Alice Grünfelder

Wolken über Taiwan


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fast ebenso verehrt wird wie der Gesundheitsminister Chen Shih-chung, für den sogar Skulpturen wegen seines professionellen Krisenmanagements geschaffen werden.

      In der U-Bahn gelten seit dem 1. April 2020 verschärfte Regeln. Am Eingang informiert ein Schild darüber, dass das Transportunternehmen keine Passagiere mitnimmt, deren Körpertemperatur 38 Grad übersteigt – was aber niemand kontrolliert –, und dass alle Passagiere Mundschutz tragen müssen. Bei Zuwiderhandlung muss mit einer Geldstrafe bis umgerechnet 450 Euro gerechnet werden – bei einem monatlichen Durchschnittsgehalt von etwa 1200 Euro.

      Die Museen sind geöffnet. Im Museum für Gegenwartskunst wird am Eingang die Körpertemperatur gemessen, man muss sich die Hände desinfizieren, den Mundschutz überstreifen und ein Formular ausfüllen, in das man seinen Namen einträgt, seine Telefonnummer, und per Unterschrift versichert, dass man keine Symptome hat und auch in den letzten vierzehn Tagen nicht im Ausland war. In fast allen Einkaufszentren steht am Eingang Desinfektionsmittel. Trägt man keinen Mundschutz, wird man höflich dazu aufgefordert.

      Die Universität hat eine Verordnung erlassen, wonach jeden Morgen die Temperatur zu messen und diese in einen digitalen Tagespass einzutragen ist; dieser muss am Eingang vorgezeigt werden. Der Pass wird aber nicht richtig kontrolliert; auch haben einige ausländische Studierende offensichtlich Probleme beim Herunterladen des Tagespasses. Am Eingang steht ein Temperatursensor, der warnend aufblinken würde, wenn die Körpertemperatur eines Besuchers 38 Grad und mehr beträgt.

      Die Regierung handelt flexibel und erlässt Maßnahmen je nach Anzahl der Infizierten. Schulschließungen und Lockdown werden zwar von der KMT-Opposition gefordert und auch von einigen Experten, doch die Regierung hält sich zurück, weil sie die Folgen scheut. Vor allem kleinere Läden sind bereits im April 2020 finanziell stark angeschlagen – da befindet sich Taiwan im Corona-Monat vier des Jahres 2020 –, sodass Gutscheine verteilt werden, um den Konsum anzukurbeln. Diese Gutscheine kann man auch Arbeitsmigranten aus Ländern wie Indonesien und den Philippinen spenden, da diese Bevölkerungsgruppen, die ohnehin am Rand des Existenzminimums leben, von den Corona-Maßnahmen besonders stark beeinträchtigt sind. Die prekären Existenzen trifft es wie anderswo auch hier besonders hart.

      Effizient ist das Contact-Tracing. Die Quarantäneregeln werden in Taiwan streng befolgt, wenn man überhaupt noch ins Land gelassen wird. Die Quarantäne erfolgt in bestimmten dafür vorgesehenen Hotels auf eigene Kosten, und wer sich an die Regeln hält, bekommt dreißig Prozent der Kosten wieder erstattet. Die Mobilfunkkontakte werden in dieser Zeit überwacht. Wer sich um den Datenschutz sorgt, kann eine befristete SMS-Karte erwerben, die er nach der Quarantäne entsorgt, erklärt der Reporter Klaus Bardenhagen.23 Eine Corona-App wurde vom Parlament Ende April 2020 aus Datenschutzgründen nicht genehmigt.

      Das Kreisen der Gedanken, in dessen Mitte der Virus, ein Wirbel von Informationen und Meinungen. Das Kreisen läuft ins Leere, nur ein trübes schlammiges Nichts. Ich nehme mir vor, keine Nachrichten mehr über den Corona-Virus zu lesen. Und doch geistern sie nachts durch meinen Schlaf, ermüden mich tagsüber, und immer wieder ertappe ich mich dabei, in dieses Kreisen abzugleiten.

      Ein Jahr später ist die Lage eine andere. Mit der steigenden Infektionszahl im Mai 2021 – die mit mehr als dreihundert Infizierten pro Tag den Höchststand erreichen – werden die Maßnahmen Tag für Tag verschärft und erst ab Mitte Juli – mit Inzidenzen von unter zehn pro Tag – Schritt für Schritt wieder gelockert. Verschärft ist die Lage auch, weil Taiwan international isoliert ist und aufgrund von chinesischem Druck nur ungenügend Impfstoffe erwerben kann. Japan schickt Taiwan 1,24 Millionen Impfdosen. Als auch die USA Taiwan Impfdosen übergeben will, lässt China verlautbaren, dass es nach Wegen suche, solche Geschenke zu unterbinden, die eine Einmischung in interne Angelegenheiten bedeuteten. Auch der innenpolitische Druck wächst; die Oppositionspartei KMT wirft der Regierung schlechtes Krisenmanagement vor, weil sie keinen Impfstoff aus China kaufen will. Taiwan konnte in der Situation seine Halbleiterindustrie ins Spiel bringen, Chips gegen Impfstoff. Die USA wollten beispielsweise ursprünglich 750’000 Dosen Moderna spenden und verdreifachten dann die Menge.24

      Laut den Medien und den Informationen, die mich aus dem Internet erreichen, ist der Alltag wechselhaft. Restauranttotalschließungen wurden nach ersten Protesten wieder zurückgenommen, weil viele Wohnungen in Taipei zum Beispiel keine Küche besitzen. Take-away wurde dann wieder erlaubt.

      Märkte werden nach den Nummern der Stände reguliert; ist die Zahl gerade, darf ein Stand an einem Tag öffnen, am anderen öffnen dann die mit den ungeraden. Dasselbe gilt für die Besucher; auch ihnen wird der Zutritt je nach gerader oder ungerader Endziffer ihrer Personalausweisnummer gewährt.

      Für Unruhe und Protest sorgen die überfüllten Arbeiterwohnheime, anfällig für erhöhte Ansteckungsgefahr. Den Arbeitsimmigranten in Miaoli beispielsweise wird nur noch der Gang zur Arbeit erlaubt, obwohl die nicht erlaubt ist und es keine Ausgangssperre für die Bevölkerung gibt. Solange diese Arbeiter elektronische Teile herstellen, die für die Halbleiterindustrie essenziell sind, macht die Regierung Ausnahmen, schreibt Blogger Brian Hioe.25

      Die Regierung schreckt davor zurück, einen harten Lockdown zu verhängen. Die erfolgreiche Strategie beim Pandemiemanagement beruhe auf diversen flexibel eingesetzten Maßnahmen und sei nicht auf die vermeintlich »gehorsameren« Taiwaner zurückzuführen, erklärt Lee Chun-yi, Professor an der Universität Nottingham, im Mai 2021 in einem Online-Diskussionsforum zu den unterschiedlichen Strategien verschiedener Länder im Umgang mit der Pandemie. Digitalministerin Audrey Tang hat sämtliche digitalen Kanäle aktiviert, um mit der Bevölkerung direkt zu kommunizieren. Entsprechendes ließe sich leicht auch in Ländern umsetzen, die finanziell weniger gut ausgestattet seien als Taiwan. So wird die Bevölkerung während der Corona-Krise 2020 und 2021 täglich über die neuesten Entwicklungen informiert. Die Maßnahmen werden stets nachvollziehbar und ausführlich erklärt, und die Bedürfnisse der Bevölkerung werden ernst genommen. Dass Taiwaner nur mit einer Person aus demselben Haushalt spazieren gehen dürften, wäre unvorstellbar. Zahlreiche Mitglieder der Entscheidungskommission sind Ärzte oder haben einen medizinischen Hintergrund. In ihr versammelt sich geballtes Know-how; es werden nicht nur einzelne Virologen oder Epidemiologen gehört.

      Datenschutz wird durchaus ernst genommen. Was passiert mit den Daten, die während der Quarantäne erfasst werden, mit dem digitalen Fußabdruck, dem erstellten Bewegungsmuster? Zu jeder Maßnahme, die getroffen wird, werden sogleich die legalen Rahmenbedingungen erläutert; zum Beispiel müssen sämtliche Daten nach dem Ende der Pandemie gelöscht werden, und jeder Bürger kann dieses Recht einklagen.26

      Taiwaner sind keineswegs pflichteifriger, aber der gesellschaftliche Druck scheint mir in diesem auf sich gestellten Land vielleicht höher als anderswo. Trägt jemand keinen Mundschutz, wird er oder sie auf offener Straße angesprochen. Selbstisolation nach einer Auslandreise oder nach dem Besuch eines Nachtmarkts ist zwar freiwillig und wird empfohlen, doch der Familien- und Freundeskreis kann gehörig Druck ausüben, erzählt mir Emily. Sie schickt mir Fotos von leeren Straßen und fast leeren U-Bahnen. Das war im Jahr zuvor noch undenkbar. Sie arbeitet nun von zu Hause aus, doch ihr ist langweilig, sie stöhnt. Die vielen Online-Konferenzen ermüden sie.

      Serena, die mir bei so vielem geholfen hat, schimpft, dass ihre Familie ihr nicht einmal erlaube, ein Puzzle zu kaufen, wo doch das Geschäft unten im Erdgeschoss sei; sie habe ihr einziges Spiel schon gefühlte hundert Mal zusammengefügt! Sie sei trotzdem runtergegangen, weil ihr die Decke des Zimmers, das sie mit ihrer Schwester teile, auf den Kopf falle. Seit dem Puzzlekauf spreche sie kein Wort mehr mit ihr.

      Und die Tänzerin F. sagt im Video-Chat, endlich habe sie einmal Zeit, nichts zu tun.

       Nach Corona

      Eine Treppe führt hinunter in den Keller der Jazz-Bar in Taipei. Der Raum kommt mir vor wie vor dreißig Jahren, als ich in ebensolch obskurem Licht in Ginza an einer Theke stand.

      Ein vierköpfiges Jazz-Ensemble auf der Bühne. Sieben im Publikum.

      Die Zeit danach hat begonnen.