lange wohl schon? Ob sie jeden Tag da sitzen? Wo sind sie, wenn es regnet, denn wenn es regnet, regnet es heftig.
Einmal erschrecke ich, als ich nackte, lange, dürre Beine sehe, angewinkelt. Die Frau kauert auf einem Hocker vor einem Nudelstand und schlürft eine Suppe. Sitzt in sich versunken, ihr halblanges graues Haar geht ihr strähnig bis zur Schulter. Was sie wohl unter der grauen Strickjacke bei dieser Hitze trägt, frage ich mich.
Sie bewegen sich unauffällig in der Stadt. Vielleicht fallen sie mir deshalb auf. Einmal abends auch beim Anstehen an einem Buffet. Die Buchwelt Taipeis feiert die letzte Nacht eines Eslite-Buchkaufhauses, dem ältesten der Stadt und ersten, das 24 Stunden rund um die Uhr geöffnet hatte. Wie sie sich anstellen, unter jene mischen, die noch mehr wollen, einen zweiten, dritten Nachschlag, oder jene, die nur aus purer Lust auf einen Schluck Whiskey, auf ein Häppchen hier stehen, sie aber aus purer Not, mit ausgebeulten Rucksäcken und abgerissenen Kleidern, wie sie scheu um sich blicken, kaum die Füße vom Boden heben, auch hier nicht. Einer hat einen eiergroßen Furunkel an seiner rechten Hand, so groß, dass er ihn beim Zugreifen mit den Stäbchen behindert. Die Musik eines Orchesters im Hintergrund klingt wie aus einer anderen, fernen, für sie unerreichbaren Welt.
Bäckerei
Nach dem Unterricht gehe ich schnurstracks in eine Bäckerei, die unsere Lehrerin für die in Taiwan so typischen Ananaskuchenstückchen empfahl: »Die muss man gegessen haben.« Das Angebot ist ansehnlich, Käsekuchen, Mandelnussschnitten, Brownies. In der Nähe der Universitäten legt man offensichtlich viel Wert auf Qualität und Auslage.
Als ich eintrete, meine ich, deutsche Schlagermusik zu hören, denke aber sogleich, dass ich mich verhört haben muss, wie so oft, wenn es um Musiktexte geht. Ich höre nicht weiter hin, konzentriere mich auf die Beschriftung der diversen Kuchen, bis das »Nur du, du, nur du« mir deutlich ins Bewusstsein dringt. Ein deutscher Schlager allererster Güte – wie kommt der hierher? Nach dieser Schnulze folgt auch schon die nächste.
Wäre diese Bäckerei nicht die Filiale einer großen Kette, hätte ich die Verkäuferin danach gefragt. Doch die Angestellte, positioniert hinter Desinfektionsmittel und Chocolate Brownies im Sonderangebot, sieht nicht so aus, als könnte sie mir darauf eine Antwort geben, zumindest nicht jetzt zur Mittagszeit, da sich Kuchen und Wraps am besten verkaufen.
Die Ananaskuchenstückchen sind mir indes viel zu süß, was meine Lehrerin am nächsten Tag fast nicht glauben kann.
Bange
Woher rührte das Gefühl der Bangigkeit in den ersten Wochen? Das ungläubige Staunen darüber, wie ich vor vielen Jahren, fast in einem anderen Leben, scheint mir, einmal alles in eine Waagschale warf, weil ich unbedingt nach Japan wollte? Mir heute unvorstellbar.
Mir ist bange, als ahnte ich etwas. Oder ist es nur die Ungewissheit? Ein Fremdeln, das mir neu ist, alles ist mir neu.
Zweieinhalb Monate später kann ich mir schon nicht mehr vorstellen, je wieder von hier wegzugehen, kann mir ein Leben in Europa nicht mehr vorstellen, erst recht nicht nach allem, was Europa nach diesem Frühling, diesem Sommer durchgemacht haben wird.
Bedrohung
Kann ein Volk Resilienz lernen, wenn es regelmäßig von einem anderen bedroht – mal subtil, mal mit roher Gewalt –, wenn es gezwungen wird, die Fäden zur Welt zu kappen, bis es alleine dasteht?
Wie zeigt sich diese Bedrohung im Alltag, wenn ein anderes Land sich in den Kopf gesetzt hat, dieses einzunehmen, das nicht einmal Feindesland ist, sondern dieselbe Sprache spricht, auf dieselbe Tradition zurückblickt? Wenn der große Bruder will, dass man zur Familie zurückkehrt, der kleine Bruder aber lieber draußen in Freiheit spielen möchte, wie es eine Radiojournalistin ausdrückte?
Gibt es Worte für diesen Zustand des Ausharrens, Abwartens?
Sind die Menschen gewappnet? Wie sehen die Schuppen einer möglichen Widerstandsfähigkeit aus?
Hält man sich an das »Wasser«, wie es die Hongkonger Protestbewegung als Motto gegen die unverhältnismäßige Polizeigewalt formulierte, was zu einem Revival von Bruce Lee führte? »Empty your mind, be formless, shapeless — like water. Now you put water in a cup, it becomes the cup; You put water into a bottle, it becomes the bottle; You put it in a teapot, it becomes the teapot. Now water can flow or it can crash. Be water, my friend.«
Diese Seinsweise ist mir vielleicht das größte Rätsel dieser Insel.
»Stellt euch eine Insel vor, eine schöne, kleine, tropische Insel, mit einer jungen Demokratie, vielen verschiedenen Nationalitäten und Religionen. Und daneben ein riesengroßes Land, in dem es das alles nicht gibt, das dieses kleine Land ständig bedroht und schlucken möchte. Wie lebt es sich in so einem Land?«, fragt die Tänzerin F., wenn sie im Westen nach Taiwan gefragt wird. »Von einem Bürgerkrieg kann ich nicht erzählen, auch geht es uns materiell gesehen relativ gut. Deshalb interessiert sich auch niemand wirklich für Taiwan, wenn zum Beispiel in Künstlerkreisen die Herkunft thematisiert wird. Da mag die Bedrohung, so wie ich sie fühle, noch so existenziell sein.«
Unter den zwölf Taiwanerinnen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Profession und Herkunft, mit denen ich mich seit 2019 über die Bedrohung Taiwans unterhalte, ist die Tänzerin mit diesem Gefühl alleine.
Eine verstummt allerdings bei dieser Frage und antwortet erst nach einer Weile, dass man die Zuversicht verloren habe. »Was können wir schon tun?« Ihre Eltern, ihr Bruder seien sicher, dass Taiwan eines Tages von China eingenommen werde. Ihr Vater werde deshalb auch kein Haus kaufen, keine Wohnung, wie es so viele für ihre Altersvorsorge tun, weil man nicht wisse, wie die Zukunft Taiwans aussehe.
Für viele ist diese Gefahr so alltäglich, dass sie sie nicht mehr ernst nehmen – was diverse Umfragen bestätigen.
Schon bei ihrer Geburt sei Taiwan bedroht gewesen, sagt die Journalistin. Es sei, als schimpfe ein Nachbar tagein, tagaus im Garten nebenan. »Der Garten gehört aber eigentlich uns.« Dennoch stehe Taiwan derzeit nicht auf der Prioritätenliste der Volksrepublik, die sich auf Tibet, Xinjiang und Hongkong konzentrieren müsse. Andererseits – sie wird nachdenklich – schickten Taiwaner, die es sich leisten könnten, ihre Kinder ins Ausland, um sie dort studieren zu lassen und in Sicherheit zu bringen, das heiße, sie haben kein Vertrauen in Taiwans Zukunft. Und Hongkonger wanderten lieber gleich nach Neuseeland und Kanada aus statt nach Taiwan, weil sie glaubten, Taiwan sei als Nächstes dran.
Das sei früher so gewesen, sagt der queere Politpsychologe Wen Liu im Gespräch mit dem Blogger Brian Hioe, doch die jungen Leute wollten Taiwan nicht mehr verlassen, seien groß geworden mit Gefahren wie Erdbeben, Taifun und eben China. »Das Risiko ist zwar da, dennoch muss man nicht immer mit dem Schlimmsten rechnen.«8
Sie drohen schon so lange, machen die Drohung aber nicht wahr. Nie ist etwas passiert. Ich mache mir Sorgen, aber es bringt nichts, sich zu sorgen. Wir können eh nichts machen, wir können uns ja nicht verstecken. – Fast ungläubig höre ich diesem Chor zu.
Die Pilotin K. beschreibt die Gemengelage. Zwar habe man sich im Großen und Ganzen an diese Situation gewöhnt, und früher sei es noch schlimmer gewesen. 1996 zum Beispiel, als Raketen abgeschossen wurden, die direkt vor Taiwans Küste ins Meer stürzten, weil sich China vor Lee Teng-hui als erstem Präsidenten fürchtete. »Aber ich erinnere mich an 1997. Meine Mutter nahm mich damals mit nach Hongkong. Es war meine erste Auslandsreise. Sie wollte mir zeigen, wie es dort ist, bevor die Kolonie zurück an China geht. Da war die Bedrohung für mich sehr real. Wir beobachten sehr genau, was in Hongkong vor sich geht. Und jedes Mal, wenn etwas passiert, ist das wie eine Krise, denn wir stellen uns vor, dass das auch in Taiwan passieren kann. Doch je mehr man hört und liest, desto größer wird der Widerstand dagegen. Im Luftraum bekomme ich ständig Meldungen und Warnungen, dass man den chinesischen Luftraum verletze. Weil man den Funk nicht abstellen darf, gehen sie zum einen Ohr hinein