Norman Solomon

Judentum. Eine kleine Einführung


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nach Zion«, wieder aufgegriffen.

      Das Paradox des Zionismus – der Begriff wurde erst 1892 geprägt – liegt in seinem doppelten, sowohl religiösen wie säkularen Ursprung. Religiös gesehen war die Rückkehr nach Zion so alt wie Gottes Verheißung an Abraham, dass jenes Land, in dem er wohne, sein Land sei. Diese Verheißung wurde in der Geschichte immer wieder durch religiöse Schriften, Gebete und den frommen Wunsch, im heiligen Land Gottes Gebote zu erfüllen, bekräftigt. Bereits 1782 hatte Elia von Wilna eine »Vision«, die zur Rückkehr nach Zion nebst einem praktischen Programm zur Wiederherstellung Israels aufrief. Und in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts hat der serbische Rabbiner Jehuda Alkalai, zweifellos vom balkanischen Nationalismus beeinflusst, den uralten Traum von der Rückkehr nach Zion in einer Weise neuformuliert, die sich den zeitgenössischen politischen Kategorien näherte.

      Der entscheidende politische Anstoß kam allerdings erst später in diesem Jahrhundert: von säkularen sozialistischen Juden wie Moses Hess und schließlich Theodor Herzl, dem »Vater des modernen Zionismus«. Sie alle lehnten die traditionellen religiösen Glaubensformen ab. Andererseits erkannten sie, dass Aufklärung und Universalismus zwar die jüdische Identität ausgehöhlt, nicht aber den Antisemitismus ausgerottet hatten. Sie teilten mit anderen nationalistischen Philosophen und Politikern des 19. Jahrhunderts das Unbehagen am Universalismus, sahen aber, dass es ohne Preisgabe ihres Judentums unmöglich war, sich zu speziellen europäischen Nationalitäten zu bekennen. Sie lösten dieses Dilemma, indem sie einen spezifisch jüdischen Nationalismus, den Zionismus, kultivierten.

      Um eine bewusst säkulare Formulierung der jüdischen Identität war Ascher Ginzberg, besser bekannt unter seinem hebräischen Pseudonym Echad Ha-Am (»einer vom Volk«), bemüht. Er verstand seinen »Kulturzionismus« als Aufruf zur Rückkehr ins geographische Land Israel, um dort eine neue jüdische Kultur zu schaffen. Sie sollte die Moral der Propheten und das Gleichgewicht von Körper und Geist im Sinne der Pharisäer bewahren, doch von religiösen Dogmen und dem restriktiven rabbinischen Ritual frei sein.

      Die säkularistische Haltung der führenden politischen Zionisten war den religiösen Führern ein Greuel. Viele bekämpften die zionistische Bewegung, gaben sich aber ihren eigenen Träumen von einer Rückkehr nach Israel in den Tagen des Messias hin. Schließlich aber entstanden auch religiös motivierte zionistische Bewegungen, und zumal seit dem Holocaust und der Gründung des jüdischen Staates sind religiöse Juden in Scharen nach Israel emigriert und haben sich dem Aufbau des Landes gewidmet. Indessen sind die alten Konflikte zwischen religiösen und säkularen Juden keineswegs verschwunden, sondern tauchen regelmäßig in den politischen Debatten und bei sozialen Spannungen in Israel wieder auf.

      Wo leben die Juden heute?

      Vor dem Ausbruch des Krieges 1939 lebten etwa zehn Millionen Juden in Europa, fünf Millionen in Amerika (vorwiegend in Nordamerika), 830 000 in Asien (einschließlich Palästina), 600 000 in Afrika und eine Handvoll in Ozeanien – ihre Zahl betrug insgesamt vielleicht 18 Millionen.

      Sechs Millionen – die genaue Zahl ist kontrovers – wurden ermordet. Global gesehen hat sich die demographische Situation des Judentums radikal verändert durch die Emigration der Juden aus den Kernländern der jüdischen Kultur Mitteleuropas, die physische Vernichtung der Mehrzahl der Zurückgebliebenen, die zunehmende jüdische Besiedlung Palästinas/Israels und die Vertreibung oder Flucht der Juden aus vielen nahöstlichen und nordafrikanischen Ländern. Nordamerika und Israel sind heute die Heimat der meisten Juden, Frankreich ist nach Russland, aber noch vor Großbritannien, das europäische Land mit der größten jüdischen Minorität; fast verschwunden sind die einst florierenden jüdischen Gemeinden in muslimischen Ländern wie Ägypten, dem Iran und Irak.

      Länder mit Populationen von zumindest 10 000 Juden (in Tausend)

Argentinien 300 Mexiko 35
Australien 90 Marokko 13
Belgien 30 Österreich 10
Brasilien 150 Südafrika 120
Chile 17 Spanien 12
Dänemark 10 Schweden 16
Deutschland 40 Schweiz 19
Frankreich 600 Tschechien 12
Großbritannien 300 Türkei 23
Holland 25 Ungarn 85
Iran 25 Uruguay 35
Israel 3755 USA 5950
Italien 35 (frühere) UdSSR 1450
Kanada 325 Venezuela 20

      Heutige Identität der Juden

      1992 fand in Oxford ein Symposion über »Jüdische Identitäten« im Neuen Europa statt. Der Sozialanthropologe Dr. Jonathan Webber, der dazu eingeladen hatte, warnte vor vereinfachenden Versuchen, die jüdische Identität auf oberflächliche Merkmale zu reduzieren, weil diese irreführend sein können. So mögen streng orthodoxe chassidische Juden wegen der Art, wie sie sich kleiden, als besonders rückwärtsgewandt erscheinen. Doch bis heute haben sie in den modernsten Metropolen wie New York Erfolg, weil sie sich auf die Bedingungen der Teilnahme an den Strukturen des modernen Kapitalismus hervorragend einzustellen wussten.

      Webber hat recht mit seiner Warnung, doch ist die Situation noch komplizierter, als er meint. Die Identität des Individuums umfasst viele Elemente, und die spezifisch jüdischen sind nie mehr als der Teil eines Ganzen. Heutige europäische Juden entwickeln die jüdischen Aspekte ihrer Identität aus einer Fülle von Optionen, die sich ihnen durch das Studium der Quellen wie durch Kontakte mit anderen Juden erschließen. Bis zu einem gewissen Grad sind ihre Entscheidungen, die sie dann tatsächlich treffen, von Familie, Gemeinde, persönlichen Erfahrungen und der kulturellen Umwelt beeinflusst. Vor allem aber wird nach dem Erwerb des Grundwissens alles, was mit ihrer Identität zu tun hat, durch die Auswirkungen der Schoah (des Holocaust) und die Bedeutung des Staates Israel bestimmt.

      Die meisten Länder, in denen Juden heute leben, sind weitgehend säkulare Staaten mit einer pluralistischen Gesellschaft. Eine solche Umwelt bietet der Entfaltung der Identität ungeahnte Möglichkeiten und versetzt den einzelnen Juden in die Lage, sich autoritären Definitionen von Judentum, auch solchen von jüdischen Führern,