Sinn ist die Religion der Juden. Aber wer sind die Juden? Das ist das Thema des ersten Kapitels. Vorerst betrachten wir als Juden alle Mitglieder jener heutigen Gruppen, die sich positiv auf die von den Rabbinen des Talmuds definierten Traditionen beziehen (mehr über den Talmud in Kapitel 3). Ausgeschlossen ist dadurch die »Religion des Alten Testaments«, die in den eher reaktionären theologischen Seminaren noch immer als Zweig der Judaistik präsentiert wird. Die ›Welt‹ der Rabbinen wurzelt in jenen Partien der Hebräischen Schrift, auf die sie ihre Autorität stützt. Wir werden allerdings sehen, dass diese Welt von einer wörtlichen Textauslegung weit entfernt ist.
Unsere Definition schließt auch andere »jüdische Sekten« aus, die im 1. Jahrhundert ihre Blütezeit hatten – Essener, Sadduzäer, Samariter und »Judenchristen«. (Einige dieser Gruppen werden uns freilich in Kapitel 2 wiederbegegnen. Dort wird berichtet, wie es zur Spaltung von Judentum und Christentum kam, die ursprünglich eine Religion bildeten.)
Das zentrale Thema dieser Einführung bildet die Religion. Sie lässt sich jedoch nicht von der Gesellschaft, der Geschichte oder den emotionalen Erfahrungen und geistigen Erkenntnissen ihrer Gläubigen trennen. Wir flechten daher einige Informationen über die jüdische Gesellschaft und die Geschichte der Juden ein.
Dabei treffen wir unsere eigene Wahl zwischen den großen Schulen der jüdischen Historiographie, welche die gleiche Geschichte so verschieden erzählen. Da gibt es die »tränenreiche« Schule, für welche die jüdische Geschichte ein Jammertal, ein Leiden und Martyrium, eine einzige Kette von Verfolgungen ist. Diesen Typus kennen wir seit Ephraim von Bonn aus dem 12. Jahrhundert, der seine berühmte Martyrologie im Gefolge der den Zweiten Kreuzzug begleitenden Massaker an den Juden im Rheinland, in England und Frankreich verfasste. Weiter gibt es die »Jerusalem«-Schule (Ben Zion Dinur), in deren Sicht die ganze jüdische Geschichte auf das Land Israel bezogen ist. Am anderen Pol steht der große Historiker Simon Dubnon, der die positiven Leistungen des »Diaspora-Judentums« hervorhob. Und es gibt die traditionellen Theologen, die – in echt biblischem Stil – die jüdische Geschichte behandeln als fortlaufende Erzählung von der Sündhaftigkeit und Buße des jüdischen Volks und von Gottes Strafen und Belohnungen oder sie in große »vorherbestimmte« Zyklen einteilen, die in der Ankunft des Messias kulminieren. Scherira Gaon, im 10. Jahrhundert in Babylon lebend, wurde zum Vorbild für all jene, die jüdische Geschichtsschreibung als die Aufgabe ansahen, die authentische Tradition bis zu Moses zurückzuverfolgen. Franz Rosenzweig im 20. Jahrhundert dagegen scheint die Bedeutung der Geschichte überhaupt zu negieren: »Wir sehen Gott in jeder ethischen Handlung, aber nicht in dem vollendeten Ganzen, der Geschichte; denn wozu bräuchten wir einen Gott, wenn die Geschichte göttlich wäre?«
Für uns jedoch steht die kreative Geschichte des Judentums im Vordergrund. Die Leiden, die Verfolgungen und Vertreibungen kann niemand leugnen. Erstaunlich aber ist, dass der jüdische Geist dennoch über die Jahrhunderte hinweg geblüht hat in einer noch immer nicht endenden Prozession von Dichtern und Heiligen, von Philosophen und Bibelkommentatoren, von Grammatikern und Talmudisten, von Juristen, Satirikern, Rabbinen und Pädagogen, aber auch von unbesungenen Frauen und Männern einfachen Glaubens.
1 Wer sind die Juden?
Gehört die Tomate zum Obst oder Gemüse? Für den Botaniker unzweifelhaft zum Obst, für den Küchenchef zum Gemüse – was aber würde die Tomate selbst sagen? Wenn sie überhaupt über die Sache nachdächte, würde sie wohl die gleiche Identitätskrise erleben, in die Juden leicht geraten, wenn man sie in die Zwangsjacke einer Rasse, einer ethnischen Gruppe oder einer Religion zu stecken versucht. Lässt man sie in Ruhe, sind Tomaten und Juden weder besonders komplizierte noch obskure Wesen. Sie passen aber nicht ohne weiteres in die bequemen Kategorien wie »Obst« oder »Gemüse«, »Nation« oder »Religion«, die zur Klassifizierung anderer Nahrungsmittel und Menschen sonst so nützlich sind.
Woran würden Sie eine Jüdin oder einen Juden erkennen, wenn sie oder er Ihnen auf der Straße begegnete? Es gibt sowohl schwarze wie weiße, orientalische wie okzidentale, konvertierte wie jüdisch geborene, atheistische, agnostische und noch viele andere Typen von religiösen Juden. Ist es da überhaupt möglich, die Juden kollektiv zu beschreiben? Wie viele Juden gibt es? Und wo leben sie?
Wer waren die Juden früher?
Die Frage nach der jüdischen Identität ist überraschend neu. Im Mittelalter etwa sah niemand darin ein Problem. Man wusste, wer die Juden waren. Die Juden waren ein »besonderes Volk«, »das auserwählte Volk«, wie es in der Bibel heißt, auserwählt von Gott zum Träger seiner Offenbarung. Doch sie hatten Jesus verworfen. Sie waren deshalb verflucht und zu einem niederen sozialen Status verdammt, bis sie Jesus anerkennen würden, wenn die Zeit erfüllt sei. Im späten Mittelalter hatte sich die christliche Voraussage erfüllt: die Christen hatten unter Anwendung politischer Macht die Juden tatsächlich in jenen niederen sozialen Status abgedrängt, den sie ihnen prophezeit hatten. Die Juden wurden gezwungen, in Ghettos zu leben, sie mussten besondere Kleidung tragen, waren von Zünften, Berufen und Landbesitz ausgeschlossen, wurden von den Kanzeln als Christusmörder geschmäht, der Brunnenvergiftung (zur Zeit der Pest) beschuldigt, sowie der Hostienschändung, des »Ritualmords« an christlichen Kindern (die sogenannte »Blutanklage«: angeblich benutzten sie ihr Blut für das Pessach) und so gut wie jeder Schandtat, die nur ein verwirrter Geist auf eine fremde Gruppe projizieren konnte.
Es ist aufschlussreich, ja geradezu schockierend, wie die Juden in der christlich religiösen Kunst, besonders des Westens, dargestellt wurden. Vor dem 12. Jahrhundert besaßen sie keine physischen Merkmale, die sie von anderen Menschen unterschieden. Dann erfolgte plötzlich ein Umschlag: die europäischen Juden bekommen Hakennasen, Schwimmfüße und andere Merkmale, mit denen man sich sonst die Physiognomie des Teufels auszumalen pflegte. Selbst im 20. Jahrhundert hält sich noch in Teilen Europas der Volksglaube, die Juden trügen Hörner. Natürlich waren es nicht die Juden, die ihr Äußeres im 12. Jahrhundert auf mysteriöse Weise verändert und in neuerer Zeit zurückverwandelt hatten, sondern es war die christliche Ikonographie, die von nun an den Mythos des jüdischen Bundes mit dem Teufel artikulierte.
Die in der mittelalterlichen »Christenheit« erzeugten Stereotypen waren selbst dann noch virulent, als das System unter dem Einfluss der Aufklärung zusammenbrach. Sogar Voltaire, ein Protagonist der Aufklärung, hielt die Juden für eine verkommene und minderwertige Rasse. Anstelle des theologischen Antijudaismus der Kirchen entwickelte sich ein rassistischer Antisemitismus, der in der »Endlösung« der Nazis, dem Projekt der Erniedrigung und physischen Ausrottung der »jüdischen Rasse«, gipfelte.
Doch die Nazis hatten ein Problem. Spätestens 1933 war es völlig evident, dass die Juden keine Schwänze, Hörner oder irgendwelche anderen anstößigen Züge besaßen, die sie von anderen Deutschen (oder Polen oder wem immer sonst) unterschieden. Als Goebbels und sein Propagandaapparat die mittelalterlichen Karikaturen im Stürmer wiederaufleben ließen, war denn auch die jüdische »Normalität« derart weit vom Hirngespinst der rassischen Verschiedenheit der Juden entfernt, dass die Nürnberger Gesetze geradezu hilflos Juden als Personen definieren mussten, die zumindest von einem jüdischen Urgroßelternteil abstammten, also 121⁄2 Prozent »jüdisches Blut« in sich trugen. Es war ein böses Omen, dass die Nazis ihre ersten antijüdischen Gesetze – unter anderem Boykott, Rassentrennung und besondere Kleidung – just auf jene Dekrete stützten, die Papst Innozenz III. während des 4. Laterankonzils von 1215 erlassen hatte. Ein Hauptziel dieser Gesetzgebung war es, die Juden dadurch zu isolieren, dass sie anders als andere Menschen aussehen sollten – trotz der Tatsache, dass die Natur sie unpassenderweise ungefähr genauso geschaffen hatte wie die anderen auch.
Wie dachten die Juden früher über sich selbst?
Solange die christliche oder muslimische Umwelt die Juden weiter als ein »besonderes Volk« definierte und Gesetze zur Sanktionierung ihres speziellen Status erließ, haben die Juden ihre gesellschaftliche Situation verinnerlicht und ihr Los in den alten biblischen Kategorien interpretiert. Sie sahen sich als Gottes auserwähltes Volk, als eine Nation im Exil. Wie ihre Unterdrücker glaubten sie, Gott habe sie wegen ihrer Sünden verbannt. Doch sie zogen daraus andere Schlüsse als Christen