Burkhard Wetekam

Greifswalder Gespenster


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Er musste sich zusammenreißen. »So eine Richtungsänderung hat sicher ihren Preis, oder?«

      Sie schien für einen Moment in sich hineinzuhorchen. »Es war ein tiefgreifender Bruch, ganz bestimmt. Das Verhältnis zu seiner Ex-Frau ist schwierig. Er hat auch eine neunzehnjährige Tochter, die sich anfangs komplett von ihm abgewandt hat. Inzwischen geht es wohl etwas besser. Aber entscheidend für Malte sind die Kontinuitäten: Er hat schon immer für die Natur gelebt – das kann er jetzt kompromissloser und ehrlicher. Er zeigt Menschen, wie lebendig die Welt abseits der Straßen ist, wie wunderbar alles zusammenwirkt. Und wie bedroht das ist, was scheinbar selbstverständlich neben uns her existiert. Das mag ich so an ihm: Diese Konsequenz und wie er ganz in seiner Leidenschaft für Pflanzen und Tiere aufgeht. So haben wir uns auch kennengelernt, bei einer Exkursion in seinem früheren Biberrevier. Ich war so hingerissen von der Art, wie er alles erklären kann. Er hat ein ganz eigenes, manchmal inniges, manchmal auch kumpelhaftes Verhältnis zu dem, was da fleucht und kreucht. Das klingt jetzt komisch, aber er ist mit der Natur tief im Innern verbunden, und das kann er so vermitteln, dass du das Gefühl hast …«

      Sie hielt plötzlich inne und sah Tom peinlich berührt an. »Jetzt habe ich angefangen zu schwärmen. Und ich habe ‚du’ gesagt. Das ist ja hier alles sehr persönlich. Sollen wir beim Du bleiben? Ich mache mir wirklich große Sorgen um ihn.«

      Tom musste lächeln. Eigentlich war es ihm wichtig, zu seinen Auftraggebern eine gewisse Distanz zu bewahren. Aber in diesem Augenblick empfand er für die Frau, die sich in einem Strudel der Gefühle drehte, zum ersten Mal Sympathie. »Gut, bleiben wir beim Du«, sagte er etwas onkelhaft. »Aber du solltest mir jetzt erzählen, warum du dir Sorgen machst. Habe ich das vorhin richtig gehört: Du glaubst, Malte sei in Gefahr?«

      Tanja stellte ihre Tasse, die sie gerade erst zum Mund führen wollte, mit ernster Miene wieder ab.

      »Nicht ohne Grund. Malte besitzt ein Stück Land, das er von einer Tante geerbt hat. Es liegt in einem Gebiet, das die Friedländer Große Wiese genannt wird, eine trockengelegte Moorlandschaft, von vielen Gräben durchzogen. Man kann dort nur in Maßen Landwirtschaft betreiben, die Bauern mähen das Gras, um es ans Vieh zu verfüttern oder für die Erzeugung von Biogas. Eigentlich nichts Spektakuläres. Nun soll aber auf der Friedländer Großen Wiese ein Windpark gebaut werden. Die Pläne existieren seit Jahren. Malte weigert sich, sein Land zu verkaufen oder zu verpachten. Er hat Bedenken, weil durch die Windräder Vögel und Fledermäuse getötet würden. Und von beiden gibt es da recht viele.«

      »Kann denn ein einzelner Grundstücksbesitzer die Pläne blockieren?«

      Sie nickte. »Maltes Land liegt so zentral im Planungsgebiet, dass der Windpark ohne seine Zustimmung nicht gebaut werden kann.«

      »Seine Weigerung ist also der Grund, warum du dir Sorgen machst?«

      Tanja presste die Handflächen aneinander. »Er hat anonyme Drohanrufe bekommen, sein Auto wurde zerkratzt und ein toter Vogel lag in seinem Briefkasten. Bei dem Projekt geht es um viele Millionen. Die Firma, die den Park geplant hat, steckt da seit Jahren Geld rein. Und die anderen Landbesitzer könnten mit den Pachtzahlungen gut verdienen. Ich weiß nicht, wer hinter diesen Attacken steckt. Es kommen einige in Frage.«

      Instinktiv blickte Tom sich um, aber das nahezu leere Restaurant machte einen zutiefst friedlichen Eindruck. Nur ein Kellner lehnte seitlich an der Theke und blätterte in einem Notizblock.

      »Hast du auch Angst?«, fragte Tom. »Ist das der Grund, warum du niemandem begegnen willst?«

      Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht das Problem. Aber ich bin verheiratet und mein Mann weiß nichts von Malte und mir. Er ist Pastor in Ueckermünde. Das macht die ganze Sache kompliziert. Wenn mich hier zufällig jemand aus unserem wunderschönen, aber auch beengenden Ort sieht, zusammen mit einem unbekannten Mann, dann geht das Gerede los.«

      Allmählich vervollständigte sich das Bild. Nach wie vor hatte Tom große Zweifel, dass er viel erreichen würde. Er stellte Tanja die Frage, vor der sie sich zu fürchten schien. »Ich hätte gern eine ehrliche Einschätzung von dir. Was, denkst du, ist mit Malte passiert?«

      Sie hob die Schultern und zögerte lange mit der Antwort. »Ich … ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie ihn entführt. Eingesperrt, irgendwo in einem Keller. Vielleicht wollen sie ihn zwingen, das Land zu verkaufen. Oder schlimmer noch: Er wurde … ich darf gar nicht dran denken. Das ist es, was mir Angst macht. Wirklich.«

       3

      Sylke Bartel schob ihre Papiere zusammen und blickte den Anwesenden reihum in die Augen. »Vielen Dank, so viel für heute. Ihr wisst, das war unser letzter gemeinsamer Tag. Ich komme morgen Vormittag nochmal vorbei, um mich zu verabschieden. Philipp, kannst du noch einen Moment bleiben?«

      Während die Kolleginnen und Kollegen der Greifswalder Polizei ihre Sachen einpackten, lehnte Sylke am Fensterbrett und nickte denjenigen zu, die den Schulungsraum verließen. Sie trug eine schwarze Stoffhose und eine meerblaue Bluse, hatte dieser eher gedeckten Kombination aber ein cremefarbenes Halstuch mit feinen, blutroten Streifen entgegengesetzt. Erst im Laufe des Tages war ihr aufgefallen, dass diese Farbgebung in einem Workshop, in dem es um die Aufklärung von Gewaltverbrechen ging, einen sonderbaren Eindruck erwecken konnte. Aber die jungen Kollegen schien es in dieser Hinsicht glücklicherweise an Interpretationslust zu fehlen.

      Das Greifswalder Kriminalpolizeikommissariat hatte erst vor wenigen Monaten zusammen mit anderen Dienststellen das neue Polizeihauptgebäude in der Brinkstraße bezogen. Gänge, Wände, Böden – alles wirkte noch glatt und sauber, die modisch grünen Bauelemente erinnerten Sylke an Schulgebäude, die um jeden Preis hipp wirken wollten. Und dazu passte diese neu zusammengewürfelte Truppe aus Nachwuchskräften, die sich durch eine Kombination aus Übermotiviertheit, Naivität und Lässigkeit auszeichnete.

      Sylke war sich in den letzten Tagen oft alt vorgekommen. Dabei war sie selbst auch noch gar nicht so lange bei der Kriminalpolizei. Offenbar waren die leitenden Kräfte der Meinung, dass ihre wechselvolle Karriere sie dafür qualifizierte, einen Haufen junger Leute in ein professionell arbeitendes Team zu verwandeln.

      »Warum läuft es nicht, Philipp? Was denkst du?«

      Der dunkelhaarige Mittdreißiger stand etwas verloren zwischen den u-förmig aufgestellten Tischen. Er war nicht groß, aber von kräftiger Statur, trug einen grauen Rollkragenpullover und einen Backenbart, der wohl seine Abenteuerlust hervorheben sollte. Seine linke Hand hatte er in die Tasche seiner Jeanshose eingehängt, die rechte fuchtelte ziellos in der Luft herum.

      »Wir haben die Abläufe noch nicht verinnerlicht.«

      »Welche Abläufe willst du denn noch verinnerlichen?«

      »Na ja, Tatortuntersuchung, Zeugenbefragung, Gerichtsmedizin, Motivbewertung und dann die zirkuläre Struktur der …«

      »Philipp, das ist doch alles Kinderkram. Die Arbeitsschritte kennt ihr. Wie konnte es trotzdem passieren, dass bei der Entführungslage die Überwachung der Ex-Frau des Verdächtigen vergessen wurde? Und warum habt ihr bei dem toten Obdachlosen im Stadtpark nicht gemerkt, dass es sich um eine Kopie des Falles von vor zwei Jahren handelte? Ich habe diese Übung einfach nur aus den Akten abgeschrieben.«

      Während Sylke auf den jungen Polizisten einredete, hatte dieser nach seinem Mantel gegriffen und einen Apfel aus der Tasche gezogen. Es war Sylke schon mehrfach aufgefallen, dass Philipp in schwierigen Situationen Obst aß. Sie fand das einigermaßen kurios und hatte ihm insgeheim den Decknamen Fruchtzwerg gegeben. Kauend unternahm der Fruchtzwerg jetzt halbherzige Rechtfertigungsversuche. »Wir hätten das besser strukturieren müssen.«

      »Ihr hättet miteinander reden müssen! Kommunikation ist alles.«

      »Aber wir haben doch die täglichen Briefings angesetzt.«

      »Lisa hatte gute Ideen, das hast du gar nicht mitbekommen. Du musst auch auf die hören, die nicht lautstark losquatschen. Ich hätte nicht gedacht, dass das so schwierig ist. Aber das scheinbar Einfache ist in Wirklichkeit wohl oft das Komplizierte.«