Andreas Pfister

Neue Schweizer Bildung (E-Book)


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      Die Berufsmaturität wird fester Bestandteil der neuen Lehre.

      Im Zentrum der angestrebten Bildungsreform steht der duale Weg. Es geht darum, das bestehende Erfolgsmodell, die Berufsmaturität und die Fachhochschule, zu öffnen. Bei der Berufsmaturität soll der grösste Schritt erfolgen. Sie soll flächendeckend für alle Berufslernenden eingeführt werden. Damit findet ein Paradigmenwechsel statt vom nachobligatorischen Modell hin zur Pflicht. Die neue Bildungspflicht bis zum Alter von 18 Jahren ist eine Verlängerung der bisherigen Schulpflicht. Schon heute wird praktisch flächendeckend eine Berufslehre oder eine allgemeinbildende Schule in Angriff genommen. Die Bildungspflicht bis zum 18. Lebensjahr ist also nichts Neues, sondern sie hält gesetzlich fest, was faktisch weitgehend der Fall ist. Eine Bildungspflicht bis 18 kennt zum Beispiel der Kanton Genf seit Längerem.[4] Im Fokus stehen in Genf jene Jugendlichen, die keine Berufslehre antreten. Es geht vor allem um Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder beziehungsweise Jugendliche aus prekären Verhältnissen, die durch das soziale Netz zu fallen drohen. Die Genfer Bildungspflicht verpflichtet vor allem den Staat, den gefährdeten Jugendlichen Bildungsangebote zur Verfügung zu stellen, um ihnen einen Start ins Erwerbsleben zu ermöglichen.

      Dieser Vorschlag geht aber weiter und fordert die Maturapflicht. Das Erlangen einer der drei Maturitäten soll obligatorisch werden. Übertragen auf die Berufsmaturität 1 bedeutet das: Es muss nicht nur ein Tag Schule pro Woche besucht werden, sondern anderthalb bis zwei Tage. Die Betriebe werden verpflichtet, ihren Lernenden die nötige Schulzeit zu gewähren. Im Fall der Berufsmaturität 2 findet die zusätzliche Schulbildung im Anschluss an die Lehre statt.

      Ob man eine Berufsmaturität machen will oder nicht, soll nicht länger von den einzelnen Jugendlichen beziehungsweise deren Eltern abhängen. Die BM soll zum Normalfall werden. Mit dem Schritt von der Chance zur Pflicht werden zwei Ziele erreicht. Zum einen ist die ausgebaute Lehre Teil des dringend notwendigen Upskillings. Zum anderen ist dies ein Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit. Die bisherige nachobligatorische Bildung basiert auf Freiwilligkeit. Es wird ein enormer Aufwand betrieben mit Kampagnen, Informationsveranstaltungen, mehrsprachigen Broschüren. Das ist bewundernswert. Doch diesem Ansatz sind Grenzen gesetzt, die Grenzen der bildungsfernen Kultur. Dazu gehört, nicht zur Schule gehen zu wollen. Allzu oft prallen Angebote an dieser Kultur ab. Bildung wird nicht als Chance wahrgenommen, eher als notwendiges Übel, das man so schnell wie möglich hinter sich lassen möchte. Chancengerechtigkeit, die den Namen verdient, nimmt diese kulturellen Barrieren ernst. Sie nimmt die bildungsfernen Jugendlichen samt ihrer kulturellen Prägung ernst. Sie erwartet keine Wunder von ihnen. Sie erwartet nicht, was man mit dem gänzlich unangebrachten Begriff der Eigenverantwortung bezeichnet: dass sie von sich aus jenen Sprung tun. Dass sie quasi Verrat begehen an ihrem Umfeld, ihrer Kultur. Dass sie ihre Bildungsverachtung ablegen. Dass sie letztlich ihre eigene Identität hinterfragen und sich selbst neu erfinden – gegen den Widerstand ihres Umfelds, allein und ohne Hilfe, noch als halbe Kinder. So etwas zu erwarten und dies Eigenverantwortung zu nennen – man fragt sich, wovon das zeugt. Jedenfalls nicht von Menschenkenntnis.

      Der Schritt von der Chance zur Pflicht macht Ernst mit der Chancengerechtigkeit. Das war bei der Einführung der allgemeinen Schulpflicht so und es ist bei der Ausweitung dieser Schulpflicht nicht anders. Die Frage, die sich hier als Erstes aufdrängt, ist die nach dem Niveau. Die Annahme, das Niveau sinke zwangsläufig bei einer steigenden Maturitäts- oder Akademiker*innenquote, beruht auf einem klassischen Denkfehler. Er ist vielfach aufgezeigt und widerlegt worden. Trotzdem hält er sich hartnäckig. Man verwendet, wenn man von einem sinkenden Niveau ausgeht, ein falsches Bild. Das Denkmuster vom leergefischten Teich und was der diesbezüglichen Metaphern mehr sind, trifft hier nicht zu. Passendere Bilder wären jene von einem Garten, dessen Blumen besser wachsen, wenn man sie hegt und pflegt. Die historische Erfahrung lehrt zur Genüge, dass sowohl qualitatives als auch quantitatives Wachstum möglich ist – in der Bildung, im Wohlstand, im gesamten Fortschrittsgedanken und der gesellschaftlichen Entwicklung. Jede Bildungsexpansion war begleitet von Ängsten um das Niveau. Solche Ängste begleiteten die flächendeckende Einführung der Berufslehre in der Nachkriegszeit oder die Expansion der Gymnasialquoten ab den Sechzigerjahren. Die Ängste erwiesen sich jeweils als unbegründet. Die neuen Quoten etablierten sich schnell als neuer Normalfall – der aber, Ironie der Geschichte, ja nicht weiter erhöht werden durfte, weil sonst das Niveau sinken würde … und so weiter.

      Mit der Steigerung des Bildungsniveaus wie auch der Quote dehnte sich die Dauer der Bildung aus. Der Primarschule folgte eine Sekundarschule. Dieser folgten breiter zugängliche Mittel- und Hochschulen. Der jetzt fällige Schritt schreibt sich ein in die Geschichte dieser langen Bildungsexpansion. Es ist an der Zeit, die Berufsmatur, die man aus heutiger Perspektive als Pilotversuch verstehen kann, flächendeckend einzuführen.

      Es gibt eine Binnendifferenzierung in ein Niveau A und ein Niveau B.

      Es ist sinnvoll, innerhalb der Berufsmaturität verschiedene Niveaustufen einzuführen, also eine Berufsmaturität A und eine Berufsmaturität B. Dies in Analogie zu den unterschiedlichen Leistungsklassen innerhalb der Sekundarschule. Eine solche Differenzierung wird den unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden besser gerecht. Gegenwärtig wird die Berufsmatura von einzelnen Berufsgruppen intensiv, von anderen aber kaum absolviert. Um auch sie zu erfassen, ist eine Binnendifferenzierung der Berufsmaturität hilfreich.

      Im Kern geht es darum, den Anteil schulischer Bildung in der Berufslehre zu erhöhen. Wenn man das erreichen will, ohne den ebenso wichtigen praktischen Anteil abzubauen, braucht es eine Verlängerung der Lehre. Will man eine solche Verlängerung nicht, müssen bei der praktischen Ausbildung Abstriche gemacht werden. Nicht alle Berufslernenden schaffen die BM1 in ihrer jetzigen Form, sie ist zu anspruchsvoll. Diese Entscheidung kann nur in Absprache mit Akteur*innen der Berufslehre getroffen werden. Es gilt, bei den Erwartungen realistisch zu bleiben. Die Lernenden erreichen nicht auf mirakulöse Weise bessere schulische Leistungen. Sie werden schlicht anders oder länger gebildet.

      Das Wording ist nicht entscheidend, doch der Begriff der Maturität ist treffend. Er bringt zum Ausdruck, dass beide Wege, der duale und der akademische, zu Reife führen, zu Mündigkeit und Vollwertigkeit. Matur ist nicht nur ein Teil der Bevölkerung, matur werden alle. Der Begriff zeigt, um was es in der Bildung geht: um den Menschen, seine Entfaltung und sein Recht, vollwertiger Teil der Gesellschaft zu werden. «Maturität» ist deshalb ein Begriff, der zu Recht nicht dem Gymnasium vorbehalten ist. Er sollte auch nicht einem kleinen Teil der Berufslernenden vorbehalten bleiben. Auf der anderen Seite ist es verständlich, dass gewisse Lernende vor dem Begriff «Matura» zurückschrecken. Sie sehen darin nicht das Versprechen, nicht das Schillernde und Noble, sondern Matura ist für sie bloss Ausdruck der verhassten Schule. Wenn sie noch mehr davon über sich ergehen lassen müssen, verzichten sie lieber darauf. Wenn das Wort abschreckend wirkt, so wie der Begriff «Akademiker*innen» für Gewisse ein Reizwort ist, dann ist es kontraproduktiv, den Begriff zu verwenden. Es braucht dieses Siegel nicht. Aber mehr Schule in der Lehre – das braucht es.

      Gegenwärtig verfolgt die Berufsmaturität ein doppeltes Ziel:[5] Zum einen die Vorbereitung auf das Studium an einer Fachhochschule, zum anderen eine erweiterte Allgemeinbildung. Letzteres ist Bildung in einem umfassenden Sinn. Es geht darum, sich in einer von Upskilling geprägten Welt selbstbestimmt zu bewegen. Es geht um Entwicklung – im Beruf, in der Gesellschaft, privat. Dazu gehört der Aufbau von Wissen und Kompetenzen, von Arbeits- und Lernstrukturen, von reflektierten Haltungen. Sowohl die gymnasiale als auch die Berufs- und Fachmaturität stehen in humanistischer Bildungstradition. Ihr gemeinsames Bildungsziel ist die persönlichen Reife. Mit der flächendeckenden Einführung der Berufs- und Fachmaturität verschiebt sich die Gewichtung der bisherigen Bildungsziele. Wichtiger wird neben der Studienreife die erweiterte Allgemeinbildung. Die neue Berufsmaturität befähigt weiterhin zum Wechsel auf die Tertiärstufe. Sie hat aber nicht den Anspruch, dass alle Lernenden diesen Wechsel vollziehen. Es müssen nicht alle Berufsmaturand*innen studieren gehen. Wenn ein grösserer Teil als bisher auf die tertiäre Stufe wechselt, ist ein wichtiges Ziel bereits erreicht. Das ist keine Verschwendung von Bildungsressourcen. Berufs- und Fachmaturand*innen, die nicht studieren, hat man nicht «umsonst» gebildet. Die erweiterte Bildung der Berufsmaturität erfüllt klare Aufgaben. Sie passt die duale Bildung an die