ton ihrer Lippen, um einen Seufzer der Freude aus ihrer Brust. Ach Ugolino, du warst glücklich! Kein Sterblicher war glücklicher! Und du hättest glücklich vollenden können! Da sitzt der Stachel! Ich bin der Mörder meiner Gianetta! Wider mich hebt sie ihr bleiches Antlitz zum Himmel! Auf ihren Ugolino ruft ihr unwilliger Schatten den Richter herab! Liebenswürdiger Geist! liebenswürdig in deinem Unmut! Ist dein Antlitz ganz ernst? Ah! dein Antlitz ist ernst! Einst hab ich dich gesehn, meine Gianetta; liebevoll und schüchtern sankst du in meine Arme. Ruggieri Ubaldini trat heran; das Gewand des Heuchlers rauschte lauter; sein bleifarbigtes wässerigtes Angesicht tobte vom SThurm seiner Seele; er wälzte seine adrigten Augen weit hervor; Tücke und Verderben lauschten nicht mehr im Schleier der Nacht! Du aber lagst furchtsam atmend an meinem Halse. Da erhob sich mein Herz! Da erkannte Ruggieri noch einmal Gherardesca, den Mann! Da waren deine Blicke mild, wie der Morgentau; und deine süßen Lippen, deine Nektarlippen, deine Wonnelippen (Er küßt sie) nannten Pisas Befreier deinen Erretter! Nun bin ich gebeugt, meine Liebe! Mein Haar ist nun grau, und mein Bart ist fürchterlich, wie eines Gefangnen. Doch der große Morgen wird ja kommen! schrecklich, dunkelrot und schwül von Gewittern wird er ja kommen! In seinem schwarzen Strahle will ich erlöschen! In seiner gebärenden Wolke soll, wie Feuer vom Himmel, mein Geist über Pisa stehn! Dann erzittre ein Elender! aber nur einer. Feuer und Rache! ist meine Gianetta gefallen! (Steht tiefsinnig) Mit Gift hingerichtet haben sie meine Gianetta? Gift sogen sie aus den Worten meiner Liebe? ah! aus den Worten meiner Liebe? Einsame Erde! ich traure! Was? mit Gift hingerichtet haben sie meine Gianetta? (Geht stillschweigend) Gern möcht ich die Stimme des Abgrundes vergessen! o daß ich sie nie gehört hätte! Ein Gebeinhaus der Verhungernden! Ein Gebeinhaus der Verhungernden! Denn der Thurm ist von dieser Stund an verflucht! ein Gebeinhaus der Verhungernden! Ha! wie er wütet, der Gedanke! wie er sich in mir umkehrt! Ich kann ihn nicht ausdenken! und mag nicht! O pfui! pfui! Brandmal für die Menschlichkeit! ewiges Brandmal! Ich kann mich deiner nicht erwehren; du Wohnhaus des Schreckens! nicht mehr Kerker meiner Erniedrigung! Gruft! Gruft der Gebeine Gherardescas! Gruft meiner Auferstehung! aber erst meiner Verwesung! ah! nicht nur meiner! Fürchterlich! hier hinsinken! hier mit dem Tode ringen! einsam! von keiner freundschaftlichen Hand unterstützt! ganz einsam! mein Weib, meine Kinder rings um mich gesammelt! dennoch ganz einsam! jeder Sinn voll ihrer Verwesung! fürchterlicher als einsam! Tod, wie keiner dich starb, o du bist fürchterlich! Ich will nicht, ich will dich nicht denken! (Er sieht Gaddo) Doch zwingt