Jan Kossdorff

Horak am Ende der Welt


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zu voll als …«, setzte ich an, aber sie unterbrach mich sogleich: »In der Stadt tagt derzeit das Komitee für die Feierlichkeiten zum dreißigsten Jahrestag des Falls des Eisernen Vorhangs zwischen Österreich und Tschechien. Alle Damen und Herren der Arbeitsgruppe werden geschlossen Ihrer Lesung beiwohnen.«

      »Das ist …«, ich suchte nach dem richtigen Wort, »… einschüchternd.«

      »Ich habe für die Herrschaften Plätze in der ersten und zweiten Reihe reserviert, der Akustik wegen, einige sind schon etwas älter. Des Weiteren erwarten wir den Bürgermeister mit Familie und die Literaturbeauftragte des Landeskulturbüros. Ich habe außerdem gesehen, dass die Moruttis hier sind, Sie kennen das Schloss vielleicht?«

      »Sie meinen das Schloss in Feinitz, da wohnt jemand?«

      »Die Familie ist wieder eingezogen. Sie sind sehr … leutselig.«

      Eine schöne Sprache hatte die Bibliothekarin, fiel mir jetzt auf, nur leicht in den Dialekt getaucht, nicht hineingeplumpst und ganz darin ersoffen.

      »Wollen wir uns den Saal ansehen? Vielleicht möchten Sie noch das Mikrofon und die Leselampe für sich einstellen?«

      Sie führte mich in den Rathaussaal, ein langer, weiß getünchter Raum mit Steinboden, frei gelegten Holzbalken und modernem Lichtdesign. Ein Heer schwarzer Sessel vermittelte mir die Erwartungen und die Ernsthaftigkeit, mit denen man an diesem Ort meiner Lesung entgegensah. Auf einem Büchertisch rechts vom Eingang des Saals waren alle meine Romane aufgereiht, sogar mein dritter, der bei einem kleinen Schweizer Verlag erschienen war, nachdem ihn ein paar Dutzend größere Häuser abgelehnt hatten.

      »Wir freuen uns alle sehr auf Ihre Lesung«, sagte die Bibliothekarin, bevor sie mich auf die Bühne bat.

      Ich dachte: Seid ihr eigentlich noch bei Trost? Mein neuer Roman geht schleppend, schon der vorige lief nicht besonders, ich habe mein Publikum, das ich mit meinen frühen Romanen gewonnen habe, verspielt, ich war nie ein Fall für Stipendien und Preise, ich habe einen Allerweltsnamen, den sich niemand merkt, und ich nehme nicht am öffentlichen Diskurs in den sozialen Medien teil. Mein Agent ist ein Nebenerwerbsbauer im Burgenland, der mich innerlich längst aufgegeben hat, mein Verlag betrachtet mich als eine Art Altlast, und die Filmrechte für meinen Erstling werden jedes Jahr neu vergeben, ohne dass es je zu einer Verfilmung käme. Und jetzt lasst ihr mich hier vor einem Komitee von tschechischen und österreichischen Denkern aus Wissenschaft und Politik, vor dem Bürgermeister, der Kulturreferentin und dem Grafen aus dem Märchenschloss auftreten, als wäre ich die logische Wahl für den nächsten Nobelpreis!

      Auf der Bühne richtete ich das Mikrofon ein, verrückte die Leselampe um einen Zentimeter, dann sagte ich: »Alles perfekt. Nein, wirklich, perfekt. Nur eine Frage …«

      »Ja?«, sagte die Bibliothekarin freundlich.

      »Haben Sie mein Buch gelesen? Also das aktuelle?«

      »Natürlich!«

      »Hat es Ihnen gefallen?«

      »Ja, doch. Es ist ganz anders als Ihre ersten Bücher, aber das scheint ja jetzt Ihr Markenzeichen zu sein. Jeder Roman ganz anders als der davor.«

      »Wissen Sie, das geschieht nicht mit Absicht, ein Thema fliegt einem einfach irgendwie zu, und dann macht man sich an die Arbeit, erst später blickt man auf die Gesamtheit der Bücher, das Werk, haha, und sucht einen Zusammenhang, der aber vielleicht gar nicht vorhanden ist.«

      »Aber sicher ist er das. Es sind ja alles Ihre Geschichten. Ihre Worte.«

      »Ja, schon möglich … Aber glauben Sie, dass mein letztes Buch wirklich gut hier aufgehoben ist? Denken Sie, es wird den Leuten gefallen?«

      »Aber dies ist doch der letzte Termin Ihrer Lesetour, Sie müssen doch viele Eindrücke gesammelt haben, viele Reaktionen bekommen haben.«

      »Wissen Sie, jeder Ort ist anders, und heute kommen mir die Erwartungen so, wie soll ich sagen, hochgeschraubt vor, ich weiß nicht, ob ich dem entsprechen kann.«

      »Sie müssen doch nur vorlesen, Herr Horak. Lesen Sie, die Arbeit haben Sie doch längst gemacht.«

      Sie lachte, aber leichter fühlte ich mich nicht.

      Die Bibliothekarin brachte mich in einen Raum hinter der Bühne, wo sich eine Couch und ein Tisch mit Wasser und Wein befanden, außerdem, aus welchem Grunde auch immer, ein Buch mit Garfield-Cartoons. Sie ließ mich alleine, meinte, sie werde mich in zehn Minuten auf die Bühne bitten, und deutete im Gehen auf die Toilette. Ich dachte, danke, vielleicht würde ich mich wirklich übergeben müssen.

      Ich trank ein Glas Wein in einem Zug.

      Dann überlegte ich: Wie seltsam, ich kann gar nicht mehr zu Maja, Franziska und David zurückgehen, diese Frau hat mich einfach entführt und dann hier geparkt, und jetzt warte ich auf meinen Auftritt wie ein Gladiator oder ein Kandidat bei Sing my Song.

      Ich hörte, wie sich draußen der Saal füllte. Sessel wurden gerückt, Menschen unterhielten sich, ein Ruf: »Wir sitzen hier, Claudia, ich hab reserviert!«

      Ich dachte daran, was sie wohl miteinander flüsterten: »Muss man den kennen? Hat der das mit dem senilen Vater geschrieben? Ich lese ja lieber Krimis.«

      Plötzlich überkam mich ein Gefühl von Panik, ich könnte vielleicht das Leseexemplar meines Buchs vergessen haben, und begann in meiner Tasche zu kramen. Nein, da war es. Darin auch der Zettel mit den Stichwörtern zu meiner Einleitung. Sollte ich sie nun bringen? Warum hatte sich Maja nicht festgelegt? Wie konnte ich auf diese Weise vernünftige Entscheidungen treffen?

      Ich griff nach dem Garfield-Buch. Ich las eine Bildgeschichte und verstand sie nicht. War das möglich? Ich verstand Garfield nicht. Wie sollte ich vor dem Komitee lesen, wenn ich nicht mal Garfield begriff.

      Ich trank noch ein Glas Wein.

      Ich überlegte, wer wohl noch im Publikum saß. Vielleicht war Marianne da. Marianne, meine »Landliebe«, wie der Pudding.

      Was wohl aus ihr geworden war? Sie war hübsch damals und viel cooler als ich. Das erste Mal mit ihr zu schlafen waren die aufregendsten fünf Sekunden meines Lebens. Für die Präservative war ich fünfundzwanzig Kilometer mit dem Fahrrad zur Esso-Tankstelle nach Waidhofen gefahren. Auf dem Rückweg trug ich bereits eines, um mich an das Gefühl zu gewöhnen. Nach dem Sommer, wieder in Wien, schrieb ich ihr Briefe. Ich bettelte um ein Foto, je nackter, desto besser, stattdessen schickte sie mir ein Bild von Resi: »Das Kalb ist da!«

      Draußen wurde es langsam ruhiger, die Leute hatten ihre Plätze gefunden.

      Wieder dachte ich daran, wer aller im Publikum saß, und in Gedanken ging ich fiebrig den Text durch und überlegte, welche Stellen für wen unangenehm sein könnten. Ich erkannte, dass die Lesung für fast jede Gruppe – Frauen, Alte, Katholiken – Anstößiges bereithielt und ich etwas völlig anderes lesen musste, vielleicht etwas aus meinem dritten Roman, der so abgehoben war, dass sich niemand darin wiedererkennen und angegriffen fühlen konnte. Ich würde einen Ausweg aus diesem Raum finden müssen, außen ums Rathaus herumlaufen und heimlich vom Büchertisch ein Exemplar nehmen …

      Draußen die Stimme der Bibliothekarin, dann Applaus. Karin, dachte ich mir, in Bibliothekarin steckte der Name »Karin«. Hieß sie so? Wie absurd das wäre …

      Die Tür öffnete sich ein Stück, ein junger Mann steckte seinen Kopf herein und sagte: »Herr Horak, Ihr Auftritt.«

      Gut, Jakob, sagte ich im Geiste zu mir selbst, du hast es hunderte Male gemacht, es ist einfach wie Geometrie, erste Klasse, also los.

      Ich kippte das halb volle Glas Wein hinunter, griff nach meinem Buch, kontrollierte mein Hosentürl, rückte meine Brille zurecht und ging durch das Rechteck in der Wand auf das Rechteck im Saal hinaus, setzte mich unter Applaus an das Rechteck mit Beinen und legte das Rechteck, aus dem ich lesen würde, vor mich hin.

      2

      Eine Lesung ist nur in der Planung ein lineares,