Burkhard Wetekam

Greifswalder Gespenster


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dichten, dunkelgrünen Horsten und den geradlinig aufstrebenden Halmen.

      »Na, was ist?«

      Der Kerl, der ihn bislang zu Boden gedrückt hatte, setzte nun einen kantigen Schuh auf seinen Nacken. Warum er das tat, wurde Sekunden später klar: Der Typ packte seinen linken Arm und drehte ihn schwungvoll nach oben. Zum ersten Mal machte ihm der Schmerz ernsthaft zu schaffen.

      »Gut, dann eben anders. Wenn du bei Drei nicht gesagt hast, was ich hören will, breche ich dir einen Finger.«

      Er versuchte ruhig zu atmen. Finger brechen! Waren die denn verrückt? Und so dämlich, bleibende Schäden zu hinterlassen? Um sich selbst zu beruhigen, begann er, die lateinischen Namen der ihm bekannten Binsenarten lautlos aufzuzählen: Juncus effusus, Juncus maritimus, Juncus subnodulosus, die aus Nordamerika eingewanderte und schon lange heimische Zarte Binse, Juncus tenuis, und nicht zu vergessen Juncus gerardii, die Bodden-Binse, die gern auf salzhaltigen Böden siedelt.

      »Also: Du gehst jetzt nach Hause und unterschreibst das Papier, das in deinem Briefkasten liegt.«

      »Arschloch. Sag deinem Chef, dass es so nicht läuft.«

      Es war eindeutig nicht der richtige Moment, um über angemessene Formen von Kommunikation zu diskutieren. Seine Wange wurde noch fester in den lehmigen Boden gepresst. Er versuchte aus den Augenwinkeln etwas von dem Idioten zu erkennen, der ihn malträtierte. Aber er sah nur einen schwarzen Lederstiefel und ein Stück von einem Bein, das in einer Jeanshose steckte. Zwischen den Büschen hing die Morgendämmerung. Er liebte diese Zeit, gerade im Herbst. Fast jeden Tag drehte er hier eine Laufrunde.

      »EINS!«

      Der Mann gab seiner Stimme einen betont scharfen Klang. Aber war da nicht auch etwas Schwankendes? Die würden es nicht tun. Die blufften.

      »ZWEI!«

      Eine Hand packte seinen linken, kleinen Finger. Er musste schlucken. Jetzt war sie da. Die Angst. Er hatte es nicht wahrhaben wollen, aber jetzt hatte er Angst. Trotzdem sagte er nichts. Einfach nichts sagen. Nicht nachgeben. Sich nicht wegducken. Atmen und schweigen. Schweigen und atmen. Wenn er jetzt anfing, seine Grundsätze aufzugeben – wofür hatte er dann acht Jahre lang standgehalten?

      »DREI!«

      Das Knacken in seinem Finger war unverschämt laut. Und der Schmerz leuchtete greller als alles, was er bis dahin hatte leuchten sehen. Dieser Schmerz konnte einen Menschen in den Wahnsinn treiben. Vielleicht empfand er den Schmerz deshalb als so unverschämt durchdringend, weil er sich angebahnt hatte. Es fehlte das Überraschungsmoment, das seinen Körper veranlasst hätte, eine größere Menge betäubendes Adrenalin auszuschütten. Der Schmerz raste seinen Arm hinauf und setzte seinen ganzen Körper unter Strom. Er wand sich jammernd auf dem feuchten Boden und rollte in eine Pfütze. Sein Magen rebellierte, er spuckte eine Portion Karottensaft ins schlammige Wasser, wo die orangefarbene Flüssigkeit ein florales, an den Jugendstil erinnerndes Muster ausbildete. Er krümmte sich zusammen und lag da wie ein Embryo, die kalte Nässe kroch wie ein Vorbote des Todes unter seine Jacke und sog sich in seine Jogginghose.

      Als er wieder etwas klarer denken konnte, war der Maskenmann verschwunden. Er traute sich nicht, nach seinem entstellten Finger zu sehen, dem er zwischen den Oberschenkeln ein weiches Lager bereitet hatte. Stattdessen fiel sein Blick auf ein kleines, aber gut ausgebildetes Exemplar der Knäuel-Binse, Juncus conglomeratus. Die Schmerzstöße schüttelten den Namen spielend leicht aus seinem Gedächtnis. Auf dem Brachland war es also tatsächlich feucht genug für diese Art Binsen – eine überraschende und schöne Erkenntnis an einem sonst fürchterlichen Morgen.

       1

      Tanja Grundler war pünktlich und sie stand genau dort, wo sie sich verabredet hatten: an der Spitze der Mole, auf einer kleinen Aussichtsplattform. Sie trug eine weinrote Daunenjacke und blickte hinaus auf die Dänische Wiek, besser gesagt: in einen weiten Raum undurchdringlicher Grautöne. Als sie Toms Schritte hörte, wandte sie sich um.

      Sie mochte um die vierzig Jahre alt sein, ihre Gesichtshaut war hell und auffallend glatt, unter dem Saum der Kapuze lugten braun gelockte Haare hervor.

      »Ich mag diesen Nebel«, sagte sie.

      »Ich hasse ihn.«

      Er wollte nicht ganz so schroff wirken und schob noch eine Erklärung hinterher. »Mir wäre da draußen beinahe ein Angler vor den Bug gefahren.«

      Sie hatte ihre Hände tief in den Taschen ihrer Jacke versenkt. So tief, dass Tom darauf verzichtete, sie mit einem Handschlag zu begrüßen. Er beschränkte sich auf ein Nicken.

      »Ich habe beobachtet, wie Sie in den Hafen reingefahren sind. Das war fantastisch.«

      »Wieso fantastisch?«

      »Kennen Sie Rain, Speed and Steam – das Gemälde?«

      Tom schüttelte den Kopf.

      »Kennen Sie William Turner?«

      Er zuckte mit den Schultern.

      »Dann haben Sie etwas verpasst. Niemand malt Dunst und Nebel so wie Turner. Auf Rain, Speed and Steam sieht man einen Zug mit Dampflok, genauer gesagt, man ahnt, dass es diesen Zug gibt, so sehr verschwimmt er mit den aufgewirbelten Elementen. Und obwohl man diesen Zug kaum erkennt, hat man das Gefühl, dass er mit einer großen Geschwindigkeit durch diese Dunstwolken rast – das ist einfach fantastisch. Und daran musste ich gerade denken. Ihr Boot war allerdings etwas langsamer.« Sie lächelte mitleidig. »Sie interessieren sich nicht für Kunst, oder?«

      »Nicht wirklich. Meine Freundin ist zwar Künstlerin, aber …«

      »Ach ja? Ist sie hier?«

      »Nein, sie ist in Philadelphia, da hat sie ein Stipendium bekommen und …« Er brach ab. Nie im Leben hatte er vorgehabt, mit einer ihm völlig unbekannten Frau über Clara und ihre etwas überraschende Reise in die Vereinigten Staaten zu plaudern. Es war ein merkwürdiger Anfang. »Lassen Sie uns über Ihr Anliegen sprechen«, sagte er und fragte sich, warum sie sich überhaupt mit ihm verabredet hatte. Wollte sie ihn testen?

      »Ist das Ihr eigenes Boot?«

      Er nickte.

      »Und während Sie hier sind, wohnen Sie darauf?«

      Wieder nickte er.

      »Toll. Das ist … irgendwie romantisch, oder?«

      Tom hatte inzwischen den dringenden Wunsch, zur Sache zu kommen. Ihm war kalt, in seinem Gesicht hingen Wassertropfen, die lange Fahrt ohne Sicht hatte ihn angestrengt. »Wenn man es schafft, nicht an die Unterhaltskosten zu denken, ist das eine schöne Sache. Die MATHILDA ist nicht mehr die jüngste. Ich werde in den nächsten Tagen einige Reparaturen durchführen lassen, hinten in Greifswald.«

      Die Frau in der weinroten Jacke lächelte. »Na, da schlagen Sie ja zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, weil ich dachte, dass Sie extra meinetwegen …«

      »Um ganz ehrlich zu sein: Wenn ich diesen Aufenthalt hier nicht sowieso geplant hätte, dann wäre ich gar nicht nach Greifswald gekommen.«

      Seine Offenherzigkeit enttäuschte sie, das spürte er. Aber so war es nun mal: Die dürftigen Informationen, die sie am Telefon herausgerückt hatte, deuteten darauf hin, dass er vermutlich nicht helfen konnte.

      »Also«, begann sie, »ich denke …«

      Abermals unterbrach Tom sie. »Wäre es wohl möglich, dass wir das Gespräch woanders als auf dieser nasskalten Mole führen? Drüben auf der anderen Seite des Hafens ist mindestens ein Restaurant geöffnet.«

      Sie schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Entschuldigung. Aber ich möchte hier nicht zu vielen Menschen begegnen. Ich habe meine Gründe.«

      Tom schluckte seinen Ärger herunter. Er war nun entschlossen, die Sache möglichst zügig zu beenden. Tanja Grundler schien das zu spüren. Sie wurde plötzlich nervös. Mit einer