Jan Kossdorff

Horak am Ende der Welt


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Gehen wir ins Hotel.«

      »Ja?«

      »Es ist schon fast fünf. Ich bin ganz geschockt.«

      »Wegen dem Haus?«

      »Ja, ganz verloren fühle ich mich grad.«

      »Du hast zu lange gewartet.«

      »Ach ja, danke, dass du es aussprichst.«

      Auf dem Weg fiel mir noch mehr ein: »Alle Frauen trugen Kopftücher. Am Sonntag kamen sie heraus und fegten die Stiegen und Vorgärten mit Reisigbesen. Am Montag wurde eingekauft: Dort vorne, wo der Friseur ist, da war das Geschäft. Alles hatten sie dort, Lebensmittel, Haushaltswaren, Kleider, Spiele, alles. Für uns Kinder war das natürlich ein Anziehungspunkt, wir sind mit den paar Schilling, dir wir uns durchs Z’amm’essen oder Zaunflicken verdient hatten, hin und haben uns Spielkarten oder ein Eis oder eine Micky Maus gekauft.«

      Ich dachte, wie seltsam es war, dass die Vergangenheit ein Ort sein konnte, kein verblassendes Gewesensein oder Erlebthaben weit hinten auf der Zeitachse, sondern eine Straße, Häuser, ein Geruch, alles da, im Hier und Jetzt.

      Wir zogen unsere Koffer knatternd über das Kopfsteinpflaster des Ortskerns, vorbei an dem Wirtshaus, das immer dort gewesen war, vorbei auch an einem Pub, das neu zu sein schien. Das Hotel Heide lag etwas abseits zwischen den Obstgärten, die zu den Häusern im Stadtkern gehörten.

      Ein junger Tscheche namens Marek begrüßte uns, erinnerte mich daran, ich möge bitte eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn im Rathaus sein, und gab uns die Schlüssel.

      In unserem Zimmer ließ ich mich auf das Bett fallen und schloss für einen Moment die Augen. Ich dachte an die Lesung, an die Textstellen, die ich ausgewählt hatte. Ich versuchte, mir den Saal im Rathaus, in dem ich nie gewesen war, vorzustellen und überlegte, ob wohl genug Leute kommen würden – auf den Straßen waren wir kaum jemandem begegnet. Dann drifteten meine Gedanken wieder ab, ich sah meine Kumpel, meine Freundin Marianne und mich, wie wir am Teich hinter dem Ortszentrum saßen und Bier tranken. Marianne, die Bauerstochter, die immer hier lebte, nicht nur im Sommer wie ich. Marianne, mein erster Sex.

      Maja begann über ein Buch zu sprechen, das sie gerade las, nachdem ich es auf der Reise beendet hatte. Sie fand, es war gut geschrieben, aber wieder mal glaubte sie dem Autor nicht, sie glaubte ihm nicht, dass ihm das Thema so ein Anliegen war, dass es eine Herzensangelegenheit für ihn war. In diesem Fall gab ich ihr auch recht, ich kannte den Autor und wusste, dass er das Buch schon vor Jahren geschrieben und nur veröffentlicht hatte, um seine Strafe für Fahren im berauschten Zustand zu begleichen. Während Maja sprach, zog sie sich nackt aus. Sie legte sich neben mich, öffnete meine Hose, berührte mich beiläufig, immer noch über das Buch redend. Irgendwann rutschte sie auf mich, lenkte mich in sie, legte ihren Kopf an meine Schulter und wiegte uns langsam einem Höhepunkt entgegen, bis kurz davor immer noch über Literatur sprechend.

      Später standen wir nebeneinander im Badezimmer und betrachteten uns im Spiegel. Sie, ein dünnes Mädel von siebenundzwanzig Jahren, ich, ein ergrauender Mann von sechsundvierzig. Mein Bart nicht gepflegt, ihre Haare strähnig, wir beide ein Bäuchlein, wir beide müde aussehend nach zehn Tagen Unfug treiben, trinken, unruhig schlafen. Jetzt in diesem Augenblick fühlte ich mich sehr verliebt, ich legte meine Hände um ihre schmalen Hüften und lächelte sie mit feuchten Augen an. Sie kraulte meinen Bart, sagte sanft: »Mach deine Einleitung wie immer. Ich hab sie nur zu oft gehört. Sie ist klasse.«

      Als wir das Zimmer verließen, trug ich einen schwarzen Anzug, Maja einen langen Rock und eine weiße Bluse, das schickste Ensemble, das wir im Koffer hatten. Ich war nervös, und meine Unruhe färbte auf Maja ab.

      »Was ist denn?«, fragte sie mich am Treppenabsatz.

      »Ich weiß nicht, wer dort heute hinkommt. Oder ob überhaupt jemand kommt. Und ich passe hier lesend gar nicht her. Ich sollte am Bach sitzen und Papierschiffchen losschicken, nicht auf der Bühne im Rathaus sitzen.«

      »Lassen wir das mal einfach auf uns zukommen, gut? Trinken wir noch einen Schnaps in dem Pub.«

      Als wir hinuntergingen und dann auf die Straße hinaustraten, dachte ich, vielleicht geht es gar nicht um die Lesung, vielleicht geht es nur darum, dass unsere kleine Reise nun zu Ende war und wir beschließen wollten, wie es mit uns weitergehen solle, und ich Angst hatte, wie das ausginge.

      Wir tranken also einen Schnaps, einen klaren, brennenden Obstschnaps, dann machten wir uns Hand in Hand auf den Weg zum Rathaus. Wir waren zu spät, es war schon nach halb sieben, und als wir aus einer kleinen Gasse auf den Rathausplatz traten, sahen wir uns dreißig, vierzig Menschen gegenüber, die vor dem Eingang zum Rathaussaal standen, sich unterhielten, rauchten. Mein Blick streifte die Gesichter der Wartenden und blieb schließlich an zweien hängen, die mir vertraut waren.

      Ich drehte mich um und schob Maja einen Meter zurück in die kleine Gasse.

      »Meine Ex-Frau ist hier.«

      »Was

      »Meine Ex-Frau ist hier. Und mein Sohn.«

      »Aha. Und wieso?«

      »Ich habe keine Ahnung! Sie haben mir nichts gesagt. Ich wusste nicht mal, dass sie wissen, dass ich hier lese!«

      »Wohnen sie denn hier?«

      »Nein, sie leben in der Nähe von Linz. Ich weiß nicht, wieso sie da sind.«

      »Ist das ein Problem? Ihr versteht euch doch?«

      »Ja, tun wir.«

      »Na, dann …«

      »Lass mich noch kurz überlegen …«

      »Was denn?«

      »Einen Moment!«

      »Ist es wegen mir?«

      »Wie?«

      »Willst du nicht, dass sie uns zusammen sehen?«

      »Ich … nein … nein!«

      Ich stotterte, wusste gar nicht, was ich empfand. »Natürlich können sie uns zusammen sehen«, sagte ich, »komm, wir gehen zu ihnen!«

      Ich riss Maja an der Hand mit mir und zog sie einige Schritte über den Platz, bis wir vor meiner Ex-Frau und meinem Sohn standen. »Franzi, David, was macht ihr hier?«, rief ich, vielleicht etwas zu enthusiastisch.

      Ich umarmte meine Ex-Frau Franziska, dann meinen Sohn; sie sahen an mir vorbei zu Maja, die lächelnd der Umklammerung meiner Hand zu entkommen versuchte.

      »Du hast ja neulich am Telefon erzählt, dass du hier lesen würdest, und für uns ist es ja nicht so weit«, sagte Franziska ruhig, ihr Blick zwischen mir und meiner Begleitung pendelnd. Jetzt erinnerte ich mich, wir hatten telefoniert, ich war nicht ganz nüchtern gewesen.

      »Das ist Maja«, sagte ich beiläufig.

      Franziska und Maja gaben sich die Hände. Mein Sohn äußerte, es seien ja voll viel Leute da, und ich überlegte, ob es ein geeigneter Augenblick war, die Verwendung von voll als Gradpartikel in Frage zu stellen.

      Franziska zog einen Mann am Ärmel zu uns. »Das ist Simon«, sagte sie, »Simon – Jakob.«

      Simons Bart war grauer und voller als meiner, er war stämmiger als ich, sein Lächeln zeigte große, beeindruckende Zähne.

      »Ich bin schon gespannt, ich hab dein letztes Buch gern gelesen«, sagte er. Wenn das Franziskas neuer Lebensgefährte war, hatte er die richtigen ersten Worte gefunden.

      Von der anderen Seite tauchte eine Dame auf, nahm mich am Arm und zog mich sanft-beharrlich von meiner Gruppe weg.

      »Ich bin die Leiterin der Bücherei, ich organisiere das heute hier. Herzlich willkommen, Herr Horak!«

      Ich begrüßte sie und bedankte mich für ihre Mühe. Sie war in meinem Alter, ihre Haare kurz und rot gefärbt, ihre Brille farblich auf die Frisur abgestimmt, oder anders herum.

      »Es wird sehr voll