Alice Grünfelder

Wolken über Taiwan


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wenn sie alltäglich wird? Wenn sie in wohldosierten Portionen verabreicht wird, ist man irgendwann immun dagegen? Was dann?

      Jedenfalls ist es keineswegs so, wie ich es mir vorgestellt hatte, dass ein Volk wie ein Kaninchen vor der Schlange erstarrt. Und die Menschen tanzen auch nicht aus lauter Verzweiflung wie auf einem Vulkan, als wollten sie den letzten Moment in Freiheit genießen.

      »Krieg? Die Zeiten sind vorbei. Wir konzentrieren uns in Taiwan auf die Arbeit, die Familie, die Kinder und darauf, im Alltag zu überleben und Geld zu verdienen«, meint Kleiderverkäuferin Chi-Jing, die die Bedrohung und China mit einer kreisrunden Handbewegung wegwischt und mit einem Schluck bernsteinfarbenem Whiskey runterspült.

      Jüngere Taiwaner empfinden eine Abneigung gegenüber China, die mit jeder Drohgebärde wächst. Doch bei einer Umfrage im Juli 2020 stellt sich heraus, dass weniger als fünfzig Prozent dafür eine Waffe in die Hand nähmen.9

      Taiwan könne leicht und schnell eingenommen werden, meint die Verlegerin Chuang Chin-chung. »Das Land muss Verbündete suchen, damit es im Notfall Unterstützung erhält, denn auf die USA könne man sich nicht verlassen.« Das heißt, man müsse auf Diplomatie und soft skills setzen, um nicht noch mehr Länder als Verbündete zu verlieren, sondern im Gegenteil neue dazuzugewinnen, wenngleich es sehr schwer sei, Medien für Taiwan zu interessieren und Regierungen von ihrer zwiespältigen China-Politik abzubringen.

      Die Geschichte von Prag ist insofern eine Erfolgsgeschichte. Da kündigte der Prager Oberbürgermeister die Partnerschaft mit Shanghai wegen weiterer unzumutbarerer Klauseln und schloss stattdessen mit Taipei einen städtepartnerschaftlichen Vertrag. China schäumt und droht, aber passiert ist bislang wenig.

      Auch Litauen wagte den Affront. 2021 trat es aus dem chinesischen 17+1-Bündnis mit mittel- und osteuropäischen Ländern aus und eröffnete eine Botschaft in Taipei. Slowenien intensivierte Anfang 2022 die Beziehungen zu Taiwan. China tobt, blockiert den Handelsaustausch; davon ist auch die EU betroffen.

      »Wir sind bedroht, aber wir sind vorbereitet«, sagt Außenminister Joseph Wu wiederholt in Interviews mit westlichen Medien. Doch mit dem neuen Sicherheitsgesetz in Hongkong, Gesetz zur Wahrung der Sicherheit in der Sonderverwaltungszone Hongkong, das die Verhaftung kritischer Personen erleichtert, ist die Gefahr eines möglichen Krieges noch einmal gestiegen. Bei jedem Besuch eines US-amerikanischen Diplomaten – Gründe finden sich immer – wird die Daumenschraube angezogen, werden Militärmanöver in der Taiwanstraße intensiviert. In Taiwan spüre ich diese Bedrohung im Luftraum durchaus. Taiwanische Bekannte zucken jedoch nur die Schultern, ähnlich wie bei den Erdbeben, die mir meine App anzeigt.

      Es ist ein Volk, dass an Katastrophenwarnungen gewöhnt ist. Alljährlich wird die Insel von Tropenstürmen, Überschwemmungen, Erdbeben heimgesucht, doch weil die Regierung vorbereitet ist und entsprechende Katastrophenszenarien – die »Standard Operation Processes« (SOPs) – aus der Schublade zieht, wird es im Kriegsfall schon klappen, hoffen die Menschen. So wähnt man sich in Sicherheit.

      Geübt wird der Kriegsfall durchaus. Das habe ich zunächst nur am Rande in den Medien verfolgt, doch am Montag, dem 17. Juli, schreibt mir eine Freundin eine Nachricht, fragt, wo ich sei, denn ich müsse wissen, heute stehe das Land zwischen 13 Uhr 30 und 14 Uhr still. Die U-Bahnen, Busse, nichts fahre mehr; man übe für den Ernstfall, falls China Taiwan aus der Luft angreife. Tatsächlich erhalte ich, vermutlich wie alle Bürger Taiwans, wenige Minuten später eine SMS direkt von der Regierung, die auf den simulierten Luftangriff und den Sirenenalarm aufmerksam macht. Anders aber als all die Jahrzehnte zuvor, so schreibt mir meine Freundin kurze Zeit später, als ich gerade unweit von Taipei auf einem verlassenen Pfad durch tropischen Regenwald wandere, müssten sie dieses Mal nicht die Bunker und Evacuation Centers aufsuchen, weil während der Corona-Pandemie Menschenansammlungen zu vermeiden seien. Das Leben gehe weiter; das sei früher anders gewesen und stets eine echte Belastung im Alltag.

      Dennoch sterben 2020 Menschen bei einer Übung im Vorfeld des einwöchigen Han-Kuang-Militärmanövers. Auf rauer See kentert ein Schlauchboot, zwei Soldaten bekommen zu viel Wasser in die Lungen und ertrinken; der verantwortliche Offizier nimmt sich daraufhin das Leben. Und das Manöver endet mit einem Hubschrauberabsturz, bei dem nochmals zwei Soldaten ihr Leben verlieren.10

      Überhaupt scheint die Ausstattung des Militärs in einem beklagenswerten Zustand zu sein. Soldaten sollen beispielsweise dazu angehalten worden sein, Ersatzteile aus eigener Tasche zu bezahlen.11

      Auch die USA monieren die Ausstattung der taiwanesischen Armee und treiben die Regierung zu immer mehr Waffenkäufen an. Je nachdem, wie hoch das alljährliche Militärbudget ausfallen solle, redeten die Falken in den USA die Gefahr groß, schreibt der Blogger Brian Hioe. Sie verdienten an den lukrativen Waffengeschäften mit. Doch werden die USA Taiwan im Notfall wirklich unterstützen? Ist es nicht womöglich unvernünftig und blauäugig, vor allem auf militärische Verteidigung zu setzen? Der Abzug der USA aus Afghanistan und die Folgen rufen in Taiwan stille Bestürzung hervor. Man vergleicht die Situation dort mit der eigenen.12

      In der westlichen Berichterstattung werden die Verletzungen des chinesischen Luftraums durch das US-amerikanische Militär indes kaum erwähnt. Seit zwei Jahrzehnten folgen die USA der Obsession, nach dem Kalten Krieg nun die chinesische Gefahr heraufzubeschwören – um die Militärausgaben aufzublähen, analysiert eine französische Journalistin.13

      Und dass Taiwan nach 1949 unter Chiang Kai-shek jahrzehntelang drohte, das Festland anzugreifen, scheint der westlichen Amnesie zum Opfer gefallen zu sein.

      Meinungen, Analysen, Umfragen, die sich widersprechen und im Widerspruch gegenseitig hochschaukeln.

      So geht es auch nicht.

      Schon vor Jahren hat der Krieg an einer ganz anderen Front begonnen. Taiwan ist das Land, das die meisten Cyber-Angriffe zu gewärtigen hat, das von einem Fake-News-Tsunami überschwemmt wird. Um dem zu begegnen, ernannte die Präsidentin Tsai Ing-wen Audrey Tang, den früheren Hacker Autrijus Tang, zur Digitalministerin. Fake News kontert diese unter anderem mit »Humor«, beauftragt Komiker mit Berichtigungen, die gerade in den sozialen Medien für Lacher und Aufmerksamkeit sorgen – und Stoff für meinem Sprachunterricht bieten.14 Aus denselben Gründen hat die Regierung entschieden, dass ab 2022 Behörden keinerlei Elektronik mehr aus China verwenden dürfen; ursprünglich war geplant, eine Liste mit den Namen der zu boykottierenden chinesischen Firmen zu veröffentlichen, was aber aufgrund der schieren Anzahl nicht mehr machbar sei.15

      Laut westlicher Berichterstattung spitzt sich 2021 die Lage weiter zu. Regelmäßig frage ich bei meinen Freunden in Taiwan nach, wie schlimm es dieses Mal ist. Jedes Mal sagen sie: »Wie immer. Sorge dich nicht, uns geht es gut!« Aber ich mache mir Sorgen. Es beruhigt mich nicht zu lesen, die chinesische Armee könne nicht so schnell so viele Truppen verlagern oder Taiwan sei nur an wenigen Küstenabschnitten angreifbar.

      Ich fürchte, die Strategie, so lange zu drohen, bis sich der Westen an diesen erwartbaren Angriff gewöhnt hat und deshalb nicht oder nur schwerfällig reagieren würde, ist klug. Gleichzeitig soll das hingehaltene taiwanische Volk mit Nadelstichen zermürbt werden.

      Einzelne werden sich in die Berge und Wälder zurückziehen, von wo aus die Inselbewohner noch jedem begehrlichen Eroberer die Stirn zu bieten versuchten. Was passiert, wenn Taiwan und die USA auf einen Guerillakampf in unterirdischen Gängen setzen, Reservisten im Häuserkampf ausbilden, unter Stränden Tunnel anlegen und mit Sprengstoff füllen?16

      Im Jahr 2021 nahmen die Bedrohungen jedenfalls weiter zu, Medien sprechen von den schlimmsten Spannungen seit der Krise 1996, als Chinas Raketen vor der Küste Taiwans einschlugen. 2021 drangen so viel Militärflugzeuge wie nie zuvor in Taiwans Identifikationszone zur Luftverteidigung ein.17

      Welche Behörden, welche Organisationen wären im Falle eines Falles zu kontaktieren? Auf welchem Weg könnten Bekannte und Freunde vor dem Inferno gerettet werden? Wie könnte man ihnen nach einer Invasion helfen? Fragen ziehen sich manchmal wie Schleier vor die Nachrichten aus Taiwan.

      »Sorge dich nicht, es geht uns gut, es ist wie immer, früher war es einmal schlimmer.« Dieser Refrain beruhigt