Alice Grünfelder

Wolken über Taiwan


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Interessen heraufbeschworen wird? Sollte ich tatsächlich auf die Widerstandskraft der Taiwaner vertrauen? Meine Zweifel und Fragen finde ich in den Zeilen der Kurzgeschichte »The old capital« der Autorin Chu T’ienhsin wieder:

      Du gehörtest zu jenen, die glaubten, jeden Moment könne ein Krieg ausbrechen, hattest aber keine Angst.

      Es gab aber auch noch andere Menschen, die glaubten, der Krieg käme, und die mächtig Angst hatten.

      Und jene, die glaubten, es gäbe keinen Krieg und deshalb auch keine Angst hatten.

      Aber auch jene, die nicht an einen Krieg glaubten und dennoch Angst hatten.

      Du hattest keine Angst, weil dir schon früh klar war, dass man als einzelne Person nur wenig ausrichten kann.18

       Beitou

      In Beitou steige ich um nach Xinbeitou, ins »neue Beitou«, bekannt für seine heißen Quellen, ein Museum und einige architektonische Sehenswürdigkeiten. An einem meiner letzten Tage in Taiwan fahre ich hin.

      Schon am Bahnhof steht ein historischer Brunnen, der mir wegen seiner bescheidenen Zurückhaltung unter einem Bambusdach auffällt. Im Wasser sehe ich kleine hochkant gestellte Holzlatten, vom Wasser umspült. Neben mir steht ein stämmiger Mann, der genauso ratlos wie ich zu sein scheint. Vielleicht empfindet er das Wasser, in das wir gleichzeitig unsere Finger strecken, als ebenso grenzwertig heiß? Beide verziehen wir aber keine Miene, schauen ins Wasser und unseren Fingern zu. Es tut fast weh, also muss es wohl gesund sein.

      Am Bach entlang gehe ich durch einen Park, dahinter Hochhäuser und Wohnblocks, davor zahlreiche luxuriöse und auch ein wenig gräuliche Badehotels. Auf Schildern wird dafür geworben, sich hier stundenweise einzumieten. Etwas Anrüchiges liegt in der Luft, Männer in protzigen Autos lassen Motoren aufheulen, nur wenige Menschen sehe ich auf der Straße.

      Vielleicht bin ich auch nur voreingenommen, weil ich zuvor die Geschichte des Badeortes überflogen habe. Die Japaner hatten es sich während ihrer kolonialen Besetzung der Insel von 1885 bis 1945 in Xinbeitou gemütlich gemacht, eine Bahnlinie angelegt, um die heißen Schwefelquellen Hotels errichtet, der Bädertourismus boomte. Und als die neuen Herrscher Ende der fünfziger Jahre vom Festland nach Taiwan flohen, florierte die Prostitution erst recht.

      Die Bibliothek am schmalen Beitou-Flüsschen ist so gelegen, dass man sich keinen besseren Ort mehr für eine Bibliothek vorstellen möchte. Der Bau schwingt sich auf drei Etagen in die Höhe und schmiegt sich an den Fluss. Einladend sind die einzelnen Schreibtische oder auch Sitzgruppen aufgestellt, der Raum ist licht, die Atmosphäre entspannt. Das nächste Mal, so träume ich vor mich hin, werde ich hierherkommen, und es würde sich wie von selbst schreiben.

      Die weiträumige Tatami-Lounge im Hot Spring Museum wirkt freundlicher als die Museumsangestellten, die mir gleich hinter dem Eingang ein Paar ausgetretene Filzschlappen vor die Füße werfen. Das alte gekachelte Becken im Erdgeschoss, die Kargheit der Badehalle, ausgetretene Fließen, Kuhlen in Brüstungen – die Räumlichkeiten sind so, wie man es von einem Thermalbad erwartet. Dann entdecke ich das Becken für Frauen, es ist winzig klein. Vergeblich suche ich eine Erklärung. Die historischen Erläuterungen auf den kleinen Schildern erschöpfen sich sowieso bald, kein Wunder angesichts der doch nur kurzen hundertjährigen Geschichte des Badeorts.

      Die Wenquan-Straße (Straße der heißen Quellen) will ich entlanggehen, weil mir eine Freundin einen Link mit Fotos von verfallenen Häusern geschickt hatte. Ich gehe allerdings in die falsche Richtung, entdecke einen japanischen Tempel, bin ein wenig zu unfreundlich zu einem Mönch, weil der mich auf Englisch ausfragen will. Ich gehe immer weiter die asphaltierte Straße bergaufwärts. Von oben sehe ich Beitou im Sonnenuntergang. Neben mir liegt ein Liebespärchen im struppig-trockenen Rasen. Ist sich selbst nicht genug, denn sie plappern unentwegt in ihre Smartphones und schauen dabei wie ich ins von der Hitze und den Quellen dampfende Tal hinab. Wegen der Moskitos breche ich bald wieder auf, habe mich schon wieder ganz rot gekratzt.

      Auf dem Rückweg hinunter in die Stadt sehe ich sie im Dämmerlicht: Fenster wie schwarze Münder, aus denen Büsche wachsen, Tore, kaum mehr zu erkennen unter wildwuchernden Schlingpflanzen, geduckte Häuser, weil Bäume sich darüber breit gemacht haben. Wenn ein Haus lange leer steht, nisten sich Geister ein, habe ich bei Li Ang in ihrer Geisteranthologie Sichtbare Geister gelesen, und wenn Geister in einem Haus wohnen, lassen sich keine neuen Bewohner finden. Leere Häuser sprechen erst recht von den Abwesenden, in der Syntax der Verlassenheit, sie sind wie ein Splitter im Auge des Nachsinnens. Die Ruinen ergeben kein Bild.

      Es wird immer dunkler, das Straßenlicht ist spärlich auf dem schmalen Weg. Irgendwann hört er abrupt auf, und ich stehe an einer vielbefahrenen Straße. Auf den Minibus zurück zum Bahnhof verzichte ich, kehre um und nehme denselben Weg wieder zurück. Auf einmal weiße runde Steine zwischen Weg und Bach, sie sehen aus wie Ufos, manche mit Augen. Sie sind aus Marmor. Auf einer Tafel steht: »Wunderliche unsichtbare Wesen leben hier.« Vielleicht im Dampf, der über den heißen Quellen aufsteigt, vielleicht in den verfallenen Häusern? Gleichzeitig dienen die Steine als Hocker und schützen die natürlichen Quellen sowie sämtliche Wesen, die hier leben, wird der Künstler Huang Ching-hui zitiert.

      Über dem ganzen Ort liegt ein Geruch nach Schwefel, steigt womöglich auch aus dem Gully auf. Fließt selbst in den unterirdischen Kanälen heißes Wasser, vom Vulkangebirge gespeichert, das hinter Beitou aufragt? Ich wundere mich, wie lange ein Vulkan Hitze speichert und Jahrtausende später noch ausspuckt. Da erfasst mich die unermessliche Gesteinsewigkeit angesichts der Kurzlebigkeit eines Badeortes, der seine Vergangenheit in Ruinen bannt und Unsichtbares in weißen Marmorsteinen.

       Brücken

      Es sind keine Geflechte, dafür sind sie zu starr, zu funktionell. Sie sind nicht mit der Stadt verwoben, auch wenn Stadtplaner dies vielleicht gern so sehen wollen. Schnell sollen Autos mit den Menschen darin um-, durch- und aus der Stadt geleitet werden.

      Wie klebriges Ungeziefer schieben sich Busse darüber. Jedes Mal, wenn ich dieses Geschiebe sehe, denke ich an Kafkas letzten Satz aus dem Urteil: »In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.«

      Brücken stehen halb oder auch ganz über Taipei, auf wuchtigen Betonpfeilern, in den Flussgrund gerammt, bei Ebbe sind die Sockel wie Zahnhälse freigelegt. Manche Brücken ziehen sich erst an Flüssen entlang, bevor sie sich zur Überquerung aufschwingen, liegen übereinander und über Kreuz, winden sich wie Luftschlangen, in Beton gegossen. Darunter fahren manchmal Boote hindurch wie in dem Film Flow von Su Ming-yen19, wo Flussarme und Brücken neben- und übereinander liegen, die Bootsleute in eine steinerne Zukunft zu schippern scheinen, dabei zurückfahren in eine verschwommene Vergangenheit.

      Unter den Betonbrücken Taipeis lebt die Stadt ihre Alternativen. Mancherorts sind diese Schutzräume wie Wohnzimmer; Zelte, kleine Hütten oder Buden stehen hier. Unter einer vierspurig befahrenen Brücke macht ein Grüppchen Taiji. Einen anonymeren Ort kann ich mir nicht vorstellen, doch womöglich finden sie hier Schutz vor dem Wind, der kalt vom Meer her weht. Am Abend steht ein Flötenspieler unter derselben Brücke. Weil er hier so selbstvergessen dem eigenen Echo lauschen kann? Neben sich hat er zwei Lautsprecher aufgestellt, hinter ihm steht eine kleinere Box mit der Playback-Musik. Unter dem nächsten Brückenbogen hüpfen junge Menschen mit einem Schwingseil, drehen Kurven mit den Rollerskates. Unter den Brücken ist der Asphalt glatt.

      Etwas weiter steht ein roter, fahrbarer Tempel, die Weihrauchstäbchen sind erloschen. Mit dem Rücken dazu sitzen Männer auf Plastikstühlen und schauen zu, wie Frauen und Männer auf einem Kunstrasen Tennis spielen. Ich komme an einem Zelt vorbei, in dem schmachtende Liebeslieder geschmettert werden – egal, ob der Ton richtig oder falsch getroffen wird, allein die Inbrunst zählt.

       Buchhandlungen

      Sind Buchhandlungen nur Buchhandlungen? Sind sie nicht. Stehen Bücher nur in