Norman Solomon

Judentum. Eine kleine Einführung


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      Norman Solomon

      Das Judentum

      Eine kleine Einführung

      Mit 12 Abbildungen

      Aus dem Englischen übersetzt von Ekkehard Schöller

      Reclam

      Titel der englischen Originalausgabe: Judaism. A Very Short Introduction. Oxford / New York: Oxford University Press, 1996.

      1999, 2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Die Übersetzung erscheint mit Genehmigung der Oxford University Press, Oxford. This translation of Judaism originally published in English in 1996 is published by arrangement with Oxford University Press. © 1996 Norman Solomon

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

      Made in Germany 2022

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961223-2

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014268-4

       www.reclam.de

      Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?

       Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig III,1, V. 63 (Übersetzung: A. W. Schlegel)

      Jüdische Einwanderer in Israel aus verschiedenen Ländern. Auffällig ist die Vielfalt der Gesichtszüge, die eine ganz unterschiedliche ethnische Herkunft zeigen

      (Fotos: Werner Braun, Jerusalem)

      Einleitung

      Die Suche nach den richtigen Wörtern

      Dies ist ein Buch in deutscher Sprache. Wie alle anderen Sprachen, die sich in einer christlichen Kultur entwickelten, ist sie nicht neutral. Sie ist vielmehr mit christlichen Begriffen und Prämissen befrachtet. Und da das Christentum im 1. Jahrhundert nach der Zeitwende aus einem innerjüdischen Konflikt entstand und sich gegen das Judentum abgrenzte, ist es schwierig, die jüdische Religion aus einer christlichen Kultur und Sprache heraus so unbefangen zu betrachten, wie man etwa den Schintoismus oder den Buddhismus betrachten würde. Man denke nur an einige der beleidigenden Untertöne, die in dem schlichten Wort »Jude« lange Zeit mitschwangen.

      Wenn man mit Fragen beginnt: »Was denken die Juden von Jesus?« oder: »Was ist im Judentum wichtiger, der Glaube oder die Werke?«, ist man bereits auf dem Holzweg: Auf diese Weise nähert man sich der jüdischen Religion mit christlichem Gepäck. Es finden sich in diesem Buch auch auf solche Fragen Antworten, doch helfen sie nicht, das Judentum so zu verstehen, wie es sich selbst, von innen heraus, versteht. Für das Judentum steht Jesus nicht im Zentrum, noch setzt es voraus, dass Glauben und Werke einen Gegensatz bilden.

      Beginnen wir daher von vorne und versuchen herauszufinden, was »Judesein« heißt und wie die jüdische Religion von innen aussieht. Es folgt zuerst eine Liste von zentralen Begriffen, die einer Gruppe christlicher Studenten nützlich erschienen, um anderen das »Christsein« zu erläutern:

       Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist

       Glaube

       Auferstehung

       Liebe

       Erlösung

       Geburt Christi

       Taufe

       Abendmahl

       Sündenvergebung

       Gebet

       Kreuzigung

       Hoffnung

       Bekehrung

       Gemeinschaft des Glaubens

       Konfirmation und Kommunion

       »wiedergeboren«

       Himmelfahrt

       Gehorsam

       Rechtfertigung

       ewiges Leben

       Heilige Schrift

       Nachfolge Christi

      Die nächste Liste stammt von einem gläubigen Juden, der einer Gruppe von Christen seinen Glauben erklären wollte:

       Gott (persönliche, historische, vielgestaltige Beziehung)

       Thora (der Weg, die Weisung [Martin Buber], das Lehren, nicht das Gesetz)

       Mizwa (»Gebot« = die praktische Einheit der Thora = gute Tat)

       Awera (Gesetzesübertretung, Sünde)

       Freier Wille

       Teschuwa (Rückkehr, »Umkehr« zu Gott, Buße)

       Tefilla (Gebet)

       Zedaka (»Gerechtigkeit«, »Korrektheit« = Nächstenliebe)

       Chesed (Liebe, Mitleid, Güte)

       Jetzer Ha-Tow (»guter Trieb« – die angeborene psychische Neigung, Gutes zu tun), im Gegensatz zu Jetzer Ha-Ra (der Trieb, Böses zu tun; Ursache wie Heilmittel für die Untreue gegenüber Gott liegen beim einzelnen Menschen)

       Israel (Volk, Land, Bund Gottes)

      Etliche Begriffe (Gott, Thora, Israel) sind deutschsprachigen Christen durchaus vertraut. Doch derjenige, der die Liste zusammenstellte, glaubte offensichtlich, sie seien dennoch erläuterungsbedürftig, weil sie leicht missverstanden werden könnten. Die Mehrzahl sind dagegen rein hebräische Begriffe; ihre Bedeutung im Deutschen zu formulieren ist überaus schwierig, obgleich es sich um alltagssprachliche, also eigentlich »leichte« Wörter handelt.

      Dass alle Begriffe der christlichen Liste, bis auf die christologische Gruppe »Sohn«, »Kreuzigung«, »Himmelfahrt« und »Geburt Christi«, auch in einem jüdischen Gespräch vorkommen könnten, ist nicht weiter überraschend. Doch sie transportieren andere Bedeutungsnuancen und haben ein anderes dogmatisches ›Gewicht‹. Gerade die in beiden Glaubenstraditionen viel benutzten Begriffe »Bund Gottes«, »Erlösung« und »Heilige Schrift« sind es aber, die am meisten Verwirrung stiften. Ihre Bedeutungen decken sich partiell, sind aber nicht identisch. So hat man manchmal den Eindruck, dass die beiden Religionen durch eine gemeinsame Sprache mehr getrennt als vereint sind.

      Man störe sich nicht daran, dass die hebräischen Wörter so klingen, als ließen sie sich nur schwer einprägen oder verstehen. Sie werden in diesem Buch, wenn nötig, immer wieder erklärt. Ihre Bedeutung erlernt man freilich am besten im Kontext: bei der Lektüre dieses oder anderer Bücher oder im Gespräch mit Juden, die sie als ganz selbstverständlich verwenden. Es verhält sich damit genau wie mit dem Erlernen einer anderen Sprache – und es handelt sich ja auch wirklich um das Lernen einer Sprache, nämlich der ›natürlichen‹ Sprache der jüdischen Religion.

      Religionen sind keine abstrakten Gebilde. Ihre Anhänger beteuern oft, Gott habe sie ihnen eingegeben oder sogar die heiligen Texte diktiert und sie seien ewig gültig. Doch die Menschen müssen diese Texte für ihr Leben auslegen und sie anwenden, und die auf den folgenden Seiten entrollte Geschichte handelt davon, wie die Juden mit ihren Texten während der vergangenen zwei Jahrtausende gelebt haben.

      Unsere Geschichte hat vier Darsteller: Gott, die Thora, das Volk Israel und die umgebende Welt. Beziehungen spielen in ihr eine zentrale Rolle: das ›Einzelne‹ (Israel) steht in ständiger Wechselwirkung mit dem ›Allgemeinen‹