Burkhard Wetekam

Greifswalder Gespenster


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Die Kollegen …«

      »Schieb es nicht auf die Kollegen«, unterbrach Sylke ihn. »Wenn du Dienstgruppenleiter werden willst, dann du bist dafür verantwortlich, dass jede und jeder sich mitteilt. Und dass alle die Zusammenhänge kennen. Ich hatte heute zeitweise das Gefühl, dass fünf Tage Schulung komplett an euch vorbeigegangen sind.«

      Philipp verzog den Mund, bevor er grimmig in seinen Apfel biss. Es war Sylke nicht klar, ob er damit seine Verachtung für die Workshopleiterin oder Selbstkritik ausdrücken wollte. War sie zu streng? Überspielte sie mit ihrer Härte ihre eigene Ratlosigkeit? Während sie noch grübelte und Philipp versuchte, seinen halblangen Wollmantel überzuziehen, ohne ihn mit dem angebissenen Apfel zu berühren, öffnete sich die Tür. Eine uniformierte Kollegin steckte ihren Lockenkopf in den Seminarraum. »Entschuldigung, da ist gerade ein Anruf aus Wolgast gekommen. Die wollen wissen, ob das Team hier schon einsatzbereit ist.« Sie blickte zwischen Philipp und Sylke hin und her, wartete aber keine Antwort ab. »Da draußen wurde irgendwo eine Leiche gefunden.«

      Obwohl er sich mit seinem Mantel regelrecht gefesselt hatte, schaffte es Philipp, sich an der Schläfe zu kratzen. »Damit erwischen die uns jetzt gerade auf dem ganz falschen Fuß. Ich würde sagen …«

      »Das Team ist bereit und übernimmt die Sache«, sagte Sylke trocken. »Legen Sie alle Anrufe auf die bekannte Nummer um und leiten Sie alle Infos unverzüglich weiter.«

      Die Sachbearbeiterin nickte und zog sich zurück. Philipp drehte sich verwirrt zu Sylke um. »Es ist doch noch gar nichts organisiert.«

      »Dann tust du das jetzt. Das ist deine Chance. Ein perfekter Einstieg.«

      Er schluckte und sah sie mit einem Kleine-Jungen-Blick an. »Und was machst du?«

      »Meine Zeit hier ist zu Ende.« Sie kostete die lange Pause aus, die sie ihren Worten folgen ließ. »Aber wenn du willst, fahre ich noch mit raus zum Fundort der Leiche und unterstütze euch.«

       4

      Eine Gruppe Spaziergänger, drei Jugendliche mit Fahrrädern, eine Mutter und zwei Kinder im Grundschulalter – sie alle standen am hoheitlichen Flatterband und starrten einen Hang hinunter auf die von Bäumen bestandene Niederung. Zwischen den Büschen hindurch waren im Dämmerlicht des beginnenden Abends die Umrisse eines Körpers zu erkennen, ein korpulenter Mann im durchnässten Mantel, auf dem Bauch liegend. Einen halben Meter neben dem Toten plätscherte der Bach, als wäre nichts geschehen. Oder als wäre das, was geschehen war, im Lauf der Dinge nicht von Bedeutung.

      »Seid ihr denn bescheuert!?«, rief Sylke den beiden Beamten zu, die zuerst am Fundort angekommen waren und sich um die Absperrung gekümmert hatten. »Sollen die Kinder wirklich direkt auf den Toten starren?«

      Die beiden Uniformierten beeilten sich, die Schaulustigen wegzuscheuchen, und versetzten die Absperrung zwanzig Meter hangaufwärts. Sylke wusste, dass ihr Auftreten mitunter als barsch empfunden wurde, aber sie hatte kein Problem damit. Es war ihr wichtig, gleich im ersten Moment zu zeigen, dass sie von allen die volle Leistung erwartete. Philipp und Lisa, die beiden jungen Kriminalbeamten, sahen sich schuldbewusst an. Die Sache mit der Absperrung hätte ihnen ja auch auffallen können. Gemeinsam stiegen die beiden die feuchte Wiese hinab und beugten sich für eine erste Sichtung über den Toten. Lisa deutete auf eine Stelle am Hinterkopf, während Philipp vorsichtig den Mantelkragen anhob, um das Gesicht erkennen zu können.

      Mit Unbehagen sah Sylke den beiden von etwas weiter oberhalb zu. Sie wusste nicht, warum sie plötzlich in einer miserablen Stimmung war. Der erste kleine Fehler – und schon traute sie den beiden nicht zu, diesen Fall zu lösen. Oder war sie nur enttäuscht, dass sie selbst morgen wieder abreisen würde, um ihren Dienst in Stralsund aufzunehmen?

      Vom nächsten Dorf näherte sich ein betagtes Feuerwehrauto. Es wurde höchste Zeit, sie brauchten Licht, bevor es ganz dunkel wurde. Wenigstens das klappte.

      Sie atmete tief ein. Die Luft war klar und frisch, gar nicht so nebelschwer wie in Greifswald. Als sie gerade den Hang hinabsteigen wollte, um sich ebenfalls ein Bild von der Situation zu machen, bemerkte sie etwas weiter bachaufwärts eine Bewegung. Sie suchte nach einem Durchlass im dichten Gebüsch, rutschte dabei aus und glitt auf dem Hosenboden zwei Meter abwärts. Fluchend schlug sie sich durch einen widerspenstigen Strauch und stand vor einem Mann, der sich an einem Stapel aus Ästen zu schaffen machte.

      »Hey, was machen Sie denn hier!?«

      Der Mann drehte sich um. Er war etwa fünfzig Jahre alt, untersetzt und steckte in einem olivgrünen Parka, der schon bessere Tage gesehen hatte. Er hatte ein rundliches Gesicht mit hängenden Wangen und kleinen, munteren Augen. An seiner Stirn klebten Strähnen seines dünnen Haars. Besonders intelligent sah er nicht aus.

      »Ich repariere den Damm.«

      »Hier ist möglicherweise ein Verbrechen passiert. Sie werden hier auf der Stelle verschwinden!«

      Wieder dieser grobe Tonfall. Dieses Riesenbaby machte sie wirklich sprachlos. Hatte der denn gar nichts mitbekommen?

      »Ich bin hier Naturschutzwart. Es ist mein Recht, den Biberdamm zu reparieren.«

      »Sie haben im Augenblick überhaupt kein Recht. Zu gar nichts.«

      Der Dicke sah sie erstaunt an. »Verdächtigen Sie etwa die Biber?«

      Sylke war nicht klar, ob der Mann begriffsstutzig war oder über einen besonders merkwürdigen Humor verfügte. »Im Augenblick verdächtigen wir jeden. Absolut jeden. Von mir aus auch die Biber.« Der Dicke schien eine Spur blasser geworden zu sein. Er zog sich von dem Aststapel zurück. Sylke bemerkte jetzt, dass sich der Stapel tatsächlich fortsetzte und quer über den gesamten Bachlauf erstreckte. Es war ein nach allen Regeln der Kunst errichteter Damm: getragen von einem Gerüst aus Hölzern, das mit Lehm abgedichtet worden war. Solide Ingenieurskunst, ausgeführt von scheinbar tollpatschigen Nagetieren, die vermutlich nicht einmal ein halbes Semester Statik studiert hatten. Etwa zwei Meter vom Ufer entfernt hatte jemand eine Kerbe in den Staudamm geschlagen.

      Einer beiden Streifenpolizisten brach geräuschvoll durchs Unterholz. Er hatte wohl von oben die lautstarke Diskussion mitbekommen.

      »Das ist … äh … Herr Pölzner, unten aus dem Dorf. Er hat die Leiche gefunden.«

      Sylke sah den Kollegen entgeistert an. Wieso hatte der nicht gleich bei ihrem Eintreffen … Ihre Missstimmung bekam neue Nahrung. »Das wird jetzt aber höchste Zeit, dass Sie das mal erwähnen!« Sie wandte sich Pölzner zu. »Kommen Sie doch bitte mal mit mir an die Seite.«

      Der Dicke trennte sich nur ungern vom beschädigten Biberdamm. Gerade, als sie den Abhang hinaufstiegen, knallte ihnen gleißendes Licht in die Augen. Zwei Strahler auf Teleskopstangen verwandelten die gesamte Szenerie in eine Bühne, auf der ein Dutzend Personen ihre Rolle spielte, scheinbar routiniert, auf jeden Fall gefasst und mit Konzentration. Auch die Matschflecken auf Sylkes Hose waren nun gut zu erkennen. Ein Dornenzweig hatte zudem einen Riss am Oberschenkel erzeugt. Sie versuchte, ihren Ärger abzuschütteln, aber sie hatte das Gefühl, dass es nicht mehr lange gut gehen würde.

      Oberhalb der Fundstelle trafen sie auf Philipp. Sylke erklärte ihm kurz, wer Pölzner war. Sie kaperten einen gerade eintreffenden Polizeibus für eine erste Befragung. Sylke wies Pölzner an einzusteigen und schloss die Tür, sodass der Zeuge nicht hören konnte, was sie mit Philipp draußen besprach. »Wie sieht es bei der Leiche aus?«

      Philipp wirkte angespannt. »Massive Gewalteinwirkung am Hinterkopf. Stumpfer Gegenstand. Ob das tödlich war, weiß ich nicht, aber er hat auch Schlammspritzer im Gesicht. Vielleicht gab es einen Kampf. Auf jeden Fall müssen wir von einem Tötungsdelikt ausgehen. Wir sollten einen Fußabdruck vom Zeugen nehmen, um zu sehen, welche Fußspuren außer seinen noch zu finden sind.«

      »Gut«, sagte Sylke zum Erstaunen des jungen Kollegen. Dann schob sie ihn in den Polizeibus und nahm neben ihm Platz. Pölzner beobachtete mit zusammengepressten Lippen, wie Philipp Schreibblock und Aufnahmegerät zurechtlegte. Er arbeitete den üblichen Fragenkatalog ab. Pölzner hatte die Leiche