Andreas Pfister

Neue Schweizer Bildung (E-Book)


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Die Berufsmaturität etabliert eine neue Bildungskultur.

       Der Ausbau des dualen Wegs etabliert eine neue Bildungskultur in humanistischer Tradition.

       Die Berufsmaturität versteht sich als erweiterte Allgemeinbildung und als Vorbereitung auf das Studium.

       Die Bildungsziele der Berufsmaturität werden von Bildungsexpert*innen gesetzt und verbundspartnerschaftlich festgelegt, nicht allein von den Organisationen der Arbeit.

       Das Verhältnis von Bildung und Ausbildung muss neu gedacht werden.

       Mit der Berufsmaturität kehrt die Bildung in die Ausbildung zurück.

       Schule und Industrialisierung stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander.

       Auch Berufslernende haben ein Recht auf Bildung, nicht nur Gymnasiast*innen.

       Nützlichkeitsdenken geht nicht den Bildungswegen entlang.

       Die neue Phase der Digitalisierung stärkt die Phil-I-Fächer.

       Das Nützlichkeitsdenken geht quer durch alle Fächer.

       Die Wirtschaft folgt nicht vulgär-utilitaristischem Denken.

       Die Maturitätspflicht erreicht sozial Benachteiligte.

       Das Erlangen von einer der drei Maturitäten wird zur neuen Bildungspflicht. So erreicht man Jugendliche aus bildungsfernem Milieu.

       Die Maturitätspflicht macht Ernst mit der Chancengerechtigkeit.

      Im Zentrum steht die Wertfrage.

      Zu den Eigenheiten des Schweizer Bildungssystems gehört es, dass die Bildung ab einem bestimmten Zeitpunkt in zwei Wege aufgeteilt wird: in den dualen und in den akademischen. Diese Wege sind historisch gewachsen und unterscheiden sich in ihrer Kultur.[24] Doch durch die Einführung der Berufsmaturität und der Fachhochschulen sind sie einander nähergekommen.

      Der Ausbau des dualen Wegs zielt von Beginn weg auf Gleichwertigkeit. Die Idee dahinter lautet, etwas enthusiastisch ausgedrückt: Es soll letztlich keine Rolle spielen, welchen Bildungsweg man einschlägt. Beide Wege, der akademische und der duale, sollen am Ende im Arbeitsmarkt zusammenkommen und gleich gute Chancen ermöglichen. Die Wege sind gleichwertig, aber andersartig.[25] Die unterschiedlichen Profile werden denn auch betont: Praxis und Arbeitsmarkttauglichkeit im Fall der dualen Bildung, Theorie und Forschung auf der akademischen Seite. Im Lauf des Arbeitslebens sollen sich die Spuren des ursprünglichen Bildungswegs verwischen beziehungsweise es soll zunehmend unwichtig werden, über welchen Bildungsweg man damals, als junge*r Erwachsene*r, in den Arbeitsmarkt eingetreten ist. Akademiker*innen und Praktiker*innen arbeiten Seite an Seite – so das Idealbild.

      Die meisten kennen Beispiele, Freund*innen oder Bekannte, die mit einem Fachhochschulabschluss einem Konkurrenten mit akademischer Bildung vorgezogen wurden, etwa weil sie Erfahrung mitbrachten. Doch in der Regel kennt man auch Fälle, wo zur Besetzung von Spitzenstellen die Bewerberin mit dem Universitätsabschluss zum Zug kam – nicht jene aus der Fachhochschule. Solche Erfahrungen und Geschichten prägen, vielleicht stärker als Statistiken. Gern werden Anekdoten von erfolgreichen Politikerinnen und Firmenchefs herumgeboten, die es über den dualen Bildungsweg an die Spitze geschafft haben. Diese Beispiele dürfen in keiner Jubiläumsausgabe einschlägiger Zeitschriften fehlen.[26] Als homo narrans, als erzählende Wesen, bahnen wir uns den Weg durchs Leben, treffen Entscheidungen. Darin liegt das Potenzial der Narrative: Die Gleichwertigkeit der Berufslehre wird durch das Erzählen, das Bestätigen und den Glauben daran zur Realität. Man stellt tatsächlich den*die Bewerber*in ein, der*die Erfahrung mitbringt. Als «self-fulfilling prophecy» wird die gemeinsam geglaubte Geschichte wahr. So, dass sie schliesslich von der Statistik bestätigt wird. Ältere Generationen haben die neue Realität nicht erlebt und können sie nicht weitererzählen. Ihre Erzählungen betreffen ihr eigenes Erleben und das ihrer Generation. Sie sind – hoffentlich – stolz auf ihre Lehre. Wahrscheinlich sind sie bis zur Pensionierung gut gefahren damit. Dass sie die eigene Geschichte hochhalten und weitergeben wollen, liegt auf der Hand, man könnte auch sagen, in unserer Natur. Die neuen Erzählungen, jene vom Upskilling, von den höheren Ansprüchen und Bildungsabschlüssen, von der Internationalisierung, müssen sich erst ihren Weg ins öffentliche Bewusstsein bahnen. Sie müssen sich erst verbreiten. Und sie machen viel weniger Spass als die romantischen Räubergeschichten, wie es diese oder jener trotzdem geschafft habe im Leben, auch ohne formale Bildung. Man muss auch träumen dürfen. Doch man darf auch kritische Fragen stellen. Zum Beispiel, ob das Idealbild der gleichwertigen Bildungswege der Wirklichkeit entspricht. Ist es tatsächlich so, dass akademische und duale Bildung am Ende im Arbeitsmarkt zusammenfliessen? Spielt es im Laufe des Arbeitslebens tatsächlich keine Rolle, ob eine Fachkraft über den dualen oder den akademischen Weg gebildet wurde? Ist das die neue Realität – oder bleibt das bloss ein Wunschbild?

      Eine zentrale Frage ambitionierter Jugendlicher und Eltern ist die nach der beruflichen Position. Wo kommt man mit dualer Bildung im Leben hin? Das kann man heute, noch keine dreissig Jahre nach der Einführung von Berufsmaturität und Fachhochschulen, nicht abschliessend beantworten. Wie viele werden mit einem Fachhochschulabschluss den Sprung ins Topkader schaffen? Man kann einwenden, diese Frage sei nicht relevant. Das mittlere Kader sei für FH-Absolvent*innen gut genug. Wenn man das mittlere Kader als eigentlichen Bestimmungszweck des dualen Wegs ansieht, wird man sich damit zufriedengeben. Dann sind Berufsmaturität und Fachhochschulen die moderne Form des dualen Wegs – nicht mehr und nicht weniger. Wenn dieser Weg jedoch ehrgeizigeren Ansprüchen genügend soll, wird man sich mit dem mittleren Kader nicht zufriedengeben. Hinzu kommt: Es geht nicht nur um die berufliche Position und den Lohn, es spielen sehr viel mehr Faktoren mit, vom Eigenwert der Bildung über den Traum vom Forscherdasein bis zum sozialen Status.

      Viele Akademiker*inneneltern wollen es genau wissen: Was ist der duale Weg wert? Wie weit kommt mein Kind damit? Kann man den Informationsveranstaltungen vertrauen? Vonseiten der Berufslehre heisst es häufig, man müsse mehr informieren. Was ist damit gemeint? Mehr Werbung betreiben? Die Haltungen mancher Eltern und Jugendlichen sind ambivalent. Manchmal nerven die Kampagnen. Andererseits ist es beeindruckend, wie der duale Weg seinen Erfolg erschafft, seinen eigenen Wert setzt. Wie er mutig die Zukunft gestaltet, Schmied seines Glücks.

      Die Frage nach der Zielabsicht begleitet Berufsmaturität und Fachhochschule seit ihrer Gründung: Die Idee der Berufsmaturität war es, einen Schultyp zu kreieren, der sich zwischen der Lehre und dem Gymnasium befindet.[27] Was bedeutet dieses «Dazwischen» konkret? Und was bedeutet es heute für die Situation auf dem Arbeitsmarkt? Entspricht dem mittleren Niveau zwischen Lehre und Gymnasium im Arbeitsleben das mittlere Kader? Das wäre ein anderes Ziel als dasjenige, das der duale Weg explizit für sich in Anspruch nimmt, nämlich die völlige Gleichwertigkeit. Ist der duale Weg über die Fachhochschule nur der zweitbeste Weg – oder ist er wirklich gleichwertig? Ist er sogar besser, nämlich der Königsweg? Man kann diese Fragerei als mühsam abtun. Doch es sind die Fragen, welche die Eltern und Jugendlichen umtreiben bei der Wahl des Bildungswegs.

      Einfache Antworten gibt es nicht. Was für die eine Branche gilt, muss für die andere nicht gelten. Die eine persönliche Erfahrung steht im Kontrast zur anderen. Gewisse Firmen legen Wert auf akademische Abschlüsse. Andere, lokale KMUs vielleicht, haben Vorbehalte gegenüber akademischen Titeln und ziehen Bewerber*innen mit höherer Berufsbildung vor. Zudem gibt es viele Jobs, für die beide Abschlüsse geeignet sind. Gewisse Firmen mischen die Teams bewusst, anderen ist das nicht so wichtig, sie achten auf andere Kriterien. Das Feld ist bunt und vielfältig. Entscheidend ist: Realitäten werden gemacht. Wenn Schweizer KMUs lieber Fachhochschulabgänger*innen einstellen, schaffen sie damit genau diese Realität, die sich dann als Statistik niederschlägt: Sie setzen das um, woran sie glauben – nämlich dass der duale Weg der Königsweg sei.

      Allerdings ist die Schweiz keine Insel. Welche Jobs man mit welcher Ausbildung bekommt, wird durch globale