Annemarie Selinko

Morgen ist alles besser


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sich so schön durchschwindeln. Und jetzt, seit uns die Mikula so malträtiert, weiß ich nicht, Vater, was ich machen soll …«

      Große Tränen in Tonis Augen. »Anton, mach keine Szenen, erwachsene Menschen weinen nicht. Und schon gar nicht, wenn sie nicht allein sind. In welchem Gegenstand geht es dir noch schlecht?«

      »In Mathematik. Aber da kann ich nichts dafür, Mathematik verstehe ich nicht. Vater, ich kann mir unter einer Hyperbel nichts vorstellen und unter einem Sinus und einem Kosinus auch nichts. Ich kann nur Sachen begreifen, die ich mir vorstellen kann.«

      »Es ist ein Skandal«, murmelt Friedl und kann sich unter Sinus und Kosinus auch nichts vorstellen.

      »Gib mir noch eine Zigarette, Friedl, dann sag ich dir alles«, flüstert Toni. Sie brennt die Zigarette an und beginnt mit großen Schritten auf und ab zu laufen. Toni macht Bilanz: »In Mathematik und Latein geht es in diesem Semester schief. In Geographie komm ich noch einmal dran, wir haben jetzt Nordamerika, ich werde Nordamerika büffeln, und vielleicht kann ich mich herausreißen. Aber Vater, du musst zur Mikula!«

      »Wann hat sie die nächste Sprechstunde?«

      »Nächsten Montag. Vormittags von elf bis zwölf.«

      »Ausgeschlossen, Anton, nächsten Montag muss ich dem Direktor referieren, ich habe keine Ahnung, wann er mich rufen lässt, ich kann aus dem Büro nicht weggehen. Übernächsten Montag gehe ich zu ihr, wie heißt sie nur? – ach ja, Frau Professor Mikula –, sag dem Fekete, dass er mich übernächsten Montag daran erinnern soll. Ich werde mir Zeit nehmen.«

      »Danke, Vater«, murmelt Toni.

      Der Friedl hat natürlich recht, der einsame Kaktus auf dem Tisch ist eine trostlose Angelegenheit, überlegt die Toni. Ihr großer Kummer ist gar kein großer Kummer mehr, sie hört auf, an die Mikula zu denken, der Friedl wird ihr schon helfen. Auf einmal fühlt sie sich satt und zufrieden und ein bisschen müde, die richtige Nach-Tisch-Stimmung. Friedl ist eingeschlafen und Toni ist zu faul, um aus dem Zimmer zu gehen. Sie bleibt still neben ihm sitzen und geht mit ihren Gedanken spazieren.

      Zuerst denkt sie noch an den Kaktus. Früher war unser Tisch viel schöner, fällt ihr dann ein. Als wir noch die vielen Silberschüsseln hatten. Schade: Wir sind keine Parvenüs. Die Meier hat einen Pelzmantel bekommen. Silbergraues Feh, geborenes Kaninchen, ein wunderschöner Pelzmantel. Neulich erzählte es Toni dem Friedl. »Ein junges Mädchen braucht keinen Pelzmantel«, sagte Friedl.

      »Aber die Meier hat doch einen«, beteuerte Toni. Friedl machte sein hochmütiges Gesicht und meinte so nebenbei: »Anton, wir sind doch keine Parvenüs.«

      Nein, leider sind wir keine Parvenüs, stellt Toni fest. Leider, leider. Wir sind sogar das Gegenteil von Parvenüs: Wir sind von so alter Vornehmheit, dass wir in der Nachkriegszeit unser Silber verkaufen mussten. Es ist keine Schande, Silberschüsseln zu verkaufen. Aber es ist auch keine Ehre. Es ist nur unerfreulich. Und es ist sicherlich ein herrliches Gefühl, ein richtiger, großer Parvenü zu sein.

      Toni sieht Friedls Gesicht an. Mit einer wilden Zärtlichkeit studiert sie des Vaters Gesicht. Zwei bittere, hochmütige Falten gehen an den Mundwinkeln vorbei. Toni findet die Furchen sehr interessant. Ihr Friedl ist ein schöner Mann. An seinen Schläfen schimmern graue Haare, aber er sieht trotzdem nicht wie ein Vater aus. Und Toni denkt begeistert: mein père noble.

      Die Raftl hat einmal zur Toni gesagt: »Ihr seid ein komisches Haus.« Sie war nämlich nachmittags bei Toni gewesen, hatte mit ihr gelernt, und abends kam Friedl nach Hause, machte vor der Raftl eine flüchtige Verbeugung und murmelte: »Küss die Hand, liebes Fräulein.« Die Raftl ist damals sehr rot geworden und verlegen. Und als ihr im Vorzimmer der Fekete in den Mantel half, der Fekete, den Friedl in einen Steireranzug gesteckt hat, ein Steireranzug ist kleidsam und praktisch, also als die Raftl den Fekete in seiner Livree sah, wurde sie noch mehr verlegen. Und am nächsten Vormittag sagte sie in einer Schulpause, dass die Hubers ein komisches Haus seien.

      Vielleicht sind wir wirklich ein komisches Haus, denkt die Toni. Angestrengt versucht sie, sich an ihre Mutter zu erinnern, das geschieht öfters, aber nicht viel Erinnerung ist geblieben. Toni macht die Augen zu und versucht, ein Bild zu sehen. Die Mutter war schlank und – eine rote Jacke hatte sie, fällt der Toni ein. Mutters Gesicht – manchmal ist es ihr, als könnte sie sich ganz klar an das Gesicht erinnern, aber das kommt vielleicht daher, weil Friedl ihr viele Fotographien von der Mutter gezeigt hat. In jenen Tagen, als die kleine Toni immer beim Fekete in der Küche sitzen durfte, war die Mutter wohl krank. Der Fekete machte für Toni quietschende Schweinderln nach und zeigte ihr »Fekete – Habt acht« und »Fekete – rrrruht«. Darüber musste die dreijährige Toni so lachen.

      Dann kamen ein paar Nachmittage, an denen viele fremde Leute im Speisezimmer herumsaßen. Und auch die Tante Florentine war da, ganz in Schwarz, und sie weinte und wollte die Toni küssen. Aber die Toni lief davon, weil Tante Florentine mehr mit der Nase als mit den Augen weinte, sie schnaubte und – dem Fekete gefiel sie auch nicht. Alle sagten: »Das arme, arme Kind.« Tonis Mutter war an Grippe gestorben, es war in der Nachkriegszeit, als die furchtbare Grippeepidemie in Wien wütete.

      Das erste Kinderfräulein kam ins Haus. Bis zu Tonis zwölftem Lebensjahr waren Gouvernanten hier, keine hielt es länger als ein paar Monate aus, ein Bataillon von Gouvernanten kam und ging. Der Fekete ekelte alle aus dem Haus, er hetzte den Friedl gegen die Fräuleins auf, knurrte »Weibererziehung«, und Toni vertauschte die Kinderstube mit der Küche.

      »Mein Kind, warum hält denn dein Vater noch immer diesen Fekete?«, hat Tante Florentine einmal gefragt. Früher musste Toni, jeden Sonntagvormittag zu Tante Florentine auf Besuch gehen. Solange man klein und wehrlos ist, kann man sich nicht genügend schützen und wird zu grässlichen Tanten auf Besuch geschleppt. »Ich verstehe das nicht«, meinte die widerliche Tante Florentine, »man kann doch nicht sein Leben lang einen Offiziersburschen halten statt einer ordentlichen Hausgehilfin.«

      »Aber Tante, wir müssen doch den Fekete haben«, sagte die kleine Toni, »wegen der Schuhe und – wegen der Treue.«

      Wirklich: wegen der Schuhe und wegen der Treue. Der Rittmeister hatte den Fekete nach dem Krieg von der Front mitgebracht, und der Fekete ist ein Schatz. Er putzt die Schuhe wie kein zweiter, die Schuhe blinken, er serviert stramm und tadellos, wie in der Offiziersmesse, und Tonis Mutter war mit ihm zufrieden. Der Fekete konnte bleiben. Und er blieb. Auch nach dem Umsturz, als der Rittmeister kein Rittmeister mehr war. Denn der Umsturz in der Geschichte der alten Monarchie war ein Umsturz für das ganze Leben des Rittmeisters Huber.

      Die Toni beugt sich noch weiter vor und starrt dem Vater ins Gesicht. Kleine Falten sind um die Augenwinkel eingraviert. Sein Hemd ist schon lang nicht mehr neu, man sieht es am Kragen. Aber das alles macht nichts. Der Friedl ist doch ein schöner, vornehmer Mann. Die Toni kennt Friedls Geschichte ganz genau. Wenig Kinder kennen wirklich die Geschichte ihrer Eltern, aber der Friedl hat mit Toni immer wie mit einer Erwachsenen gesprochen. Nach dem Umsturz ist der Friedl in Pension gegangen, er wollte abwarten, wie sich alles entwickelt. Und er verzichtete sogar großzügig auf seine Pension. Er hatte doch sehr viel Geld, er war aus reicher Familie. Und das Geld war da, in Papieren angelegt. Aber zuerst waren die Papiere nichts mehr wert, Kriegsanleihe, es waren doch so sichere Papiere gewesen, der Staat garantierte für sie. Und dann war der Staat auch nicht mehr, der alte Staat, dem der Friedl gedient hatte, und die Papiere waren nur noch Papier.

      Die Toni erinnert sich genau: Eines Morgens. machte der Fekete ein großes Geschrei, er stürzte. ins Kinderzimmer, zerrte Toni aus ihrem weißen Gitterbett und schleifte sie in Friedls Schlafzimmer. Dort stand der Friedl vor dem großen Spiegel, und der Fekete schrie immerfort »Joj mama«, denn der Herr Rittmeister war zum ersten Mal in Zivil.

      Der Friedl war viele Wochen lang müd und verärgert, er rannte zu allen Freunden und ihren Bekannten, suchte eine Stellung, und mittags sagte er zum kleinen Toni-Kind: »Du, Anton, nur auf Beziehungen kommt es an, man muss Beziehungen haben, merk dir das, Anton!« Die Toni hat es sich gemerkt und der Friedl hatte Beziehungen. Gott sei Dank. Aber weil seine Beziehungen nur klein waren, langte es auch nur zu einer kleinen Stellung in einer Versicherungsanstalt.

      Friedl erzählt immer von