kommt das Buch unter die Leute, die keine Buchhandlung betreten würden.
In den unabhängigen Buchhandlungen, die mir von zwei Verlegern empfohlen wurden, trinkt man Kaffee, trifft sich mit Leuten, lernt. Die Buchhandlung Dúzi (Leser) liegt in der Nähe der Taiwan Normal University. Als ich meinen Laptop aufklappe, um für die Prüfung am nächsten Tag zu lernen, schläft ein Student am Nebentisch, vor ihm liegt aufgeschlagen ein dicker Wälzer, an der Wand hängen Wünsche all jener Autorinnen und Autoren, die schon einmal hier gelesen haben, davor sitzt ein Paar, er massiert ihr die Füße. Nur lesen tut hier momentan niemand.
Gedichte verkaufen sich am besten. Auf den Tischen sind zudem kreativ und sorgfältig gestaltete Zines ausgelegt. Der Buchhändler der genossenschaftlich organisierten Buchhandlung erklärt: »Gedichte kann man schneller lesen. Erzählungen, von Romanen ganz zu schweigen, das dauert einfach viel zu lang, bis man die durch hat. Wir nehmen die Zines gern in Kommission, und oft sind gerade diese Autorinnen und Autoren unsere besten Kunden.« Zwar sei der Umsatz um geschätzte dreißig Prozent eingebrochen, sagt er weiter – haben mir auch andere Buchhändler gesagt –, weil es wegen des Corona-Virus keine Veranstaltungen mehr geben dürfe. Buchhandlungen sind eben nicht nur Buchhandlungen, sondern hier finden vor allem an Wochenenden Diskussionen, Konzerte, Lesungen statt, lebendige Kulturknotenpunkte also und als solche aus dem kulturellen Leben der Großstadt nicht wegzudenken.
Dennoch bin ich skeptisch, als ich höre, dass ein großes Buchfest stattfinden soll, weil eine der populärsten Eslite-Filialen schließt, das erste Buchkaufhaus Asiens, das 2006 den 24-Stunden-Verkauf einführte. Wie beliebt dieses Buchgeschäft ist, zeigt auch der romantisch-melancholische Film Au revoir Taipeh! von Arvin Chen. Eine Buchhändlerin verliebt sich in dieser Filiale in einen von der Liebe Enttäuschten, der Französisch lernen möchte und deshalb jeden Abend vor einem Regal mit Französischbüchern am Boden sitzt. Geschlossen wird das Geschäft aber nicht etwa, weil sich die mehrstöckige Buchhandlung nicht mehr rentiert, sondern weil das Geschäft so gut floriert, dass die Vermieterin, eine Bank, das Gebäude nun selbst nutzen möchte.
Vor allem junge Menschen sitzen an diesem letzten Abend zwischen den Regalen am Boden oder wo auch immer es noch Platz gibt, nicht alle lesen ein Buch. Ein Jugendlicher malträtiert das Display seines Smartphones. Andere sitzen da und schauen den vielen Menschen zu, die sich durch die Gänge schieben. Es geht zu wie bei einem Räumungsverkauf, viele Regale sind nur noch halbvoll, wie beispielsweise jenes für japanische Sprachlehrmittel, aber auch im Lyrikregal klaffen große Löcher. Wird hier nur gefeiert oder auch gekauft? Ich will mich weiter umsehen, komme aber nicht weit. Im Gang stauen sich Menschen mit Stapeln in den Händen, vor den Kassen bilden sich lange Schlangen, dabei sind die Preise der meisten Bücher nicht heruntergesetzt, man hätte sie genauso gut auch tagsüber und anderswo kaufen können. Um Mitternacht wird dieses Buchkaufhaus geschlossen, dann begibt man sich in eine andere Eslite-Filiale, wo das Programm weitergeht, mit Musik und einer Koch-Show.
Weniger ausgelassen, fast schon grimmig wird zur selben Zeit eine Buchhandlung eröffnet, die weltweit für Schlagzeilen sorgt. Lam Wing-kee, einer der fünf Buchhändler Hongkongs, der von der chinesischen Regierung Jahre zuvor entführt worden war und später nach Taiwan emigrierte, sammelte per Crowdfunding Geld für die Wiedereröffnung seines einstigen Causeway-Bay-Buchladens. Das gefällt nicht jedem: Wenige Tage vor der Eröffnung bewerfen ihn drei Männer mit roter Farbe.
Als ich seine Buchhandlung das erste Mal aufsuche, stehen im Gang davor zahllose Blumengebinde in Vasen, auch Präsidentin Tsai Ing-wen schickte einen Blumengruß. Der kleine Laden im zehnten Stock eines Hochhauses ist voll, Schulter an Schulter stehen Menschen vor den Regalen mit Büchern zu historischen und politischen Themen, westliche und chinesische Klassiker, Graphic Novels und tatsächlich zwei Bücher über die Innenpolitik Deutschlands. »Leergekauft« sei der Laden, heißt es kurz darauf in den Nachrichten, und tatsächlich sind die Regale bei meinem nächsten Besuch nur noch halbvoll. Wenige Wochen später sind die Blumen verschwunden und kaum Kunden anzutreffen. Dieses Mal aber entdecke ich andere und mehr Titel als bei meinem ersten Besuch. Lam Wing-kee wohne auch in seinem Buchladen, lese ich in einer Zeitschrift. Die Regale habe er maßschreinern lassen, der schmale Balkon sei seine Küche, dort koche er Tee, vielleicht noch eine Fertignudelsuppe.20 Ein Bett sehe ich nirgends.
Dann gibt es Buchgeschäfte mit ausgefallenen Architektur- und Kunstbüchern, manchmal mehr Kunst als Buch, bestickte Covers, Bücher als Handtasche, etwa in der Tianyuan-Buchhandlung (Gartenbuchhandlung) des gleichnamigen Verlags. Auch hier kann man Kaffee trinken, eine Kleinigkeit essen, ein Künstler hängt gerade seine Bilder über einer Sitzecke auf.
Auf dem Weg zur Buchhandlung im Kishu-An-Literaturwald sind Aphorismen bekannter Poeten ins Pflaster eingraviert. Ich will nicht auf sie treten, gehe einen mäandernden Weg um sie herum. Die Buchhandlung dort hat hauptsächlich philosophische Bücher im Sortiment. Ob sich diese Titel denn nicht schwer verkaufen, frage ich die Frau an der Theke, die neben Büchern auch Biobrot und Kaffee anbietet. Fast habe ich den Eindruck, als verstehe sie meine Frage nicht. »Doch, doch, gerade die anspruchsvollen Titel gehen gut, vielleicht, weil in diesem Viertel ziemlich viele Intellektuelle wohnen.« Im ersten Stock werden Veranstaltungen und Lesungen durchgeführt. Nachdem ich mir dort einen Film über den Lyriker Luo Fu angesehen habe, der in einem Militärbunker sein Lebenswerk Death in a Stone Cell21 schuf, liegt etwas Leichtes, Beschwingtes in der Luft.
Mangasick ist ein Untergrund-Comicladen, und das ist wörtlich zu nehmen. Es sei der erste dieser Art in Taiwan, sagt Emily. Er ist nicht einfach zu finden, kein Schild über oder neben der Tür, nur ein Aufkleber auf dem Briefkasten. Steil geht es eine sehr schmale, sehr dunkle Treppe hinunter ins Untergeschoss. Schuhe ausziehen, Mundschutz überstreifen, dann weiter durch eine kleine Galerie, dahinter der Verkaufsraum mit einem großen Tisch in der Mitte und darauf prominent Art Spiegelmans Maus. Daneben japanische Comics und die taiwanische Comic-Zeitschrift Monsoon, auf der anderen Seite jede Menge Zines, mal genäht, mal nur gefaltet, geklebt. Die Graphic Novels haben ein eigenes Regal. Viele Leute drängen sich gerade abends und an den Wochenenden um den Tisch in diesem viel zu kleinen Kellerraum, was mich für den Besitzer freut. Er verdient sein Geld mit Übersetzungen englischer und japanischer Prosa, weil mit dem Verkauf von Comics kein Lebensunterhalt zu bestreiten sei, wie er ein wenig beschämt erzählt.
Dass spezialisierte Buchhandlungen durchaus funktionieren, zeigt sich etwa in Shishenghuo (poetisches Leben). Hier wird ausschließlich Lyrik verkauft, hauptsächlich aus Taiwan und Hongkong, weil das Ehepaar, das die Buchhandlung führt, aus Hongkong stammt. Im Vergleich zu anderen Buchhandlungen, die einen Non-book-Anteil von zehn bis fünfzig Prozent haben, sieht man hier so gut wie keine buchfernen Objekte, dafür aber Gedichte auf Postkarten, »um es den Leuten einfacher zu machen, auch mal ein Gedicht zu lesen«, sagt die Inhaberin, und viele Zines, in denen Wort und Bild kombiniert werden. Gerade die kleinen Heftchen seien oft innerhalb eines Monats ausverkauft.
Zwar verschwinden laut Statistik immer mehr Buchhandlungen, und nicht überall, wo Buchhandlung draufsteht, ist auch eine Buchhandlung drin; einmal sehe ich Gemüse und Drogeriewaren ausgestellt. Doch man tue einiges, um die unabhängigen Buchhandlungen zu unterstützen, sagt Michelle Tu von der Buchmesse Taipei. Neben finanziellen Zuschüssen gebe es eine Messe für alle unabhängigen Buchhandlungen, einen Stadtplan, auf dem diese Buchhandlungen eingezeichnet sind, eine Website mit Hinweisen auf Veranstaltungen, Rezensionen, Schwerpunktthemen.
Buchhandlungen sind in Taipei offenbar tatsächlich lebendige Kulturknotenpunkte. Diese Entdeckung ist wie eine leise Freude.
Corona
Im April 2020 werde ich von Freunden um einen Lagebericht gebeten. Ich schreibe etwas.
Auf dem Weg zur U-Bahn komme ich jeden Morgen an einer langen Schlange vorbei. Die Menschen stehen für Gesichtsmasken an. Je nachdem, ob die letzte Nummer im Pass eine gerade oder ungerade Ziffer ist, kann man an dem einen oder anderen Tag in einer Apotheke mit der Krankenversicherungskarte die Masken zu einem subventionierten Preis kaufen, drei Masken zu umgerechnet sechzig Cent. Wer nicht so lange und womöglich vergebens anstehen möchte, weil die Masken ausverkauft sind, kann auf einer Website22 nachsehen,