Abschied
Wie verabschiedet man sich von einem Land, das es nicht gibt? Zumindest nicht offiziell? Das Auswärtige Amt Deutschlands hisste eine Zeit lang auf seiner Website da, wo einst die taiwanische Nationalflagge hing, die weiße Fahne; andere Länderregierungen und internationale Institutionen winden sich so lange um eine Benennung, dass niemand sich darunter etwas vorstellen kann – Provinz China, Taipei und seine Umgebung (WHO) oder wie die diplomatischen Fantasienamen lauten. In den allermeisten Fällen wird Taiwan noch nicht einmal als eigenes Land gelistet. Fluglinien und Hotelketten werden von der Regierung in Peking abgemahnt, wenn sie Taiwan als eigenständige Destination ausweisen. Einer Bekannten war 2018 sowohl vom Straßenverkehrsamt in Zürich als auch von ihrer Versicherung die Nationalität aberkannt worden, weil von der Regierung in Peking offenbar ein Schreiben an sämtliche Länder gegangen war, wonach Taiwan als eigenständiges Land zu löschen und durch China zu ersetzen sei – Taiwan war kurzzeitig nicht mehr im System zu finden, der Angestellte ratlos.
Taiwan ist isoliert, im Notfall ist es allein auf sich gestellt. Was macht das mit den Menschen, war eine der Fragen, die ich mir stellte, bevor ich 2020 für sechs Monate nach Taiwan reiste. Verharren sie in Angst, erstarrt wie das Kaninchen vor der Schlange? Sind sie in permanenter Unruhe? Oder lehrt sie der seit Generationen antrainierte Pragmatismus, das Leben zu nehmen, wie es ist? Nichts scheint ihnen wertvoller als Sicherheit und Stabilität, erst recht in einem Land, wo der Boden beständig bebt und Gefahr vom Himmel droht. Das ist womöglich die einzige Konstante im Leben der Taiwaner: Sich mit den Unwägbarkeiten so gut es eben geht zu arrangieren, scheint wie eingebrannt in ihr Wesen. Es ist eben so, unabänderlich, sinnlos, sich deshalb allzu sehr zu grämen.
Ist es so, fragte ich mich? Oder ist es anders?
Meine letzte Woche in Taiwan ist angebrochen. Und kalt erwischt mich die Frage: Also hast du nun sechs Monate lang Urlaub gemacht? Nein, schon nicht, aber was dann? Es gab keinen Tag, an dem ich nicht am Schreibtisch saß. Und? Hast du geschrieben? Bist du vorangekommen? – Ja, nein, besser als ich dachte, aber eigentlich nicht, oder vielleicht? Die ersten beiden Monate ließ mir ein Intensivkurs Chinesisch keine Zeit, an irgendetwas anderes zu denken. Danach übersetzte ich Gedichte von taiwanischen Lyrikerinnen, las wissenschaftliche Texte über Chinas Situation während des Ersten Weltkriegs und paraphrasierte zwei chinesische Tagebücher aus dieser Zeit, schrieb an einem Roman.
Ich unterhielt mich ausführlich mit den Menschen, vor allem Frauen, über Taiwan, ging durch Straßen, entdeckte bei jeder U-Bahn-Station eine andere Welt. Bis zum letzten Tag staune ich darüber: Auch wenn ich nicht schreibe, bin ich ein Notizbuch. So sagte es einmal der Aargauer Lyriker Klaus Merz.
Ich muss Abschied nehmen von Jiantan und dem Hügel gleich hinter meiner U-Bahn-Station, auf den ich gerne viel öfter gestiegen wäre, weil die verwunschenen Plätze, ausrangierten Fitnessgeräte in verlassenen Tempeln, auf den Boden gemalten Badmintonfelder unter tropisch wucherndem Palmengewächs und eine sich ständig wandelnde Aussicht auf die Stadt mich ver-rückt haben. Ich schreibe »wäre«, weil ich nur zweimal dort oben gewesen bin. Beide Male attackierten mich die Moskitos auf unerträgliche Weise, und beim zweiten Mal griff mich ein wilder Hund an, obwohl es, so meine Sprachlehrerin, in Taipei doch gar keine wilden Hunde gebe.
Jiantan (»Schwertsee«), meine U-Bahn-Station, Shilin (»Gelehrtenviertel«) und die Straße Hefeng (»moderater Reichtum«), in der ich wohne, sind wie ein Dorf in der Stadt. Manchmal, wenn ich morgens beim Frühstück saß mit dem Blick hinaus in ein undefinierbares Licht, sang eine Frauenstimme. Es war stets dieselbe Melodie. Ich verstand nicht, was sie sang. Aber ihre Stimme, das Lied schien endlos zu sein, unerschöpflich das Liebesleid, die Sehnsucht nach einem fernen Glück; im Hintergrund setzte eine Flöte leise Tupfen. Und darüber legten sich die Bilder aus Chengdu von vor mehr als zwanzig Jahren, wo ich als Studentin für zwei Jahre lebte, die Geräusche von damals, wenn der Fahrradmechaniker vorm Haus auf das Blech klopfte.
Ein kleiner Tempel hier im Park ist mein liebster Ort. Ich holte mir einen Kaffee in einem Supermarkt, in dessen Hintergrund nicht etwa ausgeleierte Schlager, wie ich es aus Deutschland und der Schweiz kenne, sondern Free Jazz lief, sodass ich allein schon deswegen immer nur dort einkaufte. Setzte mich mit dem Kaffee in den Park neben den Tempel und sah den alten Männern beim Schachspiel zu. Hörte Stimmen, die mal lauter, mal leiser wurden, verstummten, Schritte vorüberschlurfen, Wortfetzen und Kinderjauchzen, Motorroller und leise buddhistische Litaneien aus dem Lautsprecher.
Da, wo ich wohne und jetzt diese Zeilen schreibe, gibt es um die Ecke einen 10’000 Jahre alten Tempel. 10’000, wàn, ist eine runde Zahl, die alles und nichts bedeuten kann, niemals aber wörtlich zu nehmen ist, lediglich eine lange Zeitspanne meint. Der kleine Tempel ist dem Erdgott gewidmet, in dem für die Vorfahren und die Nachkommen gebetet wird. Weil hier einmal viele Menschenknochen gefunden wurden, hat man darüber den Tempel errichtet. Etwas weiter in derselben Straße steht ein Tiertempel, den ich für mich so nenne, weil dort Tiere in viel zu kleine Käfige gesperrt sind. Unten am Ufer des Flusses, zu Fuß nur fünf Minuten entfernt, ist der Flussgotttempel, dessen Hydraulik das kleine Gebäude bei einem Taifun mit Hochwasser in die Höhe hievt.
Habe ich in den ersten Wochen gern zum Frühstück gedämpfte Teigtäschchen gegessen oder frittierte Teigstangen in Sojamilch getunkt, so ist es dafür schon seit Wochen zu heiß. Statt warmer Nudeln gibt es nun kalte. Der Tofuladen mit seinem Grünbohnentofu füllt einen Becher nach dem anderen, zum Schluss kommen noch ein paar Eisklümpchen oben drauf. Nur wenn es regne, laufe das Geschäft schlecht, sagt der stämmige Verkäufer. Nicht einmal Corona habe seinem Laden geschadet. Tatsächlich waren im Februar, als ich hierher